KVI: Keller-Sutter kommunizierte, um Abstimmung zu gewinnen

Pascal Sigg /  Ein Bericht des Parlaments rügt die EJPD-Kommunikation zur Konzernverantwortungsinitiative.

Die «Art und Weise der Kommunikation» des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vor der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative war «nicht verhältnismässig». Zu diesem Schluss kommt eine Analyse der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK). Das Gremium untersuchte im Auftrag der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats die Behördenkommunikation vor vier nationalen Volksabstimmungen. Die Kommunikation hatte wiederholt Anlass zu öffentlicher Kritik gegeben. Insbesondere waren in Abstimmungserläuterungen wiederholt Fehler aufgetaucht.

Es gehört zur Arbeit der Bundesverwaltung über anstehende nationale Abstimmungen zu informieren. Die Kommunikation dazu sollte gemäss PVK ausgewogen, vollständig, sachlich und transparent sein. Sie sichtete die entsprechenden Verwaltungsdokumente sowie Medienbeiträge und führte Interviews mit den für die Kommunikation Verantwortlichen.

Besondere Kritik erntete die Kommunikation des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) unter Bundesrätin Karin Keller-Sutter zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI). Die Kommunikationsstrategie des EJPD im Rahmen dieser Vorlage sei nämlich nicht in erster Linie auf eine breite Information der Stimmbevölkerung, sondern sehr stark auf das Gewinnen der Vorlage ausgerichtet gewesen. Dies sei dem Kommunikationskonzept zu entnehmen. Denn dieses wurde explizit als ergänzend zur Kommunikation der überparteilichen Allianz gegen die KVI konzipiert. Verantwortlich dafür war eine Arbeitsgruppe bestehend aus Mitgliedern des Generalsekretariats des EJPD sowie des Bundesamts für Justiz.

Ambitionierte Arbeitsgruppe

Die Arbeitsgruppe traf sich in den rund drei Monaten vor der Abstimmung sechs Mal. Dabei wurde unter anderem diskutiert, wie Argumente in der Öffentlichkeit platziert werden sollen, damit sie gut ankommen. Zudem sah das Kommunikationskonzept auch vor, dass das Generalsekretariat des EJPD ein Netzwerk mit Personen aus Wirtschaft und Politik aufbaut, um die Botschaften des Departements zu verbreiten. Die PVK hält allerdings fest: «Zur reinen Information der Bevölkerung nach gesetzlichem Auftrag wäre ein solches Netzwerk jedoch nicht notwendig. Zudem wäre die Verbreitung von Informationen auf dem Wege nicht transparent, da der ursprüngliche Absender nicht erkennbar wird.» Einige Interviewpartner erinnerten sich gemäss PVK nicht mehr daran, ob dieses Netzwerk überhaupt umgesetzt wurde. Ein anderer sagte, es habe in erster Linie Meinungsforschungszwecken gedient.

Daneben sei in öffentlichen Äusserungen die Sachlichkeit «punktuell nicht respektiert» worden. Insbesondere in Verbandszeitschriften wie der Gewerbezeitung oder dem Schweizer Bauer äusserte sich Karin Keller-Sutter gemäss PVK nicht korrekt. Zum Beispiel suggerierte Keller-Sutter in einem Interview mit dem Schweizer Bauer, dass gewisse Kreise auf die Idee kommen könnten, ähnliche Haftungsregelungen bei der Landwirtschaft einzuführen, zum Beispiel bei den Umweltauflagen oder beim Tierwohl, obwohl diese Themen nichts mit der Konzernverantwortungsinitiative zu tun hatten.

Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats erachtet es als problematisch, dass der Informationsauftrag der Behörden in einzelnen Fällen extensiv ausgelegt wurde. Sie empfiehlt dem Bundesrat nun, die Qualitätssicherung bei den Abstimmungsempfehlungen zu verstärken und den Informationsauftrag und die entsprechenden Kommunikationskanäle deutlicher zu definieren.

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Ausstellung zum Iran in der Christ-König-Kirche

In der Christ-König-Kirche in Freiburg läuft zur Zeit eine Ausstellung unter dem Titel «Iran, à cœur et à sang». Der Fotograf Benoît Lange zeigt Porträts und Szenen aus dem Land im Nahen Osten. Seine Fotografien werden durch Zeichnungen des iranischen Künstlers Mustafa Parvin ergänzt. Die Ausstellung läuft noch bis zum 14. Dezember. Am nächsten Sonntag führt Benoît Lange um 16 Uhr Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellung. sos

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Schweizer Schüler bei Mathematik und Lesen über OECD-Durchschnitt

Im internationalen Vergleich schneiden 15-Jährige in der Schweiz in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften gut bis sehr gut ab. In allen drei Bereichen liegt die Schweiz laut der neuesten Pisa-Studie 2022 über dem OECD-Durchschnitt.

Mit durchschnittlich 508 Punkten liegen Schweizer Jugendliche in Mathematik über dem Durchschnitt der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit 472 Punkten.

Die durchschnittliche Leseleistung ist in der Schweiz mit 483 Punkten gut und ebenfalls über dem OECD-Durchschnitt (476 Punkte), wie es am Dienstag in einer Mitteilung der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) und des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) hiess.

Auch im Bereich Naturwissenschaften liegt die Schweiz mit 503 Punkten über dem OECD-Durchschnitt (485 Punkte).

Damit ist die Schweiz «eines von 18 Ländern, deren Ergebnisse in allen drei Kompetenzbereichen» über dem der OECD liegen». Die Pisa-Studie umfasst 81 Länder.

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Alex Fiva: Das Feuer brennt noch

Nach seinem Kreuzbandriss kehrt Alex Fiva am Donnerstag beim Saisonauftakt der Skicrosser in Val Thorens ins Wettkampfgeschehen zurück. Kann der 37-jährige Weltmeister von 2021 an sein altes Niveau anknüpfen? Folgen auf miserable Trainings wieder brillante Rennen?

Zum 16. Mal steigt Alex Fiva in diesen Tagen in Frankreich in eine Weltcupsaison. Selten begleitete ihn so viel Ungewissheit wie dieses Mal. Geht es nach dem Kreuzbandriss weiter wie zuvor oder markiert die schwere Verletzung im gehobenen Sportleralter einen Wendepunkt? Wird es seine letzte Saison oder hat er das Niveau noch, um weiter Richtung Heim-WM 2025 in St. Moritz und vierte Olympiateilnahme 2026 in Livigno nahe der Schweizer Grenze zu schielen?

Alex Fiva mag sich nicht versteifen. Der Olympiazweite von 2022 sagt: «Klar, meine Zukunft hängt von dieser Saison ab. Sehe ich eine Chance, dass ich weiterhin vorne mitfahren kann, dann will ich sicher weitermachen. Das Feuer brennt noch. Es muss aber alles passen.»

Neue Perspektive

Ziemlich genau ein Jahr wird sein letztes Rennen zurückliegen, wenn Fiva am Donnerstag in Val Thorens sein Comeback gibt; so lange ohne Wettkampf war er in seiner Laufbahn noch nie. Ein bisschen ungewohnt sei es gewesen, sagt der Bündner Routinier über seine Zeit während der Verletzung. Im ersten Rennen der letzten Saison hatte er sich einen Kreuzbandriss im linken Knie zugezogen – die grösste Verletzung seiner langen Karriere, wesentlich einschneidender als der Bandscheibenvorfall acht Jahre zuvor, der ihn an den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi zurückband, von dem er sich aber bereits nach wenigen Wochen mit einem Heimsieg in Arosa gut erholt zeigte.

Zwar diktierte der Rücken seither wiederholt das Trainingspensum, der Kreuzbandriss ist aber angesichts der langen Ausfallzeit einschneidender, besonders in seinem Alter. Einen ganzen Winter lang setzte ihn das Knie ausser Gefecht, verfolgte er die Rennen und Trainings seiner Kollegen sowie die Rücktritte seiner langjährigen Weggefährten Joos Berry und Brady Leman zu Hause am Bildschirm mit, verrichtete er seine Arbeit als Athletensprecher und Mitglied des FIS-Rates aus dem Homeoffice.

Fiva, üblicherweise so etwas wie der omnipräsente Kapitän auf dem Dampfer der Skicrosser, war plötzlich aussen vor – und fand daran auch Positives. Er habe die Zeit zu Hause bei Frau und Kindern sehr genossen, «Familienzeit pur» sei das gewesen, sagt der Vater eines Mädchens und eines Buben. Ein Rücktritt stand trotz der Vorzüge nie zur Debatte: «Die Gedanken drehten sich immer darum, möglichst schnell zurück zu sein. Ich spüre zwar schon seit einiger Zeit, dass das Karriereende näher rückt. Aber als ich mich verletzte, war für mich klar, dass der Kreuzbandriss nicht das Ende sein kann.»

Gutes Gefühl, schlechte Trainings

Auch dank seiner Frau, Physiotherapeutin von Beruf, verlief die Heilung nach zähen ersten Wochen wunschgemäss. Bereits im Juli trainierte Fiva wieder auf Schnee, jetzt ist er, im Gegensatz zum noch fehlenden Olympiasieger Ryan Regez, bereit fürs Comeback. «Das Gefühl ist super. Das Knie macht keine Probleme, es fühlt sich nach 100 Prozent an», sagt Fiva. Die Kraftwerte stimmen, einzig die Sehne im hinteren Oberschenkel, die bei der Operation entfernt wurde, spürt er noch – und den Rücken, der sich die Belastungen der Schneetrainings nicht mehr gewohnt war.

Auf welchem Niveau er wieder einsteigen wird, kann Fiva selbst schwer abschätzen, zumal er sein Material seit dem Wechsel von Stöckli zu Völkl im Sommer letzten Jahres noch kaum rennmässig befahren hat. «In den Trainings war ich miserabel, da fehlte einiges. Aber das kennen wir ja von mir», sagt der für seine Leistungssteigerungen bekannte Rennhund. Auch der Schweizer Nationaltrainer Enrico Vetsch ist trotz der bescheidenen Trainingsresultate keineswegs beunruhigt: «Sobald Alex eine Nummer anhat, ist es ganz anders. Dann tritt er mit einer ganz anderen Körperspannung auf.»

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Besorgniserregende Leseschwäche bei Schweizer Jugendlichen

Die Pisa-Studie 2022 hat bei einem Teil der Schweizer Jugendlichen ungenügende Mindestkompetenzen aufgezeigt. Für den Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) ist vor allem die Leseschwäche von einem Viertel der Schülerinnen und Schüler besorgniserregend.

Ein Viertel der untersuchten Schweizer Jugendlichen im Alter von 15 Jahren würden die Mindestkompetenzen im Lesen nicht erreichen. Diese Ergebnisse seien besorgniserregend, teilte der LCH am Dienstag mit. Sorge bereite den Schweizer Lehrpersonen auch die ungenügenden Kompetenzen von einem Fünftel der Schülerinnen und Schüler im Bereich Mathematik. Als Reaktion möchte der LCH die Bildungsqualität für alle Jugendlichen sichern.

Pisa 2022 zeige, dass Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien in Mathematik deutlich schlechter abschnitten, hiess es in der Medienmitteilung. Der Leistungsunterschied zwischen sozial benachteiligten und privilegierten Schulkindern sei noch nie so gross gewesen. Grund zur Sorge bereite dem Dachverband auch die zweimal höhere Mathematik-Angst bei Mädchen.

Der Erfolg von Schule und Unterricht hänge weitestgehend von der Qualität der Lehrpersonen ab, schrieb der LCH. So würden ein Lehrpersonenmangel oder unqualifizierte Fachkräfte den Lernerfolg stark beeinflussen. Der LCH betont die Notwendigkeit die Bildungsqualität kontinuierlich zu sichern und zu verbessern.

Grundsätzlich stellen die Resultate dem öffentlichen Schulsystem der Schweiz ein gutes Zeugnis aus und seien positiv zu werten, hiess es weiter. Die Resultate zeigen das hohe Engagement und die hohe Qualität der Arbeit der Lehrpersonen. Besonders erfreulich sei es, dass trotz der Schulschliessungen während der Covid-19-Pandemie ein Leistungsabfall vermieden werden konnte.

Die internationale Vergleichsstudie Pisa erfasst die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Untersucht wurden 81 Länder. In der Schweiz nahmen rund 7’000 Jugendliche aus 260 Schulen teil.

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«Opferzonen» – wie ein Atomangriff die USA treffen würde

Pascal Derungs /  Die USA haben hunderte Nuklearraketen fix stationiert. Bei einem Angriff darauf würden Millionen Menschen getötet und verstrahlt.

Die US-Regierung plant, bis Mitte der 2030er Jahre alle der über 400 landgestützten Interkontinentalraketen des Typs «Minuteman» durch neue «Sentinel»-Raketen zu ersetzen. Das Programm ist Teil einer 1,5 Billionen Dollar schweren Anstrengung zur Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals und seiner Kommando- und Kontrollinfrastruktur. Diese Raketen stehen in unterirdischen Silos, die in drei grossen Feldern gruppiert sind und sich im US-Kernland auf die Bundesstaaten North Dakota, Montana, Wyoming, Colorado und Nebraska verteilen. Bei einem nuklearen Grossangriff auf alle diese Standorte würden sehr viel mehr Menschen sterben oder verstrahlt werden als bislang angenommen. Das zeigt eine neue Studie, die in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Scientific American» publiziert wurde.

300 Millionen Menschen in Nordamerika sind gefährdet

Der Wissenschaftler Sébastien Philippe von der Princeton University modellierte die Auswirkungen nuklearer Explosionen. Er untersuchte das radiologische Risiko eines nuklearen Präventivangriffs auf die Raketensilos. Nach seinen Modellen würde ein konzertierter nuklearer Angriff auf die bestehenden US-Silofelder alles Leben in den umliegenden Regionen vernichten und fruchtbares Ackerland für Jahre verseuchen. Allein die akute, unmittelbare Strahlenbelastung würde in den USA mehrere Millionen Todesopfer fordern, heisst es im «Scientific American».

Nach vier Tagen Exposition, so hat der Wissenschaftler berechnet, würde die durchschnittliche Strahlendosis im weiten Umfeld der Silos ein Vielfaches von über 8 Gy erreichen, was als absolut tödlich gilt. Die meisten Einwohner von Montana, North Dakota, South Dakota, Nebraska und Minnesota würden durchschnittliche Dosen von mehr als 1 Gy erhalten, was zu vielen Todesfällen durch akutes Strahlensyndrom führen würde, insbesondere bei Kindern. Auch Iowa und Kansas wären mit hohen radioaktiven Niederschlägen konfrontiert.

Gemäss der neuen Studie wäre – je nach den Windverhältnissen – die gesamte Bevölkerung der angrenzenden US-Bundesstaaten und der bevölkerungsreichsten Gebiete Kanadas sowie der nördlichen Bundesstaaten Mexikos dem Risiko eines tödlichen Fallouts ausgesetzt – insgesamt mehr als 300 Millionen Menschen. Sie könnten im Freien Ganzkörper-Strahlendosen abbekommen, die erfahrungsgemäss zum sicheren Tod führen.

Modellierung Fallout USA
Je nach Wetterlage, würde sich gemäss der Modellierung die starke, radioaktive Strahlung über weite Landstriche verteilen.

Die Raketenfelder sollen feindliche Angriffskapazität binden

Der ursprüngliche Zweck des landgestützten Raketensystems bestand darin, einen feindlichen Atomangriff durch die Androhung sofortiger und verheerender Vergeltung abzuschrecken. Doch Mitte der 1970er Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass fix installierte Raketensilos ein leichtes Angriffsziel abgeben. Als neue, besser geschützte luft- und seegestützte Atomwaffenarsenale dazukamen, wurde die «Notwendigkeit» landgestützter Raketen neu gedeutet. Seither sollen sie einen Angreifer nicht mehr primär abschrecken, sondern – dank ihrer grossen Zahl – seine Ressourcen binden und erschöpfen. Der Gegner soll sich gezwungen sehen, den grössten Teil seiner Schlagkraft auf diesen Silofeldern zu opfern – daher rührt der Begriff Opferzonen.

Diese Doktrin geht zurück auf das Jahr 1978, als General Lew Allen Jr., der damalige Stabschef der Luftwaffe, vorschlug, dass die Silos «einen grossen Schwamm» von Zielen in den USA bieten sollten, um ankommende sowjetische Atomwaffen zu «absorbieren». Die präventive Zerstörung der Raketenfelder – so die These – würde einen so massiven Angriff erfordern, dass die Gegner ihn nicht bewältigen oder auch nur in Erwägung ziehen könnten. Ohne die landgestützten Raketen, so das Argument, hätte ein Gegner weitaus mehr Ressourcen zur Verfügung, um andere militärische und infrastrukturelle Ziele oder sogar Städte der USA anzugreifen.

Landgestützte Raketen bergen das grösste Risiko

Selbst wenn ein Gegner rational genug wäre, um keinen gross angelegten Angriff zu starten, würden die landgestützten Raketen das Risiko eines versehentlichen Atomkriegs erheblich erhöhen, hält «Scientific American» fest. Um auszuschliessen, dass feindliche Waffen die Raketen in ihren Silos zerstören, halte die Luftwaffe die Flotte in höchster Alarmbereitschaft und sei auf Befehl des Präsidenten innerhalb von Minuten startbereit, sobald irgendwo auf der Welt feindliche Raketenstarts entdeckt würden. «Launch on Warning» nennt sich diese Doktrin. Es bedeutet, dass der Finger am Abzug von Nuklearwaffen nirgends so nervös ist wie bei den Siloraketen. Weil sie fix installiert sind, können sie schnell angegriffen werden. Die Reaktionszeit für ihren Abschuss ist deshalb viel kürzer als bei beweglichen Atomwaffen von Flugzeugen oder U-Booten, die nicht so leicht angreifbar sind. Dieses erhöhte Gefahrenpotenzial der langestützten Atomraketen sei nicht nur theoretisch, denn Fehlalarme über feindliche Angriffe habe es während des Kalten Krieges mehrere gegeben, erinnert die Zeitschrift «Scientific American».

Auch Unfälle mit Atomwaffen sind ein erhebliches Risiko

Selbst wenn es nicht zu einem Atomkrieg käme, würden die Menschen in den Gemeinden in der Nähe der Raketenfelder auch nach deren Modernisierung weiterhin ernsthaften Risiken ausgesetzt, schreibt «Scientific American». Eines davon sei die unbeabsichtigte Freisetzung von radioaktivem Material wie Plutonium in den Sprengköpfen durch einen mechanischen Schlag, einen Brand oder eine Explosion. Eine zweite sei die versehentliche Detonation eines Sprengkopfes, die zu einer nuklearen Explosion führen würde. Die Geschichte des US-Atomraketenprogramms liefere mehrere Beispiele für Silos oder Raketen, die Feuer fingen und von Raketen, die in ihren Abschussrohren explodierten, erinnert «Scientific American». Unfälle mit Atomwaffen würden längst nicht immer öffentlich diskutiert.


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Mediziner warnen vor neuem Alzheimer-Medikament

Cornelia Stolze /  Das Präparat Leqembi steht in Europa kurz vor der Zulassung. Sein Nutzen ist mehr als fraglich, die Risiken sind erheblich.

In den USA ist das Mittel, das den Wirkstoff Lecanemab enthält, seit Januar auf dem Markt. Bei dem Präparat handelt es sich um einen biotechnologisch hergestellten Antikörper, der alle zwei Wochen per Infusion verabreicht werden muss und sich gegen sogenannte Amyloid-Plaques richtet. Glaubt man führenden Alzheimer-Forschern, sind diese Plaques eine der Hauptursachen von Demenz. 

Vor einigen Monaten haben die Hersteller Biogen und Eisai auch bei Swissmedic und der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA einen Zulassungsantrag gestellt. Fachleute gehen davon aus, dass beide in Kürze grünes Licht geben werden. Zahlreiche Medien feiern Leqembi bereits als «Durchbruch» und «grosse Hoffnung für Alzheimerpatient:innen weltweit». 

Bei einem von fünf Patienten kam es zu gefährlichen Hirnschwellungen und Hirnblutungen

Unabhängige Experten sehen das deutlich anders. «Lecanemab ist kein Heilmittel für die Alzheimer-Krankheit», teilt die renommierte US-Verbraucherschutzorganisation Public Citizen in einem aktuellen Newsletter mit. «Das Medikament kann die kognitiven Funktionen nicht wiederherstellen oder die verloren gegangenen Erinnerungen zurückbringen.»

Stattdessen bringe eine Behandlung mit Leqembi gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich. So traten in der Zulassungsstudie bei einem von fünf Patienten lebensgefährliche Hirnschwellungen und Hirnblutungen auf. In der Studie hatten 898 der insgesamt 1795 Probanden Lecanemab erhalten. Die anderen 897 Testpersonen erhielten zum Vergleich ein Scheinmedikament. Bei drei Probanden, die während der 18-monatigen Testphase starben, wurde der Tod mit Lecanemab in Zusammenhang gebracht. Im Januar hatten die Gesundheitsexperten von Public Citizen die FDA bereits aufgefordert, Lecanemab aufgrund der schwerwiegenden Nebenwirkungen nicht zuzulassen. Jetzt haben sie Leqembi als «Do Not Use»-Medikament eingestuft. Mit einer solchen Warnung rät die Verbraucherschutzorganisation von jeglicher Verwendung unnötig riskanter oder nutzloser Arzneimittel ab. 

«Ein wahnsinniger Aufwand und eine grosse Belastung für die Patienten»

Wie schwerwiegend die Nebenwirkungen sind, zeigt sich auch daran, dass die Hersteller Biogen und Eisai im Juli von der US-Arzneimittelbehörde FDA dazu verpflichtet wurden, eine sogenannte Black-Box-Warnung in den Beipackzettel des Medikaments aufzunehmen. Dabei handelt es sich um die stärkste mögliche Form eines Warnhinweises, der von der FDA verhängt werden kann. 

Das Tückische an den durch Leqembi hervorgerufenen Hirnschwellungen und Hirnblutungen ist: Viele der Betroffenen bemerken diese Veränderungen zunächst nicht. Die Schwellungen und Blutungen werden erst sichtbar, wenn man eine Magnetresonanztomografie (MRI) vom Gehirn macht. Sind sie vorhanden, muss die Behandlung möglichst schnell gestoppt werden. 

Um die Gefahr zu erkennen, muss bei allen Personen, die Leqembi verabreicht bekommen, alle drei Monate ein Scan des Gehirns gemacht werden. «Das ist ein wahnsinniger Aufwand und eine grosse Belastung für die Patienten», räumt Stefan Teipel ein. Der Mediziner ist Leiter der klinischen Forschung des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock/Greifswald und im Wissenschaftlichen Beirat der Alzheimer Forschung Initiative (AFI).

Vier Tage nach der Infusion hatte die Patientin einen Schlaganfall

Doch selbst regelmässige MRIs können fatale Verläufe nicht sicher verhindern. Das zeigt der Fall einer 65-jährigen Patientin, über den eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Neurologin Sherry Chou von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago Anfang Februar berichtet hat. Die Frau war mit akuten Schlaganfallsymptomen in die Notaufnahme gekommen. Per Computer-Tomografie fanden die Ärzte im Gehirn der Frau ein Blutgerinnsel, das sie mit den üblichen Medikamenten auflösten. Nach einer knappen Stunde stieg der Blutdruck der Frau massiv an, woraufhin die Ärzte die Therapie abbrachen. Ein MRI offenbarte zahlreiche Blutungen im Gehirn der Patientin, die in der Computer-Tomografie nicht zu sehen gewesen waren. Die Frau konnte nicht mehr sprechen und litt unter starker Unruhe. Hirnstrommessungen zeigten zudem, dass in ihrem Kopf wiederholt epileptische Anfälle auftraten. Drei Tage später war die Patientin tot. Sie hatte den Antikörper drei Mal verabreicht bekommen. Die letzte Infusion lag zum Zeitpunkt ihres Schlaganfalls vier Tage zurück. 

Ähnliche Probleme waren bereits bei früheren Versuchen, abgelagertes Amyloid mit Hilfe von Antikörpern zu beseitigen, aufgetreten. Manche von ihnen schienen zwar die Grösse der Plaques im Gehirn zu verringern. Deutliche positive Effekte auf das Denk- und Erinnerungsvermögen der behandelten Menschen blieben jedoch aus. 

US-Arzneimittelbehörde überging ihre Berater – und liess Aducanumab zu

In diese Kategorie reiht sich die umstrittene Zulassung des Alzheimer-Mittels Aduhelm im Sommer 2021. Auch dem darin enthaltenen Wirkstoff Aducanumab, ebenfalls von Biogen entwickelt, war längere Zeit eine wahre Wunderwirkung zugeschrieben worden. Vor zwei Jahren hatte die FDA der Zulassung des Medikaments zugestimmt – und damit für einen Aufschrei unter Medizinern und Verbraucherschützern gesorgt. 

Denn vor der Zulassung hatte ein externes Gutachtergremium der FDA die von Biogen vorgelegten Forschungsergebnisse geprüft. Dabei stellten die Gutachter fest, dass es keinen Beweis für die Wirksamkeit von Aduhelm gibt. Ausserdem hatte das Mittel in den Tests bei etlichen Probanden schwere Nebenwirkungen hervorgerufen. Bei 35 von 100 Patienten war es zu gefährlichen Hirnschwellungen gekommen. Zudem traten gehäuft Verwirrtheit, Desorientiertheit und Delirium auf. Keines der elf Mitglieder des Gremiums sprach sich daher für die Zulassung von Aduhelm aus. 

«Wir sagen nicht nur, dass die Zulassung wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung war, welche die FDA je getroffen hat. Sie ist so schlecht, dass wir uns aktiv für den Entzug der Zulassung einsetzen müssen.»

Peter Whitehouse, Neurologe an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio

Doch die FDA ignorierte das Votum. Drei der Gutachter traten deshalb direkt nach der Zulassung aus dem Gremium aus, darunter der Medizinprofessor Aaron Kesselheim von der Harvard Medical School. Die Freigabe von Aducanumab sei «unhaltbar», so Kesselheim. In einem öffentlichen Appell forderten er und eine Gruppe namhafter Forscher die FDA auf, das Mittel umgehend vom Markt zu nehmen. «Wir sagen nicht nur, dass die Zulassung wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung war, welche die FDA je getroffen hat», so der Neurologe Peter Whitehouse von der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio. «Sie ist so schlecht, dass wir uns aktiv für den Entzug der Zulassung einsetzen müssen.»

Aus Sicht von Bernd Mühlbauer, Professor für Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte und stellvertretender Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), grenzte die Zulassung von Aduhelm sogar «ans Kriminelle». Das Mittel sei nicht nur wirkungslos. «Man handelt sich damit auch ganz scheussliche Nebenwirkungen ein.»

Bei fortgeschrittener Demenz kein Nutzen

Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA lehnte die Zulassung von Aducanumab Ende 2021 ab. Im Mai 2022 stellte Biogen den Vertrieb von Aduhelm ein. Doch Fachleute wie Mühlbauer hegen gegenüber Leqembi dieselben Zweifel. Das liegt auch daran, dass das Medikament erklärtermassen nicht an Demenz erkrankten Menschen verabreicht werden soll, sondern mehr oder weniger gesunden. 

«Erkrankte mit bereits fortgeschrittenen Symptomen oder einer anderen Form der Demenz werden nicht von einer Behandlung profitieren», sagt Stefan Teipel. Sollte Leqembi zugelassen werden, gehe es also nicht um Personen, die vielleicht schon Schwierigkeiten haben, ihre Angehörigen zu erkennen oder Ähnliches. Vielmehr würde Leqembi nur bei Menschen eingesetzt, die im Alltag noch gut oder nur mit geringen Einschränkungen zurechtkommen. 

Nur geringe Wirkung, aber mehrere Todesfälle

Genau das aber, neurologisch noch fast Gesunde einer solchen Gefahr auszusetzen, sei unverantwortlich, so Mühlbauer. Zumal es auch bei Leqembi keinen klaren Nachweis für einen medizinischen Nutzen gibt. In der Zulassungsstudie schnitten jene Probanden, die das echte Medikament erhalten hatten, in einem speziellen Gedächtnistest zwar besser ab als jene in der Placebogruppe. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen war jedoch minimal. Über einen Zeitraum von 18 Monaten hatte der Schweregrad der Demenz bei Patienten, die Lecanemab erhielten, um 1,21 Punkte zugenommen. Unter Placebo waren es 1,66 Punkte. Der Unterschied von 0,45 Punkten gilt zwar als statistisch signifikant. Völlig unklar ist jedoch, wie relevant dieser Unterschied für den Alltag der Betroffenen ist. «Wahrscheinlich merkt der Patient davon kaum etwas», bestätigt Stefan Teipel. 

Unterdessen ist bereits der nächste Pharmakonzern mit einem ähnlichen Alzheimer-Medikament am Start. Der Wirkstoff Donanemab wurde von Eli Lilly entwickelt. Auch dieser ist ein Antikörper, der sich gegen Amyloid-Plaques richtet und der das Fortschreiten der Krankheit in einem frühen Stadium verlangsamen soll. Noch im Januar hatte die FDA eine beschleunigte Zulassung für das Medikament abgelehnt. 

Inzwischen hat Eli Lilly neue Daten vorgelegt. Demnach verschlechterte sich der Schweregrad der Demenz bei den Patienten, die Donanemab erhalten hatten, um 1,72 Punkte und um 2,42 Punkte in der Placebogruppe. Das entspricht einem Unterschied von 0,70 Punkten. «Auf einer 18-Punkte-Skala sind die Unterschiede von 0,45 (mit Lecanemab) und 0,70 (mit Donanemab) mit 2,5 Prozent, respektive 3,9 Prozent, gering», urteilen die Gesundheitsexperten von Public Citizen. Zumal es auch in der Donanemab-Gruppe zu drei Todesfällen kam, die als behandlungsbedingt angesehen wurden. Von den insgesamt 1736 Teilnehmern dieser Studie hatten 860 Donanemab erhalten. Die Placebo-Gruppe bestand aus 876 Probanden.

Dennoch könnte auch Donanemab demnächst eine vollständige Zulassung von der FDA erhalten, so die Verbraucherschützer. Ein weiterer Fehler, wie die Experten von Public Citizen finden. «Die FDA-Zulassung von Arzneimitteln gegen die Alzheimer-Krankheit mit minimalem Nutzen und erheblichen Gesundheitsrisiken ist kein Weg in die Zukunft. Die Patienten und ihre Familien brauchen und verdienen dringend bessere Behandlungen.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Cornelia Stolze ist Autorin zweier Bücher zum Thema Demenz: «Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist» (2011 erschienen) und «Verdacht Demenz» (2021). Weitere Informationen dazu siehe unten.
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Brasilien: Mehr Glyphosat führt zu mehr Todesfällen bei Kindern

Susanne Aigner /  Mit steigender Sojaproduktion werden immer mehr Pestizide gespritzt. Es erkranken immer mehr Kinder an Krebs, sagt eine Studie.

Der zunehmende Sojaanbau in Brasilien geht mit mehr Todesfällen bei Kindern unter zehn Jahren einher. Grund dafür ist der verstärkte Einsatz von Pestiziden. Das legt eine US-amerikanische Studie nahe, die in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurde. Das Team um Marin Skidmore von der University of Illinois untersuchte die Zunahme der Krebssterblichkeit bei Kindern im Alter von unter zehn Jahren im Amazonas-Gebiet sowie in dem durch Feuchtsavannen geprägten Cerrado. In diesen Regionen breitet sich der Soja-Anbau immer weiter aus. Im Zeitraum von 2008 bis 2019 starben hier 123 Kinder an akuter lymphatischer Leukämie – der bei Kindern häufigsten blutbasierten Krebserkrankung. Noch viel mehr Kinder erkrankten an Krebs.

Für ihre Studie werteten die Wissenschaftler Gesundheitsdaten der letzten beiden Jahrzehnte aus, aber auch Daten zu Landnutzung, Wasserquellen und Demografie.

Ergebnis: Seit 2000 hat sich die Sojaproduktion im Cerrado-Gebiet verdreifacht, im Amazonas-Gebiet stieg sie um das Zwanzigfache. In den betroffenen Regionen stieg der Pestizid-Einsatz von 2000 bis 2019 um das Drei- bis Zehnfache. Mit dem Anbau genmodifiziertem Soja, habe sich auch die Verwendung von Glyphosat erhöht, schreiben die Autoren.

Die Pestizide werden vor allem über das kontaminierte Flusswasser verteilt, schreiben die Autoren. Weil die Hälfte der dortigen Einwohner auf Oberflächenwasser als Trinkwasserquelle angewiesen ist, untersuchten die Wissenschaftler entsprechende Wasserproben. Zudem berücksichtigten sie die Entfernungen zu Krankenhäusern. Denn die Nähe zu einem Krankenhaus, das Krebstherapien für Kinder anbietet, mache die Sterblichkeit weniger wahrscheinlich, glauben sie. Im Ergebnis war die Anzahl der Todesfälle flussabwärts der Anbaugebiete höher als flussaufwärts. Dies deute darauf hin, dass sich der Abfluss von Pestiziden in das Oberflächenwasser auswirkt. Die Studie stelle keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Pestizid-Exposition und Krebstodesfällen her, sagt Marin Skidmore. Andere Risikofaktoren wie Alkohol- und Tabakkonsum oder auch Placebo-Effekte habe die Studie allerdings ausgeschlossen.

Die Risiken bei niedriger Exposition

Bislang wurden nur gesundheitliche Auswirkungen von Pestiziden vor allem bei akuter hoher Dosierung untersucht, etwa in Labor- und Tierexperimenten oder bei Landarbeitern und Erntehelfern, die Pestiziden länger direkt ausgesetzt waren. Kaum erforscht ist hingegen, wie sich dies auf die Gesundheit der breiten Bevölkerung auswirkt. Nun aber hat der Sojaanbau innerhalb der vergangenen Jahre rasant zugenommen, und es werden hochdosierte Pestizide – primär Glyphosat – eingesetzt. Dies nahmen die Wissenschaftler zum Anlass, die langfristigen Auswirkungen auch niedrigdosierter Pestizidbelastung auf die breite Bevölkerung zu untersuchen.

Matthias Liess vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hält eine ursächliche Beziehung zwischen Pestizid-Einsatz und der Krankheitslast bei Kindern für plausibel. Denn flussabwärts des Sojaanbaugebiete war die Inzidenz im Vergleich höher als flussaufwärts, so die Begründung des Ökotoxikologen.

Chronische Krankheiten gefährden zumeist Kinder und Landarbeiter

Mittlerweile belegen mehrere Studien den Zusammenhang zwischen der Zunahme von Krebs und anderen chronischen Leiden in Brasilien sowie der exponentiellen Zunahme von Pestizid-Einsätzen. So bringt eine Studie von 2022 so genannte Organochlorpestizide (= die meisten der untersuchten Gruppe von Pestiziden) mit erhöhten Krebsraten bei Kindern und Erwachsenen in Verbindung. Bereits 2013 veröffentlichte das Journal of Toxicology and Applied Pharmacology eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur, die hohe Pestizidexpositionen mit chronischen Krankheiten in Verbindung bringt – wie zum Beispiel verschiedene Krebsarten, Diabetes, neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder amyotropher Lateralsklerose (ALS), angeborene Fehlbildungen und Fortpflanzungsstörungen.

Gesundheitsexperten aus aller Welt warnen seit Langem vor den katastrophalen Auswirkungen von Pestiziden auf Umwelt und menschliche Gesundheit. Allerdings – so räumen sie ein – sei der kausale Zusammenhang zwischen Pestiziden und chronischen Erkrankungen nicht leicht nachzuweisen, weil sich in der Regel erst nach vielen Jahren Symptome entwickeln und durch vielfältige Faktoren verursacht oder begünstigt werden können.


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Wie Forscher das Bild vom Klimawandel bewusst verzerren

Cornelia Stolze /  Um Aufmerksamkeit zu erregen und ihre Karriere zu fördern, greifen Wissenschaftler zu fragwürdigen Tricks.

Eigentlich hätte Patrick Brown nach seiner jüngsten Publikation einfach zufrieden sein und den Mund halten können. Gemeinsam mit sieben Kollegen war es dem Klimaforscher vom Breakthrough Institute in Berkeley (USA) kürzlich gelungen, eine Studie im Fachblatt Nature zu veröffentlichen. Das Thema: Wie der Klimawandel das Risiko extremer täglicher Waldbrände in Kalifornien erhöht. Publikationen in einem so renommierten Wissenschaftsmagazin wie Nature gelten unter Forschern als Ritterschlag und als Eintrittskarte für eine erfolgreiche akademische Karriere.

Doch wenige Tage nach der Veröffentlichung klagte Brown sich selbst und seine eigene Zunft öffentlich an. In der besagten Studie habe er absichtlich einen Teil der Wahrheit weggelassen, gestand der Forscher in einem Meinungsartikel für das Magazin The Free Press ein. Zudem habe er darin den Klimawandel überbewertet. «Verstehen Sie mich nicht falsch», stellte er dabei klar. «Der Einfluss des Klimawandels auf extreme Waldbrände ist real.» Aber der Klimawandel sei nicht annähernd der einzige Faktor, der für extreme Waldbrände eine massgebliche Rolle spiele. Es gebe noch andere Faktoren, die genauso wichtig oder noch wichtiger sein können.

Bewusst relevante Faktoren ausgeklammert

In der aktuellen Studie hätten er und seine Kollegen allerdings bewusst vermieden, den Einfluss dieser anderen offensichtlich relevanten Faktoren zu untersuchen. Natürlich sei ihm klar gewesen, dass es eine realistischere und nützlichere Analyse ermöglicht hätte, wenn man diese Faktoren einbezogen hätte. Aber er habe auch gewusst, dass dies die Chancen verringern würde, dass die Arbeit bei den Redakteuren und Gutachtern von Nature gut ankommt. «Die Herausgeber dieser Zeitschrift haben durch ihre Veröffentlichungen und Ablehnungen mehr als deutlich gemacht, dass sie Klima-Studien wollen, die bestimmte, vorab genehmigte Narrative unterstützen», so Brown. Und zwar selbst dann, wenn diese auf Kosten breiterer Erkenntnisse für die Gesellschaft gehen.

«So sollte Wissenschaft nicht funktionieren», konstatiert Brown. Aber diese Praxis sei in der Klimaforschung gang und gäbe. Der gesamte Wissenschaftsbetrieb sei darauf ausgerichtet, als «eine Art Kassandra zu dienen und die Öffentlichkeit eindringlich vor den Gefahren des Klimawandels zu warnen». Bei hochkarätigen Forschungsarbeiten sei es die Norm, dass der Einfluss des Klimawandels «unrealistisch isoliert» betrachtet wird. Dadurch werde ein Grossteil der klimawissenschaftlichen Forschung verzerrt und die Öffentlichkeit falsch informiert.

Wie man als Forscher erfolgreich wird

Brown verweist dabei auf einen anderen einflussreichen Nature-Artikel. Ein anderes Wissenschaftlerteam hatte darin errechnet, dass die beiden grössten Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesellschaft die Todesfälle im Zusammenhang mit extremer Hitze und die Schäden in der Landwirtschaft sind. Das Problem dabei: «Die Autoren erwähnen nicht, dass der Klimawandel für keine dieser beiden Auswirkungen die Hauptursache ist: Die hitzebedingten Todesfälle sind zurückgegangen, und die Ernteerträge sind trotz des Klimawandels gestiegen.»
Das würde bedeuten, dass die Welt in einigen Bereichen trotz des Klimawandels erfolgreich ist, erläutert Brown. Doch kluge Forscher würden vermeiden, solche Botschaften zu verbreiten. «Der erste Punkt, den ein kluger Forscher weiss, ist, dass die eigene Arbeit das Mainstream-Narrativ unterstützen sollte.» Dieses besage, dass die Auswirkungen des Klimawandels «sowohl allgegenwärtig als auch katastrophal sind» und dass es vor allem einen Weg gebe, mit den Herausforderungen umzugehen: politische Massnahmen, die darauf abzielen, die Treibhausgasemissionen zu verringern.

Wer als Forscher erfolgreich sein wolle, sollte deshalb auch tunlichst praktische Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel, wie eine stärkere Infrastruktur, bessere Bebauungspläne und Bauvorschriften – oder im Fall von Waldbränden eine bessere Waldbewirtschaftung oder das Verlegen von Stromleitungen unter die Erde – ignorieren oder zumindest herunterspielen, meint Brown.
Streng genommen sollten Forscher natürlich auch untersuchen, wie es gelingen konnte, die Zahl der durch extreme Hitze verursachten Todesfälle zu reduzieren und die Ernteerträge zu steigern. Denn daraus könne man lernen, wie wir einige der wichtigsten negativen Auswirkungen des Klimawandels überwinden können.

Die Messgrössen herausstreichen, die den grössten Eindruck machen

Ein kluger Wissenschaftler wisse jedoch, dass er sich von praktischen Lösungen fernhalten sollte, so Brown. «Lösungen zu präsentieren, rüttelt die Öffentlichkeit – oder die Medien – nicht auf.» Genau das aber sei für Klimaforscher heute wichtig. Es gehe darum, die Bedeutung der eigenen Forschung hervorzuheben und die Redakteure und Gutachter der Fachzeitschriften zu beeindrucken. Und nicht nur das. Man müsse auch die Publikumsmedien für sich gewinnen.

Dabei helfe unter anderem folgender Trick, so Brown: «Konzentrieren Sie sich auf die Messgrössen, die am meisten Aufsehen erregen werden.» Seine Studie hätte sich zum Beispiel auf eine einfache, intuitive Kennzahl wie die Anzahl der zusätzlich verbrannten Hektaren oder die Zunahme der Intensität von Waldbränden aufgrund des Klimawandels konzentrieren können. Stattdessen hätten sich Brown und seine Kollegen aber an die gängige Praxis gehalten. Dabei wird die Veränderung des Risikos eines Extremereignisses betrachtet. «In unserem Fall war dies das erhöhte Risiko, dass ein Waldbrand an einem einzigen Tag mehr als 10’000 Hektar Land abbrennt.»

Diese Messgrösse sei zwar kompliziert und lasse sich nur schwer in nutzbare Informationen umwandeln. Dennoch sei sie weit verbreitet. Warum? «Weil sie im Allgemeinen grössere Steigerungen ergibt als andere Berechnungen», erklärt Brown. «Das heisst: Sie erhalten grössere Zahlen, die die Bedeutung Ihrer Arbeit, ihren rechtmässigen Platz in Nature oder Science und eine breite Medienberichterstattung rechtfertigen.»

Den Zeitraum geschickt wählen – auch wenn es wenig sinnvoll ist

Eine weitere Möglichkeit, grosse Zahlen zu erhalten, welche die Relevanz der eigenen Forschung unterstreichen, bestehe darin, «das Ausmass des Klimawandels immer über Jahrhunderte hinweg zu bewerten, selbst wenn diese Zeitskala für die von Ihnen untersuchten Auswirkungen irrelevant ist», so Brown. So sei es beispielsweise üblich, die Auswirkungen auf die Gesellschaft anhand des Ausmasses des Klimawandels seit der industriellen Revolution zu bewerten, aber die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit zu ignorieren.

«Das ist aus praktischer Sicht wenig sinnvoll. Denn gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf die Bevölkerungsverteilung, die Infrastruktur, das Verhalten, die Katastrophenvorsorge und vieles mehr haben einen weitaus grösseren Einfluss auf unsere Empfindlichkeit gegenüber Wetterextremen als der Klimawandel seit den 1800er Jahren», so der US-Forscher. Dies zeige sich zum Beispiel am deutlichen Rückgang der Todesfälle durch Wetter- und Klimakatastrophen im letzten Jahrhundert.

Horrorszenarien lassen sich besser verkaufen

Ebenso sei es gängige Praxis, die Auswirkungen von beängstigenden hypothetischen zukünftiger Erwärmungsszenarien zu berechnen. Oft würden Forscher bei diesen Szenarien nicht nur hart an die Grenze der Glaubwürdigkeit gehen. Sie würden auch ausblenden, dass durchaus auch andere, optimistischere Szenarien möglich sind. Aber: Schreckensszenarien würden nun mal gute Schlagzeilen liefern, so Brown.

Eine weitaus sinnvollere Analyse, findet der Forscher, würde sich auf Klimaveränderungen in der jüngsten Vergangenheit konzentrieren und dann die absehbare Zukunft – die nächsten Jahrzehnte – prognostizieren. Im Fall seines jüngsten Nature-Artikels würde dies bedeuten, dass die Auswirkungen des Klimawandels in Verbindung mit den zu erwartenden Reformen der Waldbewirtschaftungsmethoden in den nächsten Jahrzehnten betrachtet werden. «Unsere aktuellen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Änderungen in der Waldbewirtschaftung die schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf Waldbrände vollständig aufheben könnten.»

Warum aber hat Brown trotz all dieser Überlegungen bei dem Spiel mitgemacht und sich bei seiner Nature-Veröffentlichung an das System angepasst? Die Antwort, so der Klimaforscher, sei einfach. «Ich wollte, dass die Studie an einer möglichst renommierten Stelle veröffentlicht wird. Als ich im Jahr 2020 mit den Recherchen für diese Arbeit begann, war ich ein neuer Assistenzprofessor, der seine Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere maximieren wollte. Wenn ich zuvor versucht hatte, von der Formel abzuweichen, wurden meine Arbeiten von den Herausgebern angesehener Fachzeitschriften kurzerhand abgelehnt, und ich musste mich mit weniger prestigeträchtigen Veröffentlichungen zufriedengeben. Anders ausgedrückt: Ich opferte das wertvollste Wissen für die Gesellschaft, damit die Forschung mit der Voreingenommenheit der Redakteure und Gutachter der Zeitschriften, auf die ich abzielte, vereinbar war.»

«Was wirklich zählen sollte, sind nicht Zitate für die Zeitschriften, Klicks für die Medien oder der Karrierestatus für die Wissenschaftler, sondern Forschung, die der Gesellschaft tatsächlich hilft.»

Patrick Brown, Klimaforscher

Damit, so Brown, sei jetzt Schluss. «Ich habe die akademische Welt vor über einem Jahr verlassen, unter anderem, weil ich das Gefühl hatte, dass der Druck, der auf akademische Wissenschaftler ausgeübt wird, zu viele Forschungsergebnisse verzerrt. Jetzt, als Mitglied eines privaten gemeinnützigen Forschungszentrums, dem Breakthrough Institute, fühle ich mich viel weniger unter Druck gesetzt, meine Forschung nach den Vorlieben prominenter Zeitschriftenredakteure und der übrigen Fachwelt auszurichten.»

Aber Klimawissenschaftler sollten sich nicht aus der akademischen Welt zurückziehen müssen, um die nützlichsten Versionen ihrer Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. «Wir brauchen einen Kulturwandel in der gesamten akademischen Welt und in den Medien, der eine viel breitere Diskussion über die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Klimawandel ermöglicht», fordert Brown.

Die Medien sollten aufhören, Klima-Studien für bare Münze zu nehmen, und genauer recherchieren, was wirklich herausgekommen ist. Die Herausgeber renommierter Fachzeitschriften sollten über ihren engen Fokus hinausgehen, der die Reduzierung der Treibhausgasemissionen vorantreibt. Und die Forscher selbst müssten anfangen, den Herausgebern die Stirn zu bieten, oder sich andere Publikationsmöglichkeiten suchen. «Was wirklich zählen sollte, sind nicht Zitate für die Zeitschriften, Klicks für die Medien oder der Karrierestatus für die Wissenschaftler, sondern Forschung, die der Gesellschaft tatsächlich hilft.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Nur wenige ältere Arbeitslose beziehen Überbrückungsrenten

Weniger ältere Arbeitslose als erwartet haben bisher Überbrückungsrenten bezogen. Nur ein Viertel aller betroffener über 60-Jährigen hat laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ein Gesuch gestellt.

Zwischen Mitte 2021 und Ende 2022 haben 671 Personen Überbrückungsleistungen erhalten, wie das BSV am Montag mitteilte. Das seien weniger Beziehende als ursprünglich angenommen.

Als Grund dafür sieht das BSV einerseits den Zeitpunkt der Einführung. Die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose, eine neue bedarfsabhängige Sozialleistung, trat am 1. Juli 2021 während der Corona-Pandemie in Kraft. Zu dieser Zeit seien die Aussteuerungen für mehrere Monate verlängert worden und deshalb in den Daten nicht erfasst.

Andererseits sei die Zahl der Beziehenden vom BSV überschätzt worden. Nicht alle Anspruchsberechtigten hätten einen Antrag gestellt und nicht alle Anträge seien bewilligt worden, so das BSV weiter. Es seien noch zusätzliche Analysen mit neuen Daten nötig.

(Quelle: FN) Link zum Originalpost

Unterwegs mit dem Kaminfeger

«Zeitung in der Orientierungsschule»

Sie lesen einen Sonderbeitrag von Freiburger Orientierungsschülerinnen und Orientierungsschülern. Im Rahmen des Projekts «Zeitung in der Schule» stehen 495 Jugendliche aus sieben Freiburger Orientierungsschulen als Reporterinnen und Reporter für die FN im Einsatz. Das medienpädagogische Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen den FN, vier Wirtschaftspartnern und dem Bildungsinstitut Izop aus Aachen.

Heute

Die Klasse 27/37 der OS Tafers hat einen Kaminfeger zum Interview getroffen. jg

Christophe Ferraglia ist von Beruf Kaminfeger und hat der Klasse 27/37 der OS Tafers von seinem Beruf erzählt.

Am 14. November 2023 war die Klasse 27/37 der Orientierungsschule Tafers in Plaffeien zu Besuch bei Christophe Ferraglia. Er ist ein Kaminfeger und hat der Klasse einen Einblick in seinen spannenden Beruf gegeben. Er hat gezeigt, wie er eine Kaminheizung reinigt und wie er Abgasmessungen vornimmt. Zudem durfte die Klasse mit ihm ein Interview durchführen, in dem Christophe Ferraglia von seinem Berufsalltag erzählte und aufgezeigt hat, weshalb ein Kaminfeger oder eine Kaminfegerin tatsächlich Glück bringen kann.

Herr Ferraglia, warum haben Sie diesen Beruf ausgewählt?

Durch Zufall bin ich auf diesen Beruf gestossen. Als 14-jähriger Junge war der Kaminfeger im Dorf unterwegs. Er hatte ein schönes Auto und tolle Kleidung an. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, was ein Kaminfeger ist und wie sich seine Arbeit gestaltet. Später bin ich als Kaminfeger schnuppern gegangen. Das hat mir gut gefallen. Auch andere Berufe hatte ich ins Auge gefasst. Diese haben mich schlussendlich jedoch weniger angesprochen, da man entweder viel Zeit im Büro am Computer verbringt oder die Berufe körperlich sehr anstrengend sind. Der Beruf des Kaminfegers blieb mein Lieblingsberuf, und so entschied ich mich dazu, diese Lehre zu beginnen. Seit dem Jahr 1999 arbeite ich nun als Kaminfeger.

Welche Voraussetzungen muss man für diesen Beruf mitbringen?

Die Mathematik ist sicherlich ein wichtiges Fach. Bei Abgasmessungen ist diese zum Beispiel zentral. Da der Umgang mit Kundinnen und Kunden bedeutsam ist, sollte man zudem gerne mit Menschen arbeiten. Man muss ausserdem sehr genau arbeiten. Es dürfen keine Fehler gemacht werden. Ansonsten kann das zu Unfällen wie zum Beispiel Kaminbränden führen.

Üben Sie Ihren Beruf gerne aus und warum?

Obwohl ich nie etwas anderes ausprobiert habe, macht mir mein Beruf immer noch sehr viel Spass. Es gefällt mir, mit Menschen Kontakt zu haben. Ausserdem arbeite ich mit verschiedenen Heizanlagen – von Holz- über Ölanlagen und kleinen Kaminen bis hin zu Fernheizungen. Wir machen sehr unterschiedliche Arbeiten. Aus diesem Grund bin ich immer noch sehr zufrieden mit meinem Beruf. 

Wie sehen Ihre Arbeitszeiten aus?

43 Stunden in der Woche arbeite ich. Hier einberechnet ist die Zeit, die ich zum Duschen brauche. Ich werde also auch für das Duschen bezahlt. Als 14-Jähriger hat mir dies sehr imponiert. Da ich selbstständig arbeite, kann ich mir die Arbeitszeit pro Tag teilweise selbst einteilen.

Christoph Ferraglia zeigt der Klasse, wie er eine Abgasmessung vornimmt.
Bild zvg

Wie sieht der Tagesablauf eines Kaminfegers aus?

Um 6.45 Uhr komme ich im Betrieb an. Das ist manchmal ein wenig anstrengend. Danach ziehen wir unsere schwarze Kleidung an und fahren direkt zum ersten Kunden. Zu Beginn arbeiten wir häufig während etwa zwei Stunden mit einer Holzzentralheizung. Anschliessend folgen Ölfeuerungen und die Arbeit an Schwedenöfen. Später muss der nächste Tag organisiert werden. Zurück in der Werkstatt bildet das Duschen den Abschluss des Arbeitstages. Ich habe auch während sieben Tagen pro Woche und 24 Stunden pro Tag Notfalldienst. Es kann also sein, dass ich zu Hause gemütlich mit meiner Familie beim Abendessen sitze und plötzlich das Telefon klingelt. Wenn es einen Kaminbrand gibt, dann muss ich augenblicklich los. Das gefällt mir weniger an meinem Beruf. Früher ist dies häufiger vorgekommen. Da musste ich zwei- bis dreimal jährlich notfallmässig ausrücken. Wenn man die Kamine regelmässig kontrolliert, dann passieren diese Notfälle seltener. Im letzten Jahr gab es zum Glück keinen Notfall.

Welche Materialien und Arbeitsgeräte verwenden Sie?

Die häufigsten Arbeitsgeräte sind Staubsauger, Messgeräte, Wassersauger, Wasserpumpen, verschiedene Bürsten und der Computer.

Wie oft muss ein Kamin pro Jahr gereinigt werden?

Ein Schwedenofen muss einmal im Jahr gereinigt werden. Wenn er selten verwendet wird, kann er auch weniger häufig geputzt werden. Wir melden uns jeweils bei den Kundinnen und Kunden, wenn ein Besuch notwendig ist.

Arbeitet man im Sommer gleich viel wie im Winter?

Im Sommer habe ich viel Arbeit. Ich arbeite zum Beispiel oft in Ferienhäusern im Schwarzsee. Auch bei vielen Alphütten gehe ich im Sommer vorbei. Das finde ich toll, inmitten der wunderschönen Natur arbeiten zu können.

Aus wie vielen Personen setzt sich Ihr Team zusammen?

Insgesamt sind wir fünf Personen – zwei Frauen und drei Männer. Zudem sind wir ein zweisprachiges Team.

Wie viele Jugendliche haben Sie bereits ausgebildet?

Ich habe bereits vier Lernende ausgebildet. Im nächsten Jahr werde ich eine Lehrtochter haben. Das erste Lehrjahr ist meiner Meinung nach das wichtigste. Hier merkt man, ob der Beruf wirklich das Richtige für einen ist. Anschliessend ist es wichtig, dass die Lernenden ihre Lehre bis zum Schluss durchziehen.

Wie viele Frauen arbeiten im Durchschnitt als Kaminfegerin?

Im Kanton Freiburg gibt es nicht viele Kaminfegerinnen. Im Kanton Bern ist der Frauenanteil hingegen deutlich höher. In Schwarzenburg sind zum Beispiel fünf Frauen und ein Mann im Team. Bei mir fängt bald eine neue Lehrtochter an, die eine Mitarbeiterin von mir auf diesen Beruf aufmerksam gemacht hat. Kaminfegerinnen können also eine Vorbildfunktion für andere Frauen einnehmen.

Hat es während der 20 Jahre, die Sie als Kaminfeger arbeiten, viele Veränderungen im Beruf gegeben?

Ja, Veränderungen hat es einige gegeben. Während man früher oft zweimal jährlich zu einem Kunden oder einer Kundin gegangen ist, findet das heute seltener statt. Auch die Technologie hat in den letzten Jahren mehr Raum eingenommen. Heute arbeite ich oft mit dem Computer. Jedes Jahr besuche ich Weiterbildungen, um auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben.

Zum Schluss brannte der Klasse 27/37 noch eine Frage auf der Zunge: Woher kommt denn nun eigentlich der Spruch, dass Kaminfeger und Kaminfegerinnen Glück bringen? Laut Christophe Ferraglia erzählte man sich früher, dass es nach dem Besuch des Kaminfegers im Dorf keine Brände mehr gab. Er brachte den Menschen Schutz vor Brandkatastrophen und damit einhergehend Glück ins Haus. Hinter diesem alten Aberglauben steckt also eine zentrale Funktion eines Kaminfegers oder einer Kaminfegerin, die auch heute noch von grosser Bedeutung ist.

(Quelle: FN) Link zum Originalpost

Spannende Maschinen im Fab-Lab Fribourg

Die Klasse Oberstufe Plus vom Schulheim Les Buissonnets besucht das Fab-Lab Fribourg.

Herr Pierre Beltrame hat uns Fab-Lab vorgestellt und uns durch das Haus geführt. Fab-Lab ist ein Verein und befindet sich in der Stadt Freiburg, bei der Blue Factory. An zwei Abenden pro Woche, Dienstag und Donnerstag, sind die Türen des Hauses von 18.30 bis 21.30 Uhr geöffnet. Seit Kurzem öffnet es auch einmal im Monat an einem Samstagnachmittag. Der Verein stellt verschiedene Maschinen zur Verfügung, mit denen man eigene Projekte realisieren kann.

Bevor man die Maschinen nutzen darf, muss man an einer Schulung bei einem Mitglied des Vereins teilnehmen. Fab-Lab bedeutet auf Englisch «fabrication laboratory», zu Deutsch: ein Labor, um eigene Ideen zu fabrizieren. Grundsätzlich realisiert man die Projekte eigenständig. Falls nötig, kann man einen Moderator oder eine Moderatorin um Unterstützung bitten.

Der 3-D-Drucker

Die Räume befinden sich im ersten Stock des Hauses. Der Verein stellt drei Räume mit verschiedenen Maschinen zur Verfügung. Im ersten Raum gibt es einen 3-D-Drucker. Mit einem 3-D-Drucker kann man dreidimensionale Werkstücke aus unterschiedlichen flüssigen oder festen Materialien herstellen. Es wurden bereits viele verschiedene Figuren, wie Tannenbäume, ein Totenkopf, ein Drache und viele weitere Figuren, fabriziert und ausgestellt.

So sieht der 3-D-Drucker aus.
Bild zvg

Die Laserschneidmaschine

Des Weiteren gibt es eine Laserschneidmaschine. Wir konnten sehen, wie die Maschine viele Puzzleteile ausgeschnitten hat. Man kann seine eigenen Ideen zeichnen, zum Beispiel eine Schweizerkarte mit den Kantonen, und dann am Computer die Einstellungen vornehmen. Die Maschine schneidet dann die Figuren aus dem Holz aus. Bei dieser Maschine bezahlt man die Dauer der Verwendung und nicht das Material. Der Silhouette Cameo 4 Schneideplotter ist eine weitere Maschine, die Vinyl, Papier, Leder und sogar Bastelholz genau und schnell zuschneiden kann.

Diese Puzzleteile wurden mithilfe der Lasermaschine ausgeschnitten.
Bild zvg

Die CNC-Fräsmaschinen

In einem weiteren Raum befinden sich CNC-Fräsmaschinen. Diese stellen Hilfsmittel, Werkzeuge und Rohlinge her. An einem Computer werden die codierten Anweisungen programmiert. Diese Maschinen können verschiedene Materialien wie Plexiglas, Aluminium, Messing und viele weitere bearbeiten. Mit einer weiteren Maschine kann man Kleidungsstücke mit eigenen Texten und Motiven bedrucken lassen. Auf der Webseite gibt es eine Preistabelle. Bei den meisten Maschinen bezahlt man für das Material, bei einzelnen für die verwendete Zeit. Als Mitglied zahlt man weniger.

«Zeitung in der Orientierungsschule»

Sie lesen einen Sonderbeitrag von Freiburger Orientierungsschülerinnen und Orientierungsschülern. Im Rahmen des Projekts «Zeitung in der Schule» stehen 495 Jugendliche aus sieben Freiburger Orientierungsschulen als Reporterinnen und Reporter für die FN im Einsatz. Das medienpädagogische Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen den FN, vier Wirtschaftspartnern und dem Bildungsinstitut Izop aus Aachen.

Heute

Thema: Die Klasse der Oberstufe Plus vom Schulheim Les Buissonnets hat bei einem Besuch des Fab-Lab Fribourg spannende Maschinen kennengelernt, mit welchen allerlei Kunstvolles hergestellt werden kann.

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Für Foul an Jacob de la Rose: Verfahren gegen Marc Wieser eröffnet

Es lief die 25. Minute am Sonntagabend im Spiel zwischen Gottéron und Davos, als Jacob de la Rose Marc Wieser hart in die Bande checkte. Sichtlich genervt, rächte sich der Bündner mit einem Schlag gegen den Kopf des Schweden, als der Puck längst weg war. Das Schiedsrichterduo Daniel Stricker/Pascal Hungerbühler schaute sich die Szene auf Video an. Da allerdings schwierig zu erkennen war, ob es ein Schlag mit dem Handschuh, mit dem Ellbogen oder mit dem Stockende war, verzichteten die Referees auf einen Restausschluss und gaben Wieser bloss eine Zweiminutenstrafe wegen übertriebener Härte.

Nun aber droht Marc Wieser nachträglich doch noch Ungemach. Der Verband hat gegen ihn ein ordentliches Verfahren wegen eines möglichen Checks gegen den Kopf von Jacob de la Rose eröffnet, wie Swiss Ice Hockey am Montagmorgen mitteilte.

(Quelle: FN) Link zum Originalpost

Das Spiel: Hütet euch vor Drachen!

Patrick Jerg /  Es benötigt schon einen Magier, um junge Drachen im Zaum zu halten. Ein Glück, hat das Magische Buch immer einen Zauber bereit.

Michael Menzel ist längst kein Unbekannter mehr in der Brettspielszene. Mit seinem Spiel «Die Legenden von Andor» gewann er 2013 den Titel «Kennerspiel des Jahres», und «Die Abenteuer des Robin Hood» war ebenfalls in der Endausscheidung zum «Spiel des Jahres». Noch viel mehr Spuren hat er allerdings als Illustrator von Brett- und Kartenspielen hinterlassen. Michael Menzel ist ein gefragter Mann in der Szene. In seinem neusten Spiel «Drachenhüter» sorgt er mit niedlichen Drachen für einen kurzweiligen Kartensammelspass.

Die wahren Babysitter der frühen Drachenjahre waren wohl die Magierinnen und Magier. So sorgten sie mit ihren Zaubersprüchen für Ruhe unter den jungen Fabelwesen. Mit dem Magischen Buch bewegen wir uns auf ihren Pfaden. Um möglichst viele Drachen zu besänftigen, sammeln wir die passenden Karten und holen uns die zustehenden Belohnungen für unsere Dienste.

Blättern im Magischen Buch

Im Zentrum des Spiels steht das Magische Buch, dessen Blätter die Spielkarten sind. In einem Spielzug holt man sich bis zu drei neue Karten auf die Hand. Dabei entscheidet man sich vorderseitig für eine Drachenfarbe: Grün, blau, weiss oder rot. Doch auch die Rückseiten der Karten liefern wertvolle Informationen. Auf der linken Seite des Buchs stehen rückseitig Zahlen und die dazugehörigen Belohnungen, auf der rechten Seite des Buchs ist auf der Rückseite eine der Drachenarten abgebildet. Nach dem Ziehen der Karten bleibt im Magischen Buch also eine aktuelle Aufgabe stehen: 2 blaue Drachen. Kann man die entsprechenden Drachen in der gewünschten Anzahl auslegen, weil man sie gesammelt hat, erhält man die Belohnung.

Bei «Drachenhüter» sind immer alle Spielenden aktiv. So kann man sich auch bei den Aufgaben der anderen Magier beteiligen und sich Belohnungen sichern. Mit Amuletten, Perlen und Dracheneiern holt man sich Punkte. Kristalle ermöglichen das Ziehen einer zusätzlichen Karte.

Die Magie des Buches

Zwei spezielle Aktionen zeichnen «Drachenhüter» aus. Nach dem Ziehen der Karten darf man das Magische Buch manipulieren, indem man eine Karte zurücklegt. So verändert man das Buch nach seinen Bedürfnissen und sorgt dafür, dass man eine lösbare Drachenaufgabe erhält. Das Spiel mit den Vorder- und Rückseiten der Karten legt den Fokus auf das gezielte Sammeln der Karten, da sie jederzeit beidseitig eingesetzt werden können.

Das Ablegen der gesammelten Drachenkarten bei erfüllten Aufgaben erfolgt bei «Drachenhüter» auch nach einem eigenen Gesetz. Mit der ersten und der zweiten Drachenfarbe hat das noch keine Konsequenzen, man legt die Farben nebeneinander aus. Schon mit der dritten Farbe muss man in der eigenen Ablage eine Farbe einschliessen, die man ab sofort nicht mehr sammeln darf. Mit der vierten Farbe sind schliesslich zwei Farben in der eigenen Ablage gesperrt. Das erfordert ein gut getimtes Auslegen der Karten, damit man nicht zu früh eingeschränkt agieren muss.

Ausgefallene Ideen

Auch nach einigen Partien entdeckt man bei «Drachenhüter» immer noch Kleinigkeiten, mit denen man das eigene Spiel verbessern kann. Die Punkte für die Wertung sind so geschickt verteilt, dass man mit unterschiedlichster Spielweise belohnt wird. Oft ist die Frage, wann man sich an den Sammlungen anderer beteiligt oder ab wann man bei sich Drachenfarben sperrt. Das macht den Spielreiz bei «Drachenhüter» aus, denn erst beim Zählen der Punkte wird klar, wer die Drachen wirklich im Griff hatte.

Autor Michael Menzel ist immer auf der Suche nach speziellen Spielideen, Illustrator Michael Menzel lässt sich jederzeit von seiner Umgebung inspirieren. So verdankt der blaue Drachen sein Aussehen einer alten, rostigen Cutter-Messerklinge, die der Illustrator auf dem Aussengelände der grössten Spielmesse in Essen fand. Aus dem rostigen Teil lachte ihn ein Drachen an. So war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Thema seines Spiels.

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Drachenhüter
Drachenhüter

Drachenhüter

Ein Kartenspiel von Michael Menzel
Illustrationen: Michael Menzel

Für 2 – 4 Personen | Ab 8 Jahren | 20 Minuten
Verlag: Kosmos | ca. 22 Fr. / 18 Euro


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Patrick Jerg betreibt seit 13 Jahren die Webseite brettspielblog.ch und veröffentlicht regelmässig Spielkritiken über Brett- und Kartenspiele.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Journal d’opinion, au singulier, svp!

Christian Campiche /  Le propre de la presse d’opinion est de ne pas cacher son orientation politique, économique, sociale ou religieuse.

Merci de m’avoir interpellé, cher lecteur – par ailleurs ami! 

Suite à mon éditorial du 20 novembre 2023 sur les événements tragiques au Proche-Orient, vous m’avez adressé la remarque suivante dans l’espace des commentaires: «Et pourquoi ne pas déclarer qu’infoméduse est un journal d’opinions avec un “s” à la fin du mot ? Cela ferait toute la différence et chacun y trouverait son compte…».

Oui, merci, car vous m’offrez ainsi l’occasion de revenir sur un thème qui m’est cher: la presse d’opinion. Et ceci me permet de vous répondre tout de go: ajouter un «s» à la fin du mot? Alors là, non!

Car, voyez-vous, adossé de cette manière, le pluriel n’a aucun sens. Réceptacle des émotions de la collectivité, tout journal, quelle que soit sa vocation, est déjà en soi un condensé d’opinions allant dans toutes les directions.

Non, la presse d’opinion, c’est autre chose. Loin du cumul d’idées souvent contradictoires, elle s’affirme dans une ligne éditoriale bien définie. Au tournant des années 1970, le modèle journalistique anglo-saxon privilégiant l’investigation et le reportage a relégué au rayon des invendus cette presse au ton partisan donc louche car synonyme d’endoctrinement. 

Conditionnée par l’aveuglement médiaphage d’un grand groupe de presse, la Suisse romande a perdu progressivement tous ses journaux d’opinion dans la presse papier. Disparu le «Journal de Genève», disparue la «Gazette de Lausanne», disparue la «Nouvelle Revue de Lausanne», disparu «Domaine Public», aurait chanté Gainsbourg. Restent une poignée de titres réalisés par des professionnels du journalisme tels Gauchebdo, successeur de feu le quotidien communiste la «Voix Ouvrière», ou l’excellent hebdomadaire chrétien «Echo Magazine». Une évolution d’autant plus regrettable qu’en France, en revanche, la presse d’opinion tient bon. Tant le «Figaro» que «Libération», pour ne prendre que deux exemples, disent qu’ils sont des journaux d’opinion.

Le propre de la presse d’opinion est de ne pas cacher son orientation politique, économique, sociale ou religieuse. Dans le livre «info popcorn»*, co-écrit avec Richard Aschinger et paru en 2010 aux Editions Eclectica, l’auteur de ces lignes lui consacre un petit hommage dont voici un extrait:

Parce qu’il affiche la couleur sans détours, le journal d’opinion reflète l’honnêteté. Défendre des idées, proclamer sa foi, s’engager en faveur d’une cause sont autant d’attitudes qui retrouvent du panache auprès du public.

Dans le contexte de la crise des médias que nous connaissons, et qui s’aggrave hélas chaque année, ce journalisme «plus intimiste, plus près des gens» pourrait-il s’avérer le sauveur de la presse? Sans doute, concluai-je dans l’ouvrage précité. Ajoutant que la démocratie ne serait pas perdante. Tant qu’à faire.

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*Deutsche Fassung:
«News-Fabrikanten – Schweizer Medien zwischen Tamedia und Tettamanti», Richard Aschinger und Christian Campiche, Europa Verlag Zürich, 2010

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Ce commentaire a paru sur le site Infoméduse.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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«Die ungeheuere Mobilisierungskraft der Lieder»

Helmut Scheben /  Joan Jara, die Witwe des 1973 ermordeten Sängers Víctor Jara, ist im Alter von 96 Jahren gestorben. 2010 traf ich sie in Chile.

Sie war damals über achtzig und hatte um ein paar Tage Bedenkzeit gebeten, bevor sie in ein Interview vor der Kamera einwilligte. Joan Jara, in Chile Juanita genannt. Geborene Turner, britische und später chilenische Staatsbürgerin, ausgebildete Tanzpädagogin, Frau des Sängers Víctor Jara, der nach dem Pinochet-Putsch 1973 in Santiago ermordet wurde.

Sie wirkte sehr still, strahlte eine gütige Müdigkeit aus, aber – wie sich dann im Gespräch zeigte – das Gegenteil von Teilnahmslosigkeit. Da war eine ruhige und etwas rissige Stimme, die konkret und mit analytischer Klarheit das Chile zu Beginn der siebziger Jahre beschrieb:

«Era tremendamente fuerte el poder movilizador del canto, y como la gente se juntaba a través del canto.»

Die ungeheure Mobilisierungskraft des Gesangs, dieses Phänomen, dass damals eine neue Form des politischen Liedes entstand, welches die Leute im Singen zusammenbrachte. Nicht ein paar Tausend, sondern Hundertausende, die in den grossen Demonstrationen im Zentrum der chilenischen Hauptstadt zusammenströmten.

«Die Lieder machten ihnen Mut (…) Es war, als ob ein ganzes Land mit einem Mal gelernt hätte zu singen.»

La Nueva Canción Latinoamericana

«La nueva canción»: Das war eine kulturelle Bewegung, die ab dem Ende der sechziger Jahre von Chile ausging und ganz Lateinamerika erfasste. Darunter sind Lieder im traditionellen Stil, zu verstehen: die Cueca in Chile, die argentinische Zamba und Chacarera, Yaraví und Huayno im indigenen Hochland oder der mexikanische Corrido. Neu waren aber die Liedtexte: Sie waren dezidiert politisch, aufrüttelnd und revolutionär.

Die linken Volksbewegungen Lateinamerikas waren, wie Juanita Jara es ausdrückte, auf der Suche nach einer verlorenen kulturellen Identität: «Es sollte nicht länger alles von USA, Frankreich oder England importiert werden. Violeta Parra und andere sammelten traditionelle Lieder, die auf dem Land gesungen wurden, bei den Hochzeiten, Beerdigungen, Festen.»

Zentrum und Treffpunkt der neuen Kulturbewegung war die Peña, ein einfaches Lokal, in dem es zu Empanadas, Wein und Mate-Tee musikalische Darbietungen gab. Die Peña der Sängerin Violeta Parra und ihrer Kinder Angel und Isabel war der Anfang, nach und nach entstanden Peñas überall im Land. Jede Universität hatte ihre Peña.

Die in Grossbritannien aufgewachsene Joan Turner war als Schauspielerin und Ballett-Tänzerin mit ihrem Mann, dem chilenischen Choreographen und Tanzpädagogen Patricio Bunster 1954 nach Chile gekommen. Nach dem Scheitern dieser Ehe lernte sie den Theaterregisseur Víctor Jara kennen:

«Víctor war zunächst alles andere als ein professioneller Sänger. Aber wenn er ein paar Stunden im Theater frei hatte, ging er in die Peña und sang. Damals wurde überall Musik gemacht. Mit ein paar alten Deux Chevaux, die in Chile Citronetas heissen, fuhren wir irgendwohin, wo gesungen wurde. Die Gruppe Quilapayún war oft dabei.»

Kein utopischer Sozialismus

Víctor Jara sei kein intellektueller Romantiker eines utopischen Sozialismus gewesen, sagt Joan, sondern ein Mensch wie er bodenständiger nicht hätte sein können. Ein armes Elternhaus im Süden des Landes. Die Mutter verlässt den trinkenden Vater. Sie schlägt sich mit ihren Kindern in Santiago als Marktfrau durch. Víctor ist 15, als seine Mutter stirbt.

Joan Jara schildert, wie Víctor sich engagierte. Er schleppt Zementsäcke und organisiert Transporte von Baumaterial, wenn wieder einmal heftiger Regen die armseligen Casas de cartón hinweggespült hatte. Er kämpft für eine bessere Gesundheitsversorgung in einem Land, in dem Frauen aus armen Quartieren mit 40 keine Zähne mehr haben.

«Víctor entschloss sich, seine Stelle als Theaterdirektor aufzugeben, um die Unidad Popular von Salvador Allende zu unterstützen. Kein leichter Entschluss, denn er verzichtete auf ein sicheres Einkommen. Er zog mit seiner Gitarre durch ganz Chile und sang. Er fand, das Theater sei für eine Elite im Saal bestimmt. Er wollte raus auf die Strassen.»

Joan erzählt, wie sie mitgerissen wurde von der politischen Bewegung jener Tage. Die Universitäten verwandeln sich in Zentren der politischen Arbeit. Studenten organisieren Alphabetisierungs-Kampagnen, ziehen in die entlegensten Dörfer von der Atacama-Wüste im Norden bis nach Feuerland im Süden, um Leuten, die kein Geld für ein Buch haben, Lesen und Schreiben beizubringen.

Radio- und Fernsehsender beginnen zögernd, ihre Studios für Violeta Parra, Víctor Jara und Gruppen wie Inti-Illimani oder Quilapayún zu öffnen. Es ist der Beginn des unaufhaltsamen Aufstiegs der Unidad Popular unter Salvador Allende. Eine Massenbewegung, wie sie für viele politikverdrossene Menschen unserer Tage kaum vorstellbar ist. Nie zuvor hatte eine politische Bewegung sich so unüberhörbar in ihren Liedern zu erkennen gegeben. «No hay revoluciones sin canciones», sagte Allende.

Es wird wohl nie ganz zu klären sein, ob die Revolutionen die Lieder hervorbringen oder umgekehrt. Der Siegeszug der Nueva Canción in Lateinamerika wurde nicht nur getragen vom Zeitgeist der Rebellion jener Jahre, sondern beruhte auch auf ganz materiellen Faktoren: Das kleine Transistor-Radio mit Kassettenrecorder kam auf. Ich habe in den siebziger und achtziger Jahren in Lateinamerika keine Gewerkschaftsversammlung gesehen, keine Uni-Cafeteria, kein Campesino-Zentrum ohne die kleinen Kassettenrecorder, sei es in Peru, in El Salvador oder Nicaragua. Selbst in die entlegensten Dörfer gelangte die Nueva Canción, nicht selten bevor Telefon und Wasserleitungen kamen.

«Schiess nicht, Soldat!»

Víctor Jara wird Galionsfigur der Unidad Popular und kultureller Botschafter der Regierung Allende. Er singt mit der Gruppe Quilapayún in den grossen Kundgebungen auf Santiagos Prachtstrasse Alameda vor Hunderttausenden. Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung, sagt Joan Jara:

«Seine Lieder waren am Anfang autobiographisch, aber dann entwickelte er ein politisches Bewusstsein bis zu dem Moment, wo seine Lieder eine Art epischer Gesang wurden. Denn es hatte etwas Episches, dieser Kampf der Linken, der Studenten und Arbeiter gegen so gewaltige Mächte. Víctor sang, was das chilenische Volk in diesen Momenten erlebte.»

Víctor Jara war kein Pazifist. Er rief zum Widerstand auf, aber sein persönlicher Widerstand war das Wort, das gesungene Wort. Er hat bis zu seinem Tod keine Waffe angerührt und keinen Akt der Gewalt begangen. In einem seiner Lieder heisst es: «Soldat, schiess nicht. Ich weiss, dass deine Hand zittert, wenn du schiesst. Wie viel Leben haben deine Medaillen gekostet? Sag mir, ob das recht ist. Wer gewinnt bei so viel Blutvergiessen?»

Solche Fragen taten weh. Sie lösten Angst, Wut und Empörung aus, aber folglich auch die Solidarität Hunderttausender Menschen. Und sie trafen sogar diejenigen, die dabei waren, in geheimen Depots Waffen zu lagern für den Tag des Militärputschs. Die USA hatten in den sechziger Jahren schon in Guatemala, Brasilien und Bolivien gezeigt, dass sie ein zweites Kuba in ihrem Hinterhof nicht dulden würden. Washington hat später nie einen Hehl daraus gemacht, dass der Sturz Allendes schon lange vor seinem Regierungsantritt beschlossene Sache war.

Víctor Jara war der Opposition und den Rechtsextremen verhasst. Das zeigt, dass seine Lieder ihren Zweck erfüllten. Sie waren gefährlicher als jede Waffe, sagt Joan: «Sein Name stand auf den Listen, er hatte Todesdrohungen bekommen. Wir waren uns völlig im Klaren über das Risiko.»

Víctor Jara wurde bei Beginn des Putsches zusammen mit hunderten Studenten und Professoren in der Universität festgenommen. Eine Woche später, am Morgen des 18. September 1973, erhielt Joan Jara den heimlichen Hinweis, dass ihr toter Mann in der Leichenhalle sein könnte. Sie identifizierte ihn unter hunderten von Toten in einer Atmosphäre des Grauens, während die Militärlastwagen ununterbrochen neue Leichen abluden.

Joan Jara ging nach dem Putsch zurück nach Grossbritannien ins Exil. Sie kehrte erst nach dem Ende der Militärdiktatur nach Chile zurück und nahm ihre politische Tätigkeit als Menschenrechtsaktivistin wieder auf. Der Staat gewährte ihr eine bescheidene Summe als Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Mit dem Geld gründete sie die Stiftung Víctor Jara, die sich unter anderem der Aufarbeitung der Verbrechen widmete. 2009 erhielt sie die chilenische Staatsbürgerschaft.

Joan Jara ist am 12. November gestorben. Unter den Trauergästen, die sich in der von ihr gegründeten Tanzakademie versammelten, war der chilenische Präsident Gabriel Boric. Er würdigte «eine Frau, die ein halbes Jahrhundert lang für Gerechtigkeit gekämpft hat und uns ein bleibendes Vermächtnis in der Kunst und der Verteidigung der Menschenrechte hinterlässt.»

2016 sprach ein Gericht in Miami den ehemaligen chilenischen Leutnant Pedro Barrientos Núñez schuldig, den Sänger Víctor Jara kurz nach dem Putsch im September 1973 ermordet zu haben. Víctor Jara wurde laut forensischem Befund schwer gefoltert und mit 44 Schüssen hingerichtet. Barrientos war Jahre vorher schon in Chile zusammen mit anderen ex-Militärs verurteilt worden und in die USA geflüchtet. Er soll Ende November an Chile ausgeliefert werden. Joan Jara wird es nicht mehr erleben.

Sie sagte 2010 im damaligen Haus der Víctor Jara Stiftung am Ende eines langen Gesprächs: «Víctor war sehr klar in allem, nicht nur in seinen Liedern, sondern auch in dem, was er sagte. Er hatte eine grosse Kraft.»


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«Diese Massnahme hätte uns sehr viele Tote ersparen können»

Martina Frei /  Fragwürdige Modellrechnungen untermauerten die deutsche Lockdown-Politik in der Pandemie. Alternativen blieben aussen vor. (2)

Im ersten Teil dieses Artikels ging es um die bekannte Physikerin Viola Priesemann. Sie beriet die deutsche Regierung in der Pandemie und kam in vielen Medien zu Wort. Mit ihren Modellrechnungen wollte die Physikerin bestätigen, dass die von der Regierung beschlossenen Massnahmen wirksam seien. Doch etliche Wissenschaftler übten starke Kritik an ihrem Modell. Sie konnten Priesemanns Berechnungen nicht nachvollziehen. Das führt zur Frage, ob die Massnahmen der deutschen Regierung wie Schulschliessungen und weitgehende Kontaktbeschränkungen nötig waren. Der Mathematiker Matthias Kreck entwickelte ein anderes Modell. Es zeigt, dass sich mit einer einfacheren Massnahme – die Verkürzung der Zeitspanne vom Symptombeginn bis zum Beginn der Quarantäne – «sehr, sehr viele Tote» hätten verhindern lassen.

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Priesemann und ihr Team hatten auf erste Kritik – und aus ihrer Sicht «Missverständnisse» – von verschiedenen Seiten reagiert, indem sie am 22. Juni 2020 ihren «Science»-Artikel mit «technical notes» ergänzten, die sie «kontinuierlich aktualisierten». Es handelte sich dabei um einen nicht begutachteten «Pre-Print».

In ausführlichen Repliken ging Priesemann ausserdem in der Online-Leserbriefspalte von «Science» auf Kritikpunkte ein. Mit zunehmendem Wissen und mehr Daten würde ihr Team das Modell weiter verfeinern, schrieb sie dort. Anfangs hätten nur die Fallzahlen zur Verfügung gestanden und nicht die, wie sie anerkannte, besseren Daten zum Infektionsbeginn. Stützte sie ihre Berechnungen anstatt auf das Meldedatum der Infektion (wie im «Science»-Artikel) auf den Symptombeginn, wie dies etwa der Münchner Statistik-Professor Helmut Küchenhoff vorschlug, sah ihre Kurve ganz anders aus – und stellte die Notwendigkeit des Lockdowns in Frage.

Zu Beginn eines Krankheitsausbruchs, wenn nur spärlich Daten vorhanden seien, bestehe jedoch «ein Bedarf an robusten, einfachen Modellen, um die Entscheidungsträger so schnell wie möglich zu informieren», argumentierte Priesemann. An der Aussage, dass die Massnahmen der deutschen Regierung wirksam waren, hielt die Physikerin fest: «Es erscheint am plausibelsten, dass alle Interventionen zusammen mit der gleichzeitigen Verhaltensänderung die effektive Wachstumsrate reduzierten und dass diese nahe dem Zeitpunkt der dritten Intervention deutlich unter Null fiel.» Auch das SIR-Modell beziehungsweise das davon abgeleitete SEIR-Modell diente ihr weiterhin als Grundlage.

«Der Effekt war dramatisch»

Angesichts der «fundamentalen Kritik» an Priesemanns Modell entwickelten die Mathematiker Matthias Kreck und Erhard Scholz selbst ein Rechenmodell, um den Verlauf der Infektionswellen vorherzusagen. Sie verglichen ihre Vorhersagen mit dem späteren, tatsächlichen Verlauf. «Das passte. Wir hatten deshalb grosses Vertrauen in unser Modell», sagt Kreck. Im Modell dieser beiden Professoren spielt ein Faktor eine grosse Rolle: die Zeit zwischen dem Symptombeginn und dem Beginn der Quarantäne. «Bei Priesemann tauchte dieser Faktor gar nicht auf», sagt Kreck. 

Kreck und sein Berufskollege testeten auch, was passiert, wenn sich diese Zeitspanne bis zum Beginn der Quarantäne von damals durchschnittlich fünf Tagen auf vier Tage verkürzen liesse. Fachleute hatten Kreck gegenüber durchblicken lassen, dass dies machbar wäre. «Der Effekt war dramatisch», sagt Kreck. «Diese Massnahme hätte uns sehr, sehr viele Tote ersparen können.» 

Als er das erkannte, schrieb Kreck laut eigenen Aussagen an die damalige deutsche Bundeskanzlerin, an alle Ministerpräsidenten, an alle grossen Wissenschaftsredaktionen. Er brachte den Vorschlag auch – stets mit der Bitte um genaue Prüfung – in eine hochkarätige «No-Covid-Wissenschaftlergruppe» ein, die mit der deutschen Regierung im Kontakt stand und in deren Auftrag nach neuen Strategien suchte, um durch die Pandemie zu kommen. 

«Textbuchwissen», urteilte Priesemann

Doch die anfängliche Begeisterung in der «No Covid»-Gruppe über seinen Ansatz sei plötzlichem Schweigen und Ausweichen gewichen. Gerüchteweise habe er vernommen, dass «im Hintergrund gegen mich gestänkert wurde. Unser Modell wurde angeblich als unseriös bezeichnet. Das zu hören, war wie mit einem kalten Waschlappen ins Gesicht geschlagen zu werden.» Infosperber bat zwei Mitglieder dieser «No-Covid»-Gruppe um Auskunft – vergeblich. 

Der Berner Epidemiologe Christian Althaus sagte im Juni 2021 gegenüber der «Berliner Zeitung», er glaube nicht, dass Krecks Arbeit einen wirklichen Erkenntnisgewinn für die Pandemiebekämpfung enthalte. Es sei zudem merkwürdig, dass Kreck die bisherige Literatur zur Wirksamkeit von Isolations- und Quarantäne-Strategien fast komplett ignoriere. 

Ähnlich argumentierte auch Viola Priesemann gegenüber Kreck. «Die SIR-Modelle werden von sehr vielen Wissenschaftlern erfolgreich genutzt. Liegen die alle falsch? Dass Quarantäne wirksamer ist, wenn sie früher anfängt, das ist schon lange bekannt. Das ist Textbuchwissen», mailte sie ihm. 

Ein weltweit anerkannter Experte lobte die Arbeit von Kreck und Scholz

Ganz anders tönte es vom Mathematiker Odo Diekmann, den die «Berliner Zeitung» so einführte: «Wenn es um die Theorie hinter epidemiologischen Modellierungen geht, gehört er zu den anerkanntesten Experten weltweit. Er hat bedeutende theoretische Arbeiten und Lehrbücher zum Thema geschrieben, an seinem Institut an der Universität Utrecht wurden einige der Forscher ausgebildet, die in der Schweiz und Grossbritannien den epidemiologischen Diskurs prägen.» Und weiter: «Diekmann hat die Arbeiten von Kreck und Scholz gelesen, er dankt ihnen und zitiert sie in seinem jüngsten eigenen Paper. Man müsse ihr Modell sehr ernst nehmen, sagt er, denn es mache etwas […] das in der epidemiologischen Literatur bisher nie formuliert worden sei.»

Anfang April 2021 veröffentlichten Kreck und Scholz ihr Modell als Pre-Print, im Februar 2022, nachdem es neun Monate lang im Begutachtungsprozess geprüft wurde, folgte die Publikation im «Bulletin of Mathematical Biology». «Wenn sich herausstellen sollte, dass wir ein unpassendes Modell verwenden, würde ich das sofort bekannt machen und die Arbeit zurückziehen», sagt Kreck.

«Man hätte die massive Kritik ernster nehmen müssen und spätestens nach der Pandemie im Detail aufarbeiten können und müssen. Dass das nicht geschehen ist, ist ein Skandal.»

Mathematik-Professor Matthias Kreck,

Dasselbe erwartet er auch von Priesemann, die sich von der «Bild»-Zeitung den Vorwurf gefallen lassen musste, eine «Lockdown-Macherin» zu sein und für «Knallhart-Massnahmen» zu plädieren. «Ein dramatischer Angriff auf die deutsche Exzellenz-Wissenschaft», verurteilte nachher der «Focus» diese Wertung der «Bild»-Zeitung. Für ihre Corona-Forschung gewann Priesemann mehrere mehrere Preise. Seit Oktober 2022 ist die Physikerin Professorin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen.

«Frau Priesemann und ihre Gruppe haben ein grosses Engagement gezeigt, und sie war sicher davon überzeugt, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Dass man sich in einer solch extremen Situation vergaloppieren kann, ist ihr nicht vorzuwerfen», sagt Kreck. «Aber man hätte die massive Kritik ernster nehmen müssen und spätestens nach der Pandemie im Detail aufarbeiten können und müssen. Dass das nicht geschehen ist, ist ein Skandal. Denn so besteht die Gefahr, dass eine möglicherweise falsche Modellierung bei einer zukünftigen Pandemie wieder zum Tragen kommt.» 

Viola Priesemann hüllt sich in Schweigen

Infosperber bat Professorin Viola Priesemann erstmals im Juli 2023 um eine Stellungnahme. Priesemann stand damals unmittelbar vor einer zweimonatigen Auszeit, schickte kurze Antworten in einer verschlüsselten E-Mail und stellte ein Gespräch nach ihrer Rückkehr in Aussicht. 

Erneute Nachfragen sowohl bei ihr als auch bei der Pressestelle ihres Arbeitgebers, dem Max-Planck-Institut (MPI) für Dynamik und Selbstorganisation, im November 2023 blieben jedoch erfolglos. Anstelle von Antworten Priesemanns daher hier die Antwort eines Mediensprechers des MPI vom Juli 2023: 

«Frau Priesemann beschäftigt sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit Modellierungen von komplexen Netzwerken und Phänomenen, worunter exemplarisch auch die Corona-Pandemie fällt. Nähere Informationen dazu finden Sie auf der Website ihres Labors: https://www.viola-priesemann.de/

Im Zeitraum von Mitte 2020 bis Ende 2022 hat Frau Priesemann sehr viele Anfragen bekommen; nicht nur aus der Presse, sondern auch von Kolleg*innen aus der Wissenschaft, Einzelpersonen und anderen Medienvertretern. Viele dieser Anfragen habe ich selbst begleitet, auch einige wissenschaftliche Diskussionen. Frau Priesemann hat dabei wann immer es zeitlich möglich war und weit über ein übliches Arbeitspensum hinaus auf die Anfragen reagiert und war stets um eine sachliche und wissenschaftliche Diskussion bemüht, oft im Austausch über viele Mails hinweg. Den Vorwurf, man könne mit ihr nicht in eine wissenschaftliche Diskussion kommen, kann ich daher in keiner Weise nachvollziehen, ich habe das Gegenteil beobachtet (auch von meinem Standpunkt als selbst ausgebildeter Naturwissenschaftler aus). Zu den weiteren Punkten kann ich leider nichts sagen, da sie fachlicher oder persönlicher Natur sind.»

Auf die konkrete Kritik an Priesemanns Modell ging die Pressestelle nicht ein.


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kontertext: Diskursiver Frontenkrieg

Silvia Henke /  Der neu gewählte Direktor der Kunsthalle Basel, Mohamed Almusibli, gerät schon vor Amtsantritt zwischen die Fronten. Aber welche?

Es war sehr wohltuend, wie sachlich der neue Kurator der Kunsthalle Basel in der bz Basel vom 13. November vorgestellt wurde. In ihrem Porträt von Mohamed Almusibli unterliess die Zeitung jeden Hinweis auf Herkunft, Hautfarbe oder «Migrationshintergrund» des neu gekürten Kunsthallendirektors. Betont wurde vielmehr sein Profil als Künstler-Kurator, seine Erfahrung mit Kunstprojekten im internationalen Kontext, seine Mitwirkung im Social Club der ART Basel und dann vor allem seine Leidenschaft, sein Ehrgeiz und seine Neugier. Die Nähe zu einer jungen Kunstszene ergibt sich von selbst: Er ist jung, mit 35 Jahren jünger als alle Direktor:innen zuvor.

Kleine Stolpersteine wurden nur angedeutet: sein Name liesse sich nicht ganz einfach aussprechen. Und Deutsch würde er noch lernen. Insofern war das ein beinahe perfektes Porträt, das sich bemühte, keine Rassismen zu bedienen.  Diese angenehme Neutralität wurde aber bald gestört.

Die falschen Aufrufe unterzeichnet

Joël Thüring, Basler Grossrat der SVP und Kolumnist der Basler Zeitung, hat seine Mission des Polemikers in Sachen Kultur und Bildung im «linken» Basel wieder einmal erfüllt und empört sich darüber, dass der designierte Direktor zwei offene Briefe unterzeichnet hat, die beide im Oktober von Kunstkreisen lanciert wurden. Die Briefe gelten international als problematisch, weil sie einseitig Israel für den Krieg im Gazastreifen verantwortlich machen. Der zweite Aufruf auf der Website des Artforums wurde deshalb auch ergänzt mit einer Verurteilung der Gräueltaten der Hamas.

Die Basler Zeitung nahm die Causa sofort auf und wertete die beiden Briefe als Marksteine für den diskursiven Frontenverlauf um den Nahostkonflikt und als Indikator dafür, wer auf der falschen Seite stehe. Entsprechend unzimperlich richtete sie einen Tag später ihr «Schlaglicht» auf Mohamed Almusibli: Sie benennt als Erstes seine Herkunft: Ein Genfer sei er, aber mit «Wurzeln» im Jemen. Dazu publiziert sie einen Fragebogen für den zuständigen Kunstverein, der insinuiert, man habe bei der Wahl nicht genau genug hingeschaut in Bezug auf die politische Gesinnung des neuen Direktors.

Mit ihrem Fragebogen unterstellt die Basler Zeitung, dass Almusibli wohl nicht bereit oder nicht fähig sein werde, Werke jüdischer oder israelischer Künstler:innen auszustellen, was per se unverschämt ist. Und er stellt mit seinen Fragen die Befürchtung in den Raum, dass jüdische Stiftungen der Kunsthalle die Förderung entziehen könnten. Insofern ist der Fragebogen zynisch und symptomatisch für einen diskursiven Frontenkrieg, der so tut, als gäbe es eine richtige Seite (auf der sie, die Zeitung, natürlich steht).

Verräterischer Habitus

Verräterisch ist deshalb nicht nur die letzte Frage: Ob Mohamed Almusibli denn Deutsch könne? Verräterisch und reisserisch ist der ganze Habitus, der in die Polemik von Thüring einstimmt. So fordert Thüring in einem Tweet und einer Interpellation, die Wahl Almusiblis zu widerrufen oder der Kunsthalle die öffentlichen Gelder zu entziehen. Das alles ist aber zunächst nicht erstaunlich – die rechte Politik ist immer im Wahlkampf und versucht ihre Fahnen in den richtigen Wind zu hängen.

Leider wurde die Frontenbildung auch von Regierungsrat Beat Jans fortgesetzt, der den «Fehler» des Kunstvereins, die politische Gesinnung des neuen Direktors nicht zu überprüfen, für bedauerlich hält: Man erwarte Klärungen und Stellungnahmen. Die der Kunstverein zusammen mit Almusibli auch lieferte. Martin Hatebur, Präsident des Kunstvereins, räumte ein, «dass die aufgeladene Stimmung rund um den Krieg im Nahen Osten mehr Sensibilität verlangt hätte». Und Almusibli anerkennt, dass er Anschuldigungen provoziert habe, «die dezidiert nicht seiner Auffassung entsprechen.» Allein diese Formulierung zeigt, wie kompliziert die Verhältnisse sind. Anschuldigungen sind nämlich einfacher als Gesinnungskundgebungen. Zuspitzungen und Vereinfachungen kommen schneller und besser an als komplexe Darlegungen. Sie tun arglos und dienen der Frontenbildung. Heisst im Klartext: Die Zeitung äussert Befürchtungen, während die SVP im Grossen Rat bereits eine Überprüfung der Subventionen für die Kunsthalle verlangt.

Besonnenheit statt Empörung

Das Problem, komplexe Sachverhalte angemessen zu kommunizieren, kennen die Empörten, die jetzt von rechts als Wächter gegen Antisemitismus auftreten, nicht. Der Präsident der SVP von Basel-Stadt, Pascal Messerli, ist ebenfalls ein solch Empörter. Er stellt Fragen, die nur eine Antwort kennen: «Ein Israel-Hasser an der Spitze eines vom Kanton finanzierten Kulturbetriebs?», lautet sein Tweet. Wem ist mit solch primitiven Kampfrufen geholfen?  

In einem sehr substantiellen Gespräch mit der ZEIT erklärt die österreichisch-jüdische Schriftstellerin Eva Menasse Anfang November ausführlich, warum sie die aktuelle Kampfsprache und die diskursiven Zuspitzungen zum Nahostkrieg für «obszön» hält. Sie sieht ein grosses Problem darin, dass emotionale und moralisierende Urteile über die politische Analyse siegen. Sie fordert, dass man den neueren, radikalen und brennenden Antisemitismus vom alten, in den Köpfen sedimentierten, unterscheidet, denn beide haben komplett andere Äusserungsformen und Akteure. Sie schlägt vor, Israelkritik weder mit Antisemitismus noch mit Israelhass gleichzusetzen, und ebenso, dass man auf die Verwendung des Begriffs Genozid in Bezug auf die israelischen Streitkräfte verzichtet und den Vergleich mit dem Holocaust grundsätzlich unterlässt.  

So könnte das ABC eines besonnenen Politikers und auch der Medien aussehen: Begriffe differenzieren, Ebenen trennen. Der «hochgejazzte Moralismus» der Presse, die Schauspieler:innen und Künstler:innen öffentlich vorführt, weil sie den falschen Aufruf unterzeichnet haben, wie in Wien geschehen, ist für Eva Menasse eine solche Obszönität. Basel hat nun sein eigenes «obszönes» Kapitel dazu erhalten. Es ist kein Beitrag zum Frieden.


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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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Peter Studer: Er liebte das Haptische

Bruno Glaus /  Der frühere Chefredaktor des Schweizer Fernsehens und des «Tages-Anzeigers» ist 88-jährig gestorben. Eine persönliche Würdigung.

Red. Rechtanwalt Bruno Glaus arbeitete in den 80er Jahren als juristischer Redaktor unter Chefredaktor Peter Studer. Mehr als zwanzig Jahre später schrieb er mit ihm die Bücher «Kunstrecht» (im Werkverlag) und «Kunst- und Kulturrecht» im Saldoverlag. 

Im Buch «Läufer, Mietmaul, König» (Orell Füssli 2005) ist Peter Studer einer der 17 porträtierten Anwälte und Anwältinnen. Untertitel: «Anwälte an der Schnittstelle von Recht und Macht». Peter Studer wählte die Medien. Sein Credo: Neugierde, Wahrhaftigkeit, Transparenz und Fairness. Er focht nicht mit Paragrafen, sondern mit Ethik und Moral. Audiatur et altera pars.

Als erster vollamtlicher USA-Korrespondent des «Tages-Anzeigers» erlebte er die Watergate-Affäre hautnah mit: «Eine Sternstunde des investigativen Journalismus». Als Chefredaktor des Tages-Anzeigers (1978-1987) räumte er den «muckrakers» oder Schmutzaufwühlern viel Raum und Vertrauen ein. Thalmann (Verena) und Glaus (Bruno) durften zum berüchtigten «Narkoseunfall» an der Frauenklinik über Tage ganze Seiten füllen mit Frontanrissen. Die Rekonstruktion des tödlichen Endes eines Rasers in der Siedlung «Im Eisernen Zeit» in Zürich schaffte es gar in Lehrbücher. Die Wahrheit aufzudecken war sein höchstes Anliegen. Noch im hohen Alter hielt er mir vor, nie die «Hintermänner» der 80er Jugendunruhen aufgedeckt zu haben. Dies mit verschmitztem liebevollem Lachen. Die Journis waren seine Kinder.

Peter Studer
Peter Studer im Jahr 1999 als abtretendere Chefredaktor des Schweizer Fernsehens. Von 1978 bis 1987 war er Chefredaktor des «Tages-Anzeigers».

Peter Studer war im Journalismus um die Jahrhundert-Wende, was Gerhard Pfister heute in der Politik: Er wirkte und argumentierte von einem nachvollziehbaren ethisch-philosophischen Fundament aus. Immer wieder verwies er auf die Fairness-Theorie des amerikanischen Philosophen John Rawls in den Büchern «Theorie der Gerechtigkeit» und «Politischer Liberalismus». Auf dem Prinzip Fairness fusste sein Konzept der «Forumszeitung»: Alle Standpunkte gehören ins Blatt. Jahre später allerdings fragte er an einer Tagung nicht unkritisch: «Fairness – Leerformel oder durchsetzbare Forderung?» Als Präsident des Presserates (2001-2007) hätte er für Sünder gerne die Strafzahlung eingeführt – auch zur Finanzierung des Presserates. 

Die physische Kraft holte Peter bis ins hohe Alter mit sportlichen Aktivitäten. Im Winter Skilanglauf in Einsiedeln, im Sommer tägliches Schwimmen im Zürichsee und zwischendurch auch Bergwandern. Im Alter von 76 Jahren bestieg er noch den Haldensteiner Calanda. Und regelmässig tankte er mit seiner Frau Margaret in Australien auch auf der Rottnest Island mit Radfahren Energie. Das «Rattennest» ist eine kleine Insel in der Nähe von Perth, nur 18 km von Fremantle entfernt. Auf der Insel leben noch 300 Einwohner. Hier, in der Einsamkeit, fühlte er sich ebenso wohl wie in den urbanen Zentren der Welt. In der Einsamkeit der Alterskrankheit wird er sich oft an Rottnest-Island erinnert haben.

Bruno Glaus über Peter Studer gegenüber «persönlich»

Peter Studer liebte das Haptische, die Zeitung in der Hand. Auch während seiner Fernsehzeit. Er las mit dem Stift in der Hand. In seinem Büro zuhause lagen riesige Stapel von Zeitungsausschnitten, auf welchen jeder dritte Satz mit Wellenlinie unterstrichen war. Seine rechte Hand las mit, markierte, kommentierte. Als Journalist wie auch als Publizist schöpfte er aus dem Vollen.

Längst pensioniert prägte er vier Auflagen von «Medienrecht für die Praxis». Parallel dazu vertiefte er sich im Bereich «Kunstrecht». Der Sammler und Galeriegänger – regelmässig an Samstagen, zusammen mit seiner Frau Margaret – wusste, was Kunstkonsumenten beschäftigte. Im Medien- wie im Kunstrecht ging es ihm weniger um den wissenschaftlichen Fussnotenapparat als um den Praxisbezug. Seine Bücher erschienen meist im Saldoverlag. Zum Dr. honoris causa erkoren wurde er trotzdem. Oder gar deswegen?


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Konzerne reden von Klimaschutz und fördern Heizöl

Daniela Gschweng /  Erschliessungen neuer Öl- und Gasvorkommen dürfte es gar nicht mehr geben. Trotzdem werden sie geplant – und genehmigt.

Die Erde steht beim Klimawandel grossen Herausforderungen gegenüber. Trotz aller Vereinbarungen und Versprechen nutzen wir aber verstärkt fossile Brennstoffe. Alle grossen Ölkonzerne planen die Erschliessung neuer Öl- und Gasvorkommen für die nächsten Jahrzehnte, trotz «Netto-null»-Versprechen.

Das berichtet die BBC in einer Dokumentation, die unter anderem zeigt, wie in Alaska Gletscher schmelzen und gleichzeitig nach Öl gebohrt wird. Die Sendung erschien termingerecht kurz vor Beginn der Weltklimakonferenz COP28, die diesmal in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfindet. Gastgeberin ist also eine Nation, die wie keine andere Öl und Gas exportiert und damit reich geworden ist.

Wie die Ölmultis die Klimaziele ignorieren

Einhalten könne die Welt das 1,5-Grad-Ziel nur, wenn man sich mit den bisher gefundenen fossilen Energiereserven begnügen und keine neuen Bohrungen planen würde, erklärt Fatih Birol, der Leiter der Internationalen Energieagentur IEA.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache, heisst es in der BBC-Dokumentation. Fast alle grösseren Öl- und Gasunternehmen der Welt planen die Erschliessung neuer Vorkommen, während der Verbrauch fossiler Brennstoffe stetig steigt.

Nils Bartsch, Leiter des Projekts gogel (Global Oil and Gas Exit List) des Vereins Urgewald hat die Zahlen dazu. Gogel hat zusammengetragen, wie weit die Überproduktion der grössten Öl-Multis über das 1,5-Grad-Ziel hinausgeht. «Sie suchen alle weiter nach Öl und Gas?», fragt BBC-Reporter Richard Bilton perplex. «Ja, alle», versichert Bartsch.

Von 700 untersuchten Unternehmen planen 675 die Erschliessung neuer Öl- und Gasfelder. Dies sind die grössten:

gogel overproduction graph
Lesebeispiel: Die grössten Fördermenge an Öl und Gas, die über das 1,5-Grad-Ziel hinausgeht, plant Petrobras. Am meisten Geld gibt PetroChina dafür aus.

Für diese Entwicklung sind nicht nur Öl-Konzerne verantwortlich, sondern auch Regierungen. Neuerschliessungen müssen von den Ländern genehmigt werden, auf deren Territorium sie stattfinden. Von den Regierungen der USA beispielsweise oder von Grossbritannien. Laut «Unearthed» liegt ein Viertel aller Neuerschliessungen in Grossbritannien sogar in geschützten Meeresgebieten.

Die Emirate wiederum wollen die Klimakonferenz sogar zum Vorbereiten neuer Öl-Geschäfte nutzen, deckte die BBC auf.

Da hilft es auch nichts, dass Sarah Finch aus Surrey, England, es nicht glauben kann, dass nach dem 40-Grad-Sommer auf dem Hügel um die Ecke ein weiteres Bohrloch entstehen soll. BBC-Reporter Bilton interviewt den Klimawissenschaftler Brian Hoskin und die indische Atmosphären-Wissenschaftlerin Uma Bhatt. Beide gehen davon aus, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht erreichbar ist.

Die von den weltgrössten Petro-Konzernen laut BBC/gogel derzeit geplante Überproduktion in Zahlen, die keines der Unternehmen bestreitet:

  • Saudi Arabian Oil Company: 1,5 Milliarden Barrel
  • National Iranian Oil Company: mehr als 3 Milliarden Barrel
  • Abu Dhabi National Oil Company: 7 Milliarden Barrel
  • ConocoPhillips: 1,6 Milliarden Barrel
  • Chevron: 2,8 Milliarden Barrel
  • Gazprom: 3,7 Milliarden Barrel
  • PetroChina und Exxon Mobil: 3 Milliarden Barrel

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Grosse Ehre für den Freiburger Trainer Laurent Meuwly

Laurent Meuwly wird eine grosse Ehre zuteil. Der Freiburger wird von World Athletics mit dem sogenannten Coaching Achievement Award ausgezeichnet.

Meuwly erhält den Preis für seine erfolgreiche Arbeit als Leiter der Sprint-, Hürden- und Staffel-Abteilung im nationalen Verband der Niederlande. In seiner Funktion arbeitet er unter anderen mit der 400-m-Hürden-Weltmeisterin Femke Bol zusammen.

Vor seinem vor viereinhalb Jahren vollzogenen Wechsel in die Niederlande war Meuwly im Schweizer Verband als Cheftrainer Sprint/Hürden tätig gewesen.

Mit dem Coaching Achievement Award werden Trainer ausgezeichnet, die herausragende Leistungen erbringen und einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung, Förderung und Stärkung des Coachings auf allen Ebenen der Leichtathletik leisten.

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Ab 1. Januar 2024: Gewerkschaften fordern fünf Prozent mehr Lohn

Drei Gewerkschaften haben eine Petition mit mehr als 4000 Unterschriften beim Staatsrat eingereicht. Sie verlangen darin auf Anfang 2024 eine Lohnerhöhung von fünf Prozent.

Der Verband des Personals öffentlicher Dienste Freiburg (VPOD), die Föderation der Personalverbände der Staatsangestellten des Kantons Freiburg (Fede) und der Verband der Organisationen des Personals der Freiburger sozialen Institutionen (Vopsi) haben am Montagmorgen dem Staatsrat eine Petition mit über 4000 Unterschriften übergeben. Darin fordern die Gewerkschaften den Staatsrat dazu auf, die Löhne ab dem 1. Januar 2024 um fünf Prozent zu erhöhen. Das schreiben die Gewerkschaften in einer gemeinsamen Medienmitteilung. Die Staatskanzlei bestätigte den Eingang der Petition in einer separaten Medienmitteilung.

(Quelle: FN) Link zum Originalpost

Einigung auf Vernichtungsverbot unverkaufter Kleidung in der EU

Grössere Händler dürfen unverkaufte Kleidung in der EU künftig nicht mehr vernichten. Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Staaten einigen sich in der Nacht zu Dienstag zudem darauf, dass die EU-Kommission das Verbot auf weitere Produkte ausweiten kann.

Für kleine Unternehmen gibt es Ausnahmen, für mittlere Unternehmen eine Übergangsfrist von sechs Jahren, teilten die beiden Verhandlungsseiten mit. Grundsätzlich soll das Verbot zwei Jahre nachdem die Verordnung in Kraft getreten ist, angewendet werden.

Parlament und EU-Staaten müssen der Einigung noch offiziell zustimmen, das gilt aber als Formsache. Hintergrund des neuen Verbots ist ein Vorschlag der EU-Kommission aus dem März 2022 zur sogenannten Ökodesign-Verordnung. Damit sollen Produkte länger halten, sich leichter wiederverwenden, reparieren und recyceln lassen und weniger Ressourcen wie Energie und Wasser verbrauchen.

Welche konkreten weiteren Vorgaben für einzelne Produkte kommen, steht noch nicht im Detail fest. Die Vereinbarung besagt, dass die EU-Kommission rechtlich verbindliche Vorgaben erlassen kann, um Waren wie Möbel, Reifen, Waschmittel, Farben oder Chemikalien umweltfreundlicher zu machen. Aber auch zahlreiche Rohstoffe wie Eisen, Stahl oder Aluminium sollen künftig entsprechend reguliert werden. Ausnahmen sind etwa für Autos oder militärische Produkte vorgesehen.

Die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses im EU-Parlament, Anna Cavazzini (Grüne), betonte, künftig gebe es ausserdem einen Reparaturindex. Mit diesem könnten Verbraucherinnen und Verbraucher beim Kauf erkennen, wie leicht sich ein Produkt reparieren lasse.

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UN: Zahl der in Gaza getöteten Zivilisten «nimmt rapide zu»

Die Ausweitung der israelischen Angriffe im Süden des Gazastreifens führt nach Angaben der Vereinten Nationen zu immer mehr Todesopfern unter der Zivilbevölkerung.

«Die Zahl der getöteten Zivilisten nimmt rapide zu», schrieb der Generalkommissar des Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, am Montag (Ortszeit) in einer Mitteilung. Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Ältere, Kranke und Menschen mit Behinderungen, seien die Hauptleidtragenden des Krieges. Mit der Wiederaufnahme der Militäroperation und ihrer Ausweitung im Süden Gazas «wiederholen sich die Schrecken der vergangenen Wochen», beklagte Lazzarini.

Das Bombardement der israelischen Streitkräfte dauere an, nachdem ein weiterer Evakuierungsbefehl zur Verlegung von Menschen aus der Stadt Chan Junis nach Rafah erlassen worden sei. «Dieser Befehl löste Panik, Angst und Unruhe aus», hiess es. Mindestens 60 000 weitere Menschen seien gezwungen worden, in bereits überfüllte UNRWA-Unterkünfte umzuziehen, weitere würden um Schutz bitten, schrieb Lazzarini weiter. Viele der Menschen seien bereits mehrmals vor dem Krieg in andere Teilen des abgeriegelten Gebiets geflohen.

Der Evakuierungsbefehl dränge die Menschen auf weniger als ein Drittel des Gazastreifens zusammen. «Sie brauchen alles: Nahrung, Wasser, Unterkunft und vor allem Sicherheit. Die Strassen in den Süden sind verstopft», hiess es. Behauptungen, die Vereinten Nationen verfügten über Tausende von Zelten und plane die Eröffnung neuer Flüchtlingslager in Rafah, seien falsch, erklärte der UN-Vertreter. Kein Ort in Gaza sei sicher, weder im Süden noch im Südwesten, weder in Rafah noch in irgendeiner ausgewiesenen «sicheren Zone».

Die israelische Armee hat eine Evakuierungskarte aktiviert, die den Gazastreifen in Hunderte kleiner Zonen unterteilt, um die Zivilisten über Kampfzonen zu informieren. Kritiker beklagen jedoch, dass die Menschen vielfach weder Strom noch Internet hätten, um sich die Karte anzusehen. Viele wüssten auch nicht, wie sie mit ihr umgehen sollten. Im Süden Gazas drängen sich Hunderttausende Palästinenser, die auf Israels Anweisung aus dem Norden des Gebiets dorthin geflohen waren.

Auslöser des Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt haben. Auf israelischer Seite sind in der Folge mehr als 1200 Menschen getötet worden, darunter mindestens 850 Zivilisten.

Bei den israelischen Gegenangriffen sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums inzwischen fast 15 900 Menschen getötet worden. Die Opferzahlen lassen sich gegenwärtig nicht unabhängig überprüfen, die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten.

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Schweizer Hotels auch im Oktober besser ausgelastet

Die Schweizer Hotels haben auch im Monat Oktober mehr Buchungen verzeichnet. Die Übernachtungen stiegen um 2,7 Prozent auf 3,33 Millionen. Damit bleibt die Branche nach der Sommersaison im laufenden Jahr auf Rekordkurs.

Der Anstieg ist vor allem den ausländischen Touristen zu verdanken. Diese sorgten für 14,3 Prozent mehr Übernachtungen als im Vorjahresmonat, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) am Dienstag bekannt gab. Bei den Schweizer Gästen nahmen die Buchungen dagegen um 5,8 Prozent ab.

Insgesamt kamen so von Januar bis Oktober 36,2 Millionen Übernachtungen zusammen. Das sind 9,2 Prozent mehr als vor einem Jahr. Damit sind die Schweizer Hotels weiterhin auf gutem Weg, den Rekord aus dem letzten Vor-Coronajahr 2019 zu brechen. Damals hatte es 39,6 Millionen Übernachtungen gegeben.

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Forscher identifizieren Weine anhand des chemischen Fingerabdrucks

Genfer Forscherinnen und Forscher können die genaue Herkunft eines Weins anhand seiner chemischen Signatur bestimmen. Damit ist ihnen gelungen, woran sich zuvor schon viele Fachleute versucht hatten, teilte die Universität Genf am Dienstag mit.

Diese Technologie könnte laut der Universität dazu beitragen, Weinfälschungen zu verhindern.

Gelungen ist den Forschenden die Identifikation von Rotwein durch die Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) bei vorhandenen Daten. Wie sie in einer Studie im Fachblatt «Communications Chemistry» zeigten, konnten so 80 Weine aus aus sieben Weingütern in Bordeaux (F) und mit zwölf verschiedenen Jahrgängen (1999-2007) mit einer Genauigkeit von 100 Prozent bestimmt werden.

Die KI erkennt Muster in der komplexen Mischung aus Tausenden von Molekülen, aus denen jeder Wein besteht. Die Konzentrationen dieser Moleküle variieren von Wein zu Wein. Sie können von kleinsten Unterschieden beeinflusst werden, etwa von der Rebsorte, von der Beschaffenheit des Bodens, auf der Trauben gewachsen sind, oder von der Arbeitsweise der Winzerinnen und Winzer. So entsteht für jeden Wein eine Art chemischer Fingerabdruck.

«Nadel im Heuhaufen»

Unterschiede zwischen verschiedenen Weinen in diesen Fingerabdrücken, der chemischen Signatur, zu erkennen, sei wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, erklärte Studienautor Alexandre Pouget von der Universität Genf in der Mitteilung. Denn ein so genanntes Chromatogramm, eine chemische Analyse eines Weins, besteht laut den Forschenden aus bis zu 30’000 verschiedenen Punkten.

Mit KI konnte das Forschungsteam der Universität Genf zusammen mit Forschenden der Universität Bordeuax das gesamte Chromatogramm von Weinen analysieren und dieses in einem Diagramm mit zwei Achsen darstellen.

Spektrum bestimmt Identität

Im Diagramm waren dann Wolken aus Punkten zu sehen, wie die Forschenden in der Mitteilung erklärten. Jede dieser Wolken gruppierte verschiedene Jahrgänge von Weinen eines bestimmten Weinguts aufgrund ihrer chemischen Ähnlichkeiten.

«Damit konnten wir zeigen, dass jedes Weingut seine eigene chemische Signatur hat», sagte Mitautorin Stéphanie Marchand von der Universität Bordeaux in der Mitteilung. Bei ihren Analysen stellten die Forscherinnen und Forscher ausserdem fest, dass die chemische Identität dieser Weine nicht durch die Konzentration einiger weniger spezifischer Moleküle bestimmt wird sondern durch ein breites chemisches Spektrum.

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Die «Herzkammer» der Hamas hat sich in Luft aufgelöst

Urs P. Gasche /  Israel rechtfertigte den Angriff auf das grosse Al-Shifa-Spital mit der Behauptung, es beherberge eine Kommandozentrale der Hamas.

Grosse Medien haben vorschnell die Darstellung des israelischen Militärs übernommen, ohne diese überprüfen zu können. Nach der militärischen Besetzung des Spitals titelten die Tamedia-Zeitungen «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» am 16. November mit grossen Buchstaben: «Israelische Soldaten stürmen die Herzkammer der Hamas – Israels Armee hat die Klinik in Gaza-Stadt erobert». 

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Schlagzeile in Tamedia-Zeitungen vom 16.11.2023

Erst im Verlauf des Artikels buchstabierten die Zeitungen auf «vermutlich» zurück. Israels Truppen seien bereit, «in die mutmassliche Herzkammer ihrer Macht vorzurücken, also in jenes Kommandozentrum, das in Bunkern und Tunneln unter dem Spital vermutet wird.» Noch befänden sich ungefähr 2000 Zivilisten, darunter etwa 660 Patienten im Spitalkomplex.

Bereits am 11. November hatte die «Frankfurter Rundschau» gemeldet: 

«Kein Wasser, kaum Strom und Essen aus Konservendosen, das längst nicht für alle reicht: Als ‹katastrophal› beschreibt der Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses die Lage in der grössten Klinik des Gazastreifens. Nachdem bei Luftangriffen ein Generator beschädigt wurde, fiel der Strom aus, behandelt wurde dann teils bei Kerzenlicht. Mehrere Beatmungsgeräte konnten nicht mehr am Laufen gehalten werden, erzählt der leitende Arzt.» 

In den Social Media hatte ein norwegischer Arzt, der seit vielen Jahren in Gaza arbeitet, Israel aufgefordert, die Bomben zu stoppen: «Wenn die Hamas eine Kommandozentrale im Innern des Spitals hätte, müsste ich es wissen.»

Recht auf grösstmöglichen Schutz

Die fundamentalistische Terrororganisation Hamas foutiert sich komplett um das humanitäre Völkerrecht. Das haben der Terroranschlag in Israel und das Halten von Geiseln erneut in krasser Weise gezeigt. Israel hat das Recht, die Führung der Hamas und ihre fast nur männlichen Kämpfer auszuschalten. 

Doch «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist nicht erlaubt. Israel muss das humanitäre Völkerrecht respektieren. Freilich ist dies in einem dicht besiedelten Gebiet, in dem die Hamas zivile Einrichtungen als Schutzschild benutzt, eine äusserst schwierige Aufgabe. Trotzdem haben insbesondere die 1,5 Millionen Frauen und Minderjährigen – 70 Prozent der Bevölkerung – ein Recht auf grösstmöglichen Schutz.

Israel ist verpflichtet, so vorsichtig wie möglich vorzugehen. Das grösste Spital im Gazastreifen anzugreifen und zum Schliessen zu zwingen, hat das 1. Protokoll zum humanitären Völkerrecht ohne Zweifel mit Füssen getreten. Nach Angaben der WHO sind 26 von 36 Spitälern im Gazastreifen wegen Schäden durch die Kampfhandlungen oder wegen Treibstoffmangels geschlossen.

Humanitäres Völkerrecht: Es braucht einen «unmittelbaren militärischen Vorteil»

Die israelische Armee griff den grössten Spitalkomplex Al-Shifa im Gazastreifen mit rund 600 Betten und einer Intensivstation militärisch an und drang am 15. November ins Spital ein. Strom und Versorgung waren längst unterbrochen. Begründung der Armee: Im oder unter dem Spital befände sich eine Kommandozentrale der Hamas und im Spital würden Geiseln versteckt. Diese Behauptungen machten einige Medien zu ihrer eigenen und betonten, dass ein zum Militärstützpunkt missbrauchtes Spital völkerrechtlich angegriffen werden darf.

Es geht um das Genfer Völkerrechts-Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte, das auch Israel unterzeichnet hat. In Artikel 18 heisst es: «Zivilspitäler, die zur Pflege von Verwundeten, Kranken, Schwachen und Wöchnerinnen eingerichtet sind, dürfen unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden.» Gemäss Artikel 19 darf «der Schutz nur aufhören, wenn sie [die Zivilspitäler] ausserhalb ihrer humanitären Aufgaben zur Begehung von Handlungen verwendet werden, die den Feind schädigen». Allerdings verbietet Artikel 51 des ersten Zusatzprotokolls von 1977 das Beschädigen ziviler Objekte [wie Spitäler], wenn die Angriffe «in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen».

Generell sind «Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder gegen Zivilpersonen als Repressalie verboten».

Um einen Angriff auf den Al-Shifa-Spitalkomplex zu rechtfertigen, hätte Israel handfeste Beweise haben müssen, dass es aus dem Spitalgelände mit Raketen angegriffen wird, dort Geiseln festgehalten werden und die Hamas auf dem Spitalgelände eine Kommandozentrale eingerichtet hat. Selbst eine Kommandozentrale zehn Meter im Untergrund hätte keine Bombardierung des Spitals erlaubt, weil die Zentrale damit nicht hätte zerstört werden können. 

«Anders als erwartet»

Al-Shifa-Krankenhauskomplex
Al-Shifa-Krankenhauskomplex in Gaza-City

«Anders als erwartet», räumte die israelische Armee nach der Besetzung des Spitals ein, habe sie «keine Hinweise gefunden, dass sich Geiseln im Spital befanden». Nach dem Terroranschlag hatte das «Jewish News Syndicate» berichtet, zwei entführte Thailänder seien ins Spital gefahren worden. Offensichtlich waren sie nicht mehr dort.

Unter dem Spital fand die Armee einen der unzähligen Tunnels, welche die Hamas durch halb Gaza zog. Er wurde wahrscheinlich benutzt, um verletzte Terroristen im Spital zu versorgen. Eine Kommandozentrale oder Reste davon fand die Armee offensichtlich nicht. Sie zeigte den Medien lediglich einen leeren Tunnel und eine Reihe Gewehre ohne Angabe des genauen Fundorts. Man kann davon ausgehen, dass die Armee handfeste Beweise für eine Kommandozentrale medienwirksam verbreitet hätte.

Noch fünf Tage nach der Eroberung des Spitalgeländes meldete die NZZ vorsichtig: «Videoaufnahmen weisen auf ein Tunnelsystem der Hamas unter dem grössten Spital im Palästinensergebiet hin. Die Armee habe Aufnahmen veröffentlicht, die eine Wendeltreppe zeigt, die mehrere Meter in die Tiefe führt und in einem langen Gang mit Betonwänden ende. Israel-Korrespondentin Andrea Spalinger am 20. November: «Laut der israelischen Armee befindet sich unter dem Shifa-Spital ein Hauptquartier der Hamas.» Sie hätte auch etwas skeptischer im Konjunktiv schreiben können: «Die israelische Armee sagt, unter dem Spital befinde sich ein Hauptquartier».*

Anstatt von Israels Militär handfeste Beweisen für eine Kommandozentrale zu verlangen, titelte die «NZZ» am 21. November «Viele Indizien sprechen für eine militärische Nutzung». Der Untertitel allerdings buchstabierte zurück: «Ob sich unter dem Shifa-Spital tatsächlich ein Hamas-Hauptquartier befindet, bleibt unklar.»

Die Tamedia-Zeitungen schrieben nicht mehr von der «Herzkammer der Hamas», sondern nur noch von einem «Versteck». Am 24. November war der grosse Titel ein Zitat: «Liebe Welt, ist das Beweis genug?» Die zitierte Frage stammte offensichtlich vom israelischen Militärsprecher, denn der Untertitel lautete: «Hamas-Versteck unter Gaza-Spital: Israel ist nach eigenen Angaben fündig geworden. Unter dem Al-Shifa-Spital befinden sich Militäranlagen und Wohnräume für Terroristen.»

Einen Tag später, 25. November, informierte die «NZZ» – allerdings versteckt unter dem Titel «Hamas lässt israelische Geiseln frei: 

«Die Armee hatte die Besetzung des Spitals damit begründet, dass sich darunter eine wichtige Hamas-Kommandozentrale befinde. Zwar fand sie einen Tunnel mit einem Schutzraum. Einen Beweis für die Existenz der Kommandozentrale erbrachte sie bis zuletzt aber nicht. Vor ihrem Abzug aus dem Spital sprengten die Soldaten den Tunnel.»

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*Hier stand zuerst «Wohlgemerkt: ‹Befindet» sich, nicht «befinde› sich.


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Erkältungswelle: Spitalhygieniker erinnern ans Gurgeln

Martina Frei /  Aroniasaft, Salbeitee oder grüner Tee für Schulkinder, Mundwässer mit ätherischen Ölen oder verdünnte Jodlösung für Erwachsene.

Dieser Artikel erschien erstmals am 15.1.2023. Angesichts der jetzigen Erkältungswelle publiziert die Redaktion ihn nochmals.

Die «Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene» (DGKH) hat mehrmals an den Nutzen des Gurgelns erinnert, um Erkältungen vorzubeugen oder sie zu verkürzen. Es sei eine «bisher vernachlässigte Präventionsreserve», schreibt die DGKH. Angesichts der Erkältungswelle hier der aktualisierte Erkenntnisstand und die Empfehlungen:

  • Vorbeugendes Gurgeln (möglichst dreimal täglich) mit sogenannter hypertoner Kochsalzlösung kann die Dauer einer Grippe signifikant verkürzen und die Zahl der Haushaltsmitglieder, die sich anstecken, etwa um einen Drittel senken. 
    Rezept zur Herstellung einer hypertonen Kochsalzlösung: 20 Gramm Salz in einem Liter Wasser drei Minuten kochen, abkühlen lassen und damit gurgeln. Jeweils frisch zubereiten.
  • Gurgeln mit grünem Tee reduzierte in Studien die Anzahl der Personen, die an Grippe erkrankten, etwa um einen Drittel, verglichen mit Menschen, die bloss mit Wasser oder gar nicht gurgelten. Salbeitee ist ebenfalls geeignet (circa drei Gramm Salbeiblätter mit 150 Milliliter kochendem Wasser aufbrühen und zehn Minuten ziehen lassen).
  • Verdünnte PVP-Jod-Lösung (0,5-prozentige oder einprozentige Lösung), eine Minute lang als Mundspülung angewendet, hat eine noch stärkere Wirkung gegen Sars-CoV-2. Der Virusgehalt im Speichel von Infizierten war danach mehrere Stunden lang tiefer.
  • Geeignet zum Gurgeln sind auch Mundwasser mit ätherischen Ölen, zum Beispiel «Listerine» (ob mit oder ohne Alkohol spielt keine Rolle). Möglichst dreimal täglich gurgeln und zusätzlich nach geselligen Zusammenkünften oder gemeinsamem Essen. Sie sind auch für Personen, die kein Jod vertragen, eine gute Ausweichmöglichkeit.
  • Ein Nasenspray mit der aus Rotalgen gewonnenen Substanz Carragelose (zum Beispiel Algovir®) verminderte sowohl die Anzahl der Patienten mit Erkältungssymptomen als auch die Dauer der Erkältung mit Schnupfen-, Grippe- oder Coronaviren. Möglichst dreimal täglich anwenden, ausserdem nach dem gemeinsamen Essen oder nach geselligem Beisammensein. Eine Alternative ist ein Nasenspray mit hypertoner Kochsalzlösung (Rezept siehe oben).
  • Noch wirksamer als Carragelose sei vermutlich ein Nasenspray mit 0,23-prozentiger PVP-Jod-Lösung.
    Rezept zur Herstellung der 0,23-prozentigen Lösung: Einen Teelöffel Betadine® desinfizierendes Gurgelkonzentrat in 100 Milliliter lauwarmem Trinkwasser verdünnen.
  • Wer mit einer Covid-kranken Person ungeschützt Kontakt hatte, dem empfehlen die Fachleute der DGKH 14 Tage lang mit einem Mundwasser auf Basis ätherischer Öle zu gurgeln und ausserdem einen Nasenspray mit 1,25-prozentiger PVP-Jodlösung anzuwenden.
    Rezept zur Herstellung der 1,25-prozentigen Lösung: Drei Teelöffel Betadine® desinfizierendes Gurgelkonzentrat in 100 Milliliter lauwarmem Trinkwasser verdünnen.
    Wer – zum Beispiel wegen einer Allergie oder einer Schilddrüsenerkrankung – kein Jod verträgt und auch keine Allergie gegen Chlor hat, kann auf einen Nasenspray mit Hypochlorit ausweichen.
  • Kinder sind etwa ab dem Schulalter mit einiger Übung in der Lage, zu gurgeln. Für sie eignen sich Aroniasaft, Salbeitee oder grüner Tee. 

Die ausführliche Empfehlung der DGKH ist hier nachzulesen. Ein anderer, dort nicht erwähnter Tipp sind Nasenspülungen bei Schnupfen. Solche Spülungen mit hypertoner Kochsalzlösung schwemmen ebenfalls Viren heraus, beseitigen Schleim und unterstützen den natürlichen Selbstreinigungsmechanismus der Schleimhäute. In diesem Video (unten auf der Website) wird gezeigt, wie es geht. Eine andere Variante ist das Spülen mittels Nasendusche, hier unter dem Stichwort «Therapie» abgebildet und beschrieben.


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Nachgewogen: Der häufigste Foodwaste waren Rüebli

Daniela Gschweng /  Zwei Aargauer Gemeinden haben dokumentiert, wie viele Lebensmittel sie wegwerfen. Das Interesse an den Ergebnissen ist gross.

Ein Drittel der Lebensmittelverschwendung in der Schweiz fällt in privaten Haushalten an. Rund 90 Kilogramm noch essbare Lebensmittel landen pro Jahr im Abfall, sagt die offizielle Statistik des BAFU. Zwei Aargauer Gemeinden haben im September nachgemessen.  

35 Haushalte mit insgesamt 76 Personen wogen in einem Citizen-Science-Projekt des Kantons Aargau sieben Tage lang, was sie wegwarfen. 32 Kilogramm noch essbare Lebensmittel landeten in den Gemeinden Rheinfelden und Wallbach im Abfall.  

Hochgerechnet und geglättet werfen die beiden Gemeinden pro Person und Jahr 26,6 Kilogramm Lebensmittel weg. Deutlich weniger als der Schweizer Durchschnitt von 90 Kilogramm, rechnete Linda Münger, Projektleiterin des unterstützenden Unternehmens Catta, bei der Abschlusspräsentation des Projekts «Aufgabeln» am 9. November vor. Verursachten alle Einwohner:inne der Schweiz diese 26,6 Kilogramm Foodwaste, käme man auf 230’000 Tonnen im Jahr. Die offizielle Zahl des Bundesamts für Umwelt liegt bei 790’000 Tonnen.

Meistens Rüebli, gefolgt von welkem Salat

Besonders häufig warfen die teilnehmenden Haushalte Rüebli und deren Rüstabfälle weg, gefolgt von welkem Salat und Hafermilch. Letztere sei aber eher ein statistischer Aussreisser, weil 1,7 Liter Hafermilch wegen der kurzen Projektdauer sehr zu Buche schlugen. Mit 52 Prozent der Gesamtmenge machten Gemüse und Obst den grössten Anteil des Abfalls aus.

Rüstabfälle sind essbarer Müll und zählen zum Foodwaste, genauso wie beispielsweise Blumenkohlstrünke, Radieschenblätter, Saft aus Konservendosen oder Öl in Sardinendosen.

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Als am umweltschädlichsten stellten sich aber ohnehin 1139 Gramm Schweinefleisch und Wurst heraus, die während der Projektwoche im Abfall landeten.

Am meisten Essen warfen Einpersonenhaushalte und Wohngemeinschaften weg, am wenigsten Alleinerziehende. Meist deshalb, weil sie das Weggeworfene unappetitlich fanden oder noch essbare Rüstabfälle wegwarfen (37 Prozent), Lebensmittel verdorben waren (27 Prozent), sie zu viel gekocht hatten oder noch Reste in der Packung waren (18 Prozent). Erfasst wurde der Abfall mit einer App der Universität Zürich, die für «Aufgabeln» angepasst wurde.

Aargauer Projekt füllt eine Lücke

Die Ergebnisse des Aargauer Projekts sind nicht repräsentativ und haben nur kleinen wissenschaftlichen Nutzen, dazu ist unter anderem die Projektdauer zu kurz und die Stichprobe zu klein. Hochrechnungen auf die nationale Ebene haben also eher Beispielcharakter. Als Kritikpunkt vorgetragen wurde auch, dass an solchen Erfassungen Teilnehmende während des Projekts womöglich unbewusst oder absichtlich ihr Konsumverhalten ändern.

Dennoch füllt das Projekt eine klaffende Lücke. Bisher gibt es wenig Daten über Foodwaste und noch weniger zu privaten Haushalten in der Schweiz. Nationale Zahlen zur Lebensmittelverschwendung stammen teilweise von 2017. Insgesamt stammen laut der UN-Ernährungsorganisation FAO acht bis zehn Prozent der weltweit produzierten Treibhausgase aus weggeworfenem Essen.

Entsprechend gross sei das Interesse an «Aufgabeln», sagt Franziska Ruef vom Aargauer Departement Bau, Verkehr, Umwelt, die das Projekt initiiert, geleitet und sich dazu breit vernetzt hat. Bei der Durchführung half das Startup Catta, das Citizen-Science-Projekte begleitet.

Lob vom Foodwaste-Meister der Schweiz

«Gute Arbeit», lobte der Wissenschaftler Claudio Beretta, der das Projekt mit unterstützte. Ein Lob, das Gewicht hat. Kaum jemand in der Schweiz dürfte mehr Erfahrung in der Erfassung von Lebensmittelverschwendung haben.

Beretta legte 2019 mit seiner Masterarbeit die erste nationale Foodwaste-Schätzung vor, die die Grundlage für die Publikation des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) bildete.

«Als ich 2017 mit der Masterarbeit anfing, konnte ich es selbst nicht glauben», sagt Beretta, der an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zu Foodwaste forscht. «In anderen Forschungsgebieten ist es kaum möglich, alle Studien zu lesen, die bereits zum Thema publiziert wurden. Beim Thema Foodwaste gab es eine einzige Studie in der Schweiz, die Gastroabfälle im Kanton Aargau untersucht hatte. Das war alles.»

Die Daten, die einiges ins Rollen brachten

Die Daten, die Beretta zusammengetragen hat, seien relativ grobe Schätzungen, sagt er selbst. Was unter anderem an der unterschiedlichen Art der Erfassung in verschiedenen Branchen liege. Aber sie zeigten den Handlungsbedarf auf und lösten einiges aus. Unter anderem verabschiedete der Bundesrat 2022 den nationalen Aktionsplan Foodwaste, mit dem die Schweiz bis 2030 die Lebensmittelverschwendung gegenüber 2017 halbieren will. Dazu braucht es jedoch dringend eine bessere Erfassung der Lebensmittelverschwendung im Land.

Mit ChatGPT und Einkaufsliste gegen Verschwendung

Aktuelle Daten und politische Massnahmen wie Transparenz- und Verwertungspflichten sind das eine, fanden die Versuchsteilnehmer:innen in Rheinfelden abschliessend. Darüber hinaus haben sie zahlreiche Ideen, wie Foodwaste im Haushalt reduziert werden kann.

Darunter finden sich bekannte Tipps und Verhaltensregeln, wie weniger und dafür öfter einzukaufen oder Lebensmittel an Nachbarn weiterzugeben, aber auch moderne technologische Hilfsmittel, wie die App «Too Good To Go», mit der Betriebe nicht Verkauftes kurz vor Ladenschluss verbilligt abgeben können. Vorgeschlagen wurden auch Kochrezepte von ChatGPT für die Reste im Kühlschrank und «smarte» Kühlschränke oder Apps, die daran erinnern, dass etwas verdirbt.

Konkrete Pläne, das Projekt «Aufgabeln» zu wiederholen oder auf andere Gemeinden auszudehnen, gebe es bisher nicht, sagt Projektleiterin Ruef und verweist auf den für Anfang 2024 geplanten Abschlussbericht. Aber was nicht ist, könne ja noch werden. Infrastruktur in Form der Erfassungs-App liege ja nun vor. Eine interessierte Gemeinde habe sich bereits gemeldet. Zwei Forscherinnen von Agroscope, die die «Aufgabeln»-Präsentation besuchten, kündigten auf Nachfrage ebenfalls an, für das kommende Jahr Foodwaste-Studien in der Schweiz zu planen.  


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Corona-Lockdown: Falsche Prognosen der Regierungsberaterin

Martina Frei /  Die Physik-Professorin Viola Priesemann legitimierte strenge Massnahmen in Deutschland. Grosse Medien beriefen sich darauf.

«Die Auflagen wirken», titelte die «Süddeutsche Zeitung» im April 2020 und stützte sich dabei auf mathematische Modellrechnungen der deutschen Physikerin Viola Priesemann und ihrer Arbeitsgruppe. Diese würden «zeigen, dass die frühen Massnahmen, vor allem Schulschliessungen und Absage von Grossveranstaltungen, bereits Wirkung zeigen», schrieb die «Süddeutsche Zeitung».

Die «Massnahmen», das waren: 

  • Ab dem 8. März 2020 keine Grossveranstaltungen mehr. 
  • Ab dem 16. März 2020 Schliessung von Schulen, Kitas, allen nicht-lebensnotwendigen Läden.
  • Ab dem 22. März 2020 Mindestabstand im öffentlichen Raum zwischen zwei Menschen von mindestens 1,50 Metern, Aufenthalt im öffentlichen Raum nur allein oder mit einer weiteren Person ausserhalb des eigenen Hausstands, Schliessung von Gastronomie und zahlreichen Betrieben. 

Ganz Deutschland befand sich damals im Lockdown, sieben lange Wochen. Von Anfang an stellte sich die Frage, wie nützlich diese Massnahmen waren. 

Zu Gast bei Lanz, bei Illner und in den Nachrichten

«Wir können zeigen, dass alle drei Massnahmenpakete die Zunahme der Infektionen klar bremsen konnten. Aber erst durch das weitreichende Kontaktverbot gingen die Fälle dann deutlich zurück», zitierte «Der Spiegel» Mitte Mai 2020 Viola Priesemann unter dem Titel «So effektiv ist die deutsche Pandemie-Politik». Erst «strenge Regeln zur Kontaktbeschränkung brachten den Durchbruch» bezüglich der Infektionszahlen, hielt «Der Spiegel» fest und berief sich dabei auf Priesemanns Team: «Die Forscher legen nachvollziehbar dar, wie sich das Ergebnis der Beschränkungen jeweils etwa zwei Wochen nach ihrer Verkündung in den Fallzahlen zeigte.»

Im Idealfall lässt sich mit einem Modell, wie Priesemann es präsentierte, der weitere Verlauf der Infektionswelle vorhersagen – ein wichtiger Hinweisgeber für die Politik.

Priesemann beriet nicht nur die deutsche Regierung, die Physikerin wurde auch in den Medien zum Shooting-Star. Sie war Gast bei «Markus Lanz» und «Maybrit Illner», sie kam unter anderem in den «ARD»-Tagesthemen zu Wort, in den «ZDF» Nachrichten, in der Sendung «Berlin direkt», beim «NDR», im «Deutschlandfunk» und sie wurde in grossen Printmedien zitiert.

Doch bis zur Pandemie hatte sich Priesemann nicht – wie etwa der niederländische Mathematiker Odo Diekmann – mit Infektionsausbrüchen befasst, sondern mit Neurowissenschaft.

«Die politischen Entscheidungsträger informieren»

Am 15. Mai 2020 veröffentlichten Priesemann und ihre Kollegen ihre Modellrechnungen in der Wissenschafts-Zeitschrift «Science». «Mit diesem Ansatz können die Wirkungen von Massnahmen zeitnah beurteilt werden. Künftige Eingriffe und Lockerungen von Beschränkungen können […] modelliert werden, was kurzfristige Prognosen für die Fallzahlen ermöglicht», lobten Priesemann und ihre Kollegen ihren Ansatz. Er könne «dazu beitragen, die Effizienz von Massnahmen in anderen Ländern zu ermitteln und die politischen Entscheidungsträger hinsichtlich der Verschärfung, Lockerung und Auswahl geeigneter Massnahmen zu informieren.»

Dieser Artikel kam wie gerufen. Er legitimierte wissenschaftlich, was die deutsche Bundesregierung beschlossen hatte. Priesemanns Modellierung zeigte eindrücklich, wie die angeordneten Massnahmen die Ausbreitung des Virus stufenweise reduzierten. Damit untermauerte die Physikerin den Nutzen und Sinn des Lockdowns, der fast das gesamte öffentliche Leben in Deutschland zum Erliegen brachte.

Grafik Dehning et al, Science
Am 8., 16. und 22. März 2020 verhängte die deutsche Regierung in drei Schritten weitgehende Massnahmen zur Kontaktbeschränkung. Die Modellberechnungen von Priesemanns Gruppe zeigte, wie die Infektionsausbreitung parallel dazu in drei Schritten sank. Damit untermauerte ihr Modell die Wirksamkeit der Massnahmen.

«Dieser «Science»-Artikel ist von vorn bis hinten verkehrt. Das ist nicht haltbar. Durch das Festhalten an falschen Modellen stehen Leben auf dem Spiel.»

Simon Hegelich, Professor für politische Datenwissenschaft an der TU München

Dumm nur, dass andere Wissenschaftler nicht nachvollziehen konnten, was Priesemann und ihr Team da berechnet hatten. «Dieser «Science»-Artikel ist von vorn bis hinten verkehrt. Das ist nicht haltbar», sagt Simon Hegelich, Professor für politische Datenwissenschaft an der TU München. Er beriet während der Pandemie die Bayrische Landesregierung und habe sich intensiv bemüht, Priesemanns Modell zu bestätigen. Doch das sei ihm nicht gelungen, sagt Hegelich. Er frage sich inzwischen sogar, ob da so lange herumgepröbelt worden sei, bis das gewünschte Ergebnis herauskam. «Frau Priesemann hatte grossen Einfluss darauf, wie es in dieser Pandemie weiterging. Der «Science»-Artikel hat sicherlich auch ihrer Karriere geholfen», vermutet Hegelich. In seinem Blog legte er seine Kritik ausführlicher dar.

Priesemanns Berechnungsmodell, «liefert keinen Beweis für die Effektivität der politischen Massnahmen in Deutschland und sollte deshalb auch nicht für die Politikberatung verwendet werden. Durch das Festhalten an falschen Modellen stehen Leben auf dem Spiel», warnten Hegelich und ein Kollege im Juli 2021 in einem Online-Leserbrief an «Science».

Die Behauptung von Priesemann wurde durch Analysen anderer Wissenschaftler «nicht gestützt»

Zu den ersten Kritikern in dieser Leserbriefspalte gehörte auch Helmut Küchenhoff, Professor am Institut für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Küchenhoff und seine Kollegen wiesen darauf hin, dass die Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) etwas ganz anderes zeigten als Priesemanns Berechnungen. Laut dem RKI waren die Fallzahlen schon ab dem 19. März 2020 rückläufig, als Priesemanns Modell noch einen Anstieg zeigte.

Die Behauptung von Priesemann, der Lockdown vom 22. März sei nötig gewesen, um die Infektionsausbreitung zu stoppen, «wird durch unsere Analyse nicht gestützt», so das Fazit in einem von Küchenhoff und weiteren Wissenschaftlern im März 2021 publizierten Artikel in «Epidemiology & Infection». Ihre Analyse zeigte stattdessen klar, dass die exponentielle Ausbreitung bereits zwischen dem 9. und dem 13. März endete – also zum Zeitpunkt, als Massenveranstaltung abgesagt wurden und kurz nachdem die deutsche Regierung eindrücklich an die Bevölkerung appelliert hatte, Abstand zu halten.

Ein wichtiger Unterschied in den Analysen: Küchenhoff berücksichtigte bei seinen Berechnungen auch den Symptombeginn, Priesemann dagegen stützte sich auf das Meldedatum der Infektionen. Zwischen beidem können mehrere Tage Verzögerung liegen. 

Schwere Kritik auch von «Corona-Kritikern»

Der Geograf Thomas Wieland vom Karlsruher Institut für Technologie widerlegte Priesemann ebenfalls. Seine Berechnungen in «Safety Science» zeigten, dass die Infektionszahlen in Deutschland schon im ersten Märzdrittel zurückgingen – «etwa eine Woche vor der Schliessung von Schulen und Kindertagesstätten und zwei Wochen vor Inkrafttreten des Lockdowns». Hätten die Schulschliessungen gewirkt, dann wären die Infektionszahlen ab dem 16. März 2020 stärker zurückgegangen, als dies tatsächlich der Fall war, argumentierte Wieland. Damit sei fraglich, ob das zweite und das dritte Massnahmenpaket der deutschen Regierung nötig gewesen sei. 

Dasselbe kritisierten sehr früh auch mehrere Wissenschaftler, die als «Corona-Kritiker» diffamiert wurden. Lege man den Symptombeginn zugrunde, dann seien weder Schulschliessungen noch Lockdown nötig gewesen, um das exponentielle Wachstum zu stoppen. Die Kernaussage von Priesemanns Artikel sei damit hinfällig und ihre Studie «fehlerhaft», doppelten Christof Kuhbandner, Stefan Homburg, Harald Walach und Stefan Hockertz in der Zeitschrift «Futures» nach. Dort warfen sie Priesemann und ihren Co-Autoren «Selbst- und Fremdtäuschung» vor: Diese Studie sei ein «klares aktuelles Beispiel dafür, wie eine schlechte Simulation zu einer gefährlichen Dissimulation wurde.» Die Ergebnisse des fehlerhaften Modells seien so «Teil der Konstruktion der Realität» geworden.

Das Modell widerspiegelte das Infektionsgeschehen «ganz schlecht»

Der wohl prominenteste Kritiker von Priesemanns Arbeit war Matthias Kreck. «Kreck ist Mathematiker. Und nicht irgendeiner: Er hat die Cantor-Medaille gewonnen, den wichtigsten Mathematikpreis Deutschlands. Er war Gründungsdirektor des Hausdorff Instituts an der Uni Bonn und acht Jahre Direktor des Mathematischen Forschungsinstituts in Oberwolfach. Mehr hochrangige Mathematiker als an diesen Orten findet man weltweit nicht so schnell», beschrieb ihn die «Berliner Zeitung» in einem Artikel. Wie Priesemann, hatte auch Kreck sich zuvor nie mit Modellberechnungen für eine Epidemie beschäftigt. 

Zunächst sei er begeistert gewesen von dem Ansatz, den Priesemann für ihre Modellrechnungen wählte und den auch «eine Fülle von chinesischen Studien benützte», wie Kreck feststellte: das sogenannte SIR-Modell. «Ich habe das dann im April 2020 mit Kollegen intensiv ausprobiert, aber es widerspiegelte das Infektionsgeschehen ganz schlecht. Wir verwarfen das SIR-Modell.»

Kreck sagt, er sei vom deutschen Virologen Christian Drosten im Frühling 2020 angefragt worden, ob er Mathematiker empfehlen könne, die sich mit der Modellierung auskennen würden. Doch von den vier Personen, die Kreck nannte, sei keiner von der Regierung angefragt worden. «Frau Priesemann war zu dem Zeitpunkt schon installiert», erinnert er sich. 

Keiner sah den treppenartigen Verlauf, den Priesemann postulierte

Dass ihre Studie in «Science» so rasch publiziert wurde, hält Kreck für übereilt. «Es dauert Jahre, um anspruchsvolle mathematische Arbeiten durch wissenschaftliche Gutachter zu prüfen. Ich kenne keine mathematische Arbeit, bei der das weniger als sechs Monate gedauert hat.»

Wie den vorgenannten Wissenschaftlern gelang es auch Matthias Kreck und seinem Berufskollegen Erhard Scholz von der Universität Wuppertal nicht, Priesemanns Ergebnis zu bestätigen, dass die drei Massnahmenschritte direkten Einfluss auf den «R-Wert» hatten. Dieser Wert gibt an, wie viele Personen sich bei einer ansteckenden Person infizieren. 

Den treppenartigen Verlauf, passend zu den drei «Massnahmenpaketen», den Priesemann in «Science» postuliert hatte, sahen weder Scholz noch Kreck, noch Wieland, noch Küchenhoff und seine Kollegen. Kreck hat dafür nur zwei Erklärungen: «Die Priesemann-Gruppe hat ihr Modell nicht an der Wirklichkeit überprüft. Oder sie hat dies nicht öffentlich gemacht.»

Viola Priesemann hüllt sich in Schweigen

Infosperber bat Professorin Viola Priesemann erstmals im Juli 2023 um eine Stellungnahme. Priesemann stand damals unmittelbar vor einer zweimonatigen Auszeit, schickte kurze Antworten in einer verschlüsselten E-Mail und stellte ein Gespräch nach ihrer Rückkehr in Aussicht. 

Erneute Nachfragen sowohl bei ihr als auch bei der Pressestelle ihres heutigen Arbeitgebers, dem Max-Planck-Institut (MPI) für Dynamik und Selbstorganisation, im November 2023 blieben jedoch erfolglos. Anstelle von Antworten Priesemanns daher hier die Antwort eines Mediensprechers des MPI vom Juli 2023: 

«Frau Priesemann beschäftigt sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit Modellierungen von komplexen Netzwerken und Phänomenen, worunter exemplarisch auch die Corona-Pandemie fällt. Nähere Informationen dazu finden Sie auf der Website ihres Labors: https://www.viola-priesemann.de/

Im Zeitraum von Mitte 2020 bis Ende 2022 hat Frau Priesemann sehr viele Anfragen bekommen; nicht nur aus der Presse, sondern auch von Kolleg*innen aus der Wissenschaft, Einzelpersonen und anderen Medienvertretern. Viele dieser Anfragen habe ich selbst begleitet, auch einige wissenschaftliche Diskussionen. Frau Priesemann hat dabei wann immer es zeitlich möglich war und weit über ein übliches Arbeitspensum hinaus auf die Anfragen reagiert und war stets um eine sachliche und wissenschaftliche Diskussion bemüht, oft im Austausch über viele Mails hinweg. Den Vorwurf, man könne mit ihr nicht in eine wissenschaftliche Diskussion kommen, kann ich daher in keiner Weise nachvollziehen, ich habe das Gegenteil beobachtet (auch von meinem Standpunkt als selbst ausgebildeter Naturwissenschaftler aus). Zu den weiteren Punkten kann ich leider nichts sagen, da sie fachlicher oder persönlicher Natur sind.»

Auf die konkrete Kritik an Priesemanns Modell ging die Pressestelle nicht ein.

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➞ Lesen Sie hier Teil 2 dieses Artikels: Wie Viola Priesemann die Kritik der Wissenschaftler erwiderte. Und was Matthias Kreck weiter erlebte. 


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Medienkompetenz ist nicht nur Publikumssache

Pascal Sigg /  Das Schweizer Publikum versteht die Medien schlecht. Eine Befragung zeigt, was falsch läuft.

Vor wenigen Wochen publizierte das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) eine Studie zur Medienkompetenz der Schweizer Bevölkerung. Die beiden Autoren Jan Fivaz und Daniel Schwarz wollten damit die Medienkompetenz der Schweizer Bürgerinnen und Bürger untersuchen.

Doch die Studie weist auch auf Probleme im Schweizer Medienangebot hin. Fivaz und Schwarz sind keine Medienwissenschaftler, sondern Politologen. Sie forschen an der Uni Bern und der Berner Fachhochschule über Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik und Demokratie.

«Zwei Resultate haben mich besonders überrascht», sagt Fivaz im Gespräch mit Infosperber. «Erstens: Die Medienkompetenz hierzulande ist eher schlechter als in Deutschland. Und zweitens: Dass über 70 Prozent der Befragten angeben, von der Informationsflut ganz oder teilweise überfordert zu sein.»

Ältere schnitten schlechter ab als Junge

Die Teilnehmenden mussten politische Informationsangebote einordnen und Screenshots von Medieninhalten bewerten. Ist ein Interview mit Christoph Blocher auf Blocher TV Journalismus? PR? Oder Unterhaltung? Wie lässt sich ein Gespräch von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis mit dem NZZ-Chefredaktor und einer NZZ-Verwaltungsrätin kategorisieren? Zudem mussten sie bewerten, ob es sich bei Medieninhalten um Information, Kommentar, Werbung oder Falschinformation handelte.

Die Studie stellt den Befragten kein gutes Zeugnis aus. Das Ergebnis sei «ernüchternd», schreiben die Autoren. «Die Befragten erreichten im Durchschnitt nur knapp sechs von 19 möglichen Punkten, was nicht einmal einem Drittel der Gesamtpunktzahl entspricht.» Dabei schnitten ältere Befragte schlechter ab als jüngere. Tendenziell besser war, wer über einen höheren Bildungsstand verfügte.

Doch die Beispiele zeigen auch, dass die Probleme nicht nur bei den Medienkonsumenten zu suchen sind. Massenmedien machen eben nicht nur kritischen Journalismus. Die Grenzen zu PR, Werbung und damit auch Manipulation sind oft undeutlich. Besonders eklatant sind die Verwischungen im Fall kommerzieller Interessen. So ist ein Werbeartikel auf 20 Minuten Online offensichtlich viel zu wenig deutlich erkennbar als «Paid Post» markiert.

Die Markierung von Werbung funktioniert ungenügend

«Gerade bei den Werbeinhalten wäre ideal, wenn es alle gleich machen würden», sagt Fivaz. Die Vielfalt an farblichen Abgrenzungen und englischen Bezeichungen wie «sponsored» oder «paid post» der Verlage förderten keine Klarheit. Trotzdem: Nur zehn Prozent finden, der Berichterstattung zu politischen Themen könne man nicht vertrauen.

Dies steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu Antworten auf allgemeiner formulierte Fragen. So sind 19 Prozent der Befragten der Meinung, dass Medien und Politik Hand in Hand arbeiten, um die Bevölkerung zu manipulieren. Gar weitere 51 Prozent glauben, dass dies zumindest teilweise der Fall ist.

Die Studienautoren geben sich ob dieser Zahlen etwas irritiert, doch sie passen zu anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Oder zu ähnlichen Befragungen aus Deutschland. Da habe sich das Misstrauen gegenüber den Medien «vorgefressen: vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, dorthin, wo sich Zeitungen und Magazine sicher wähnten – zu den Gebildeten, politisch Interessierten.» Dies schrieb das Magazin Der Spiegel bereits Anfang 2018, ein halbes Jahr vor Enthüllung des Relotius-Skandals. «Vielleicht ist nicht die politische Haltung von Journalisten das Problem, sondern eine Haltung, die es sich zu einfach macht. Dazu braucht es nicht die saubere Trennung von Nachricht und Kommentar, sondern in erster Linie Respekt.»

Achtung Beziehungsstörung

Liest man auch die Studie durch diese Beziehungsbrille, herrscht bei Schweizer Mediennutzenden nicht zuerst ein Misstrauen, das die Glaubwürdigkeit journalistischer Information infrage stellt. Sondern vielerorts eher eine Art zynisches Zweckverhältnis. Die Beziehung zwischen Medien und Bürgerinnen und Bürgern scheint eher auf einer grundsätzlicheren, existentiellen Ebene gestört. Nämlich indem die Befragten eher bezweifeln, dass die Medien sich in ihrer Beziehung zum Publikum so verhalten, wie es das Publikum gerne hätte. Dass grosse Medien beispielsweise Nutzerdaten sammeln, um diese an Werbetreibende weiterzuverkaufen oder die Berichterstattung nach ihnen auszurichten, dürfte derartige Gefühle eher verstärken.

«Noch bedenklicher» als den generellen Manipulationsverdacht stimmt die Studienautoren denn, dass 50 Prozent ganz oder teilweise der Meinung sind, dass eine funktionierende Demokratie auch ohne unabhängigen Journalismus funktionieren kann. Dazu passt, dass auch etwa die Hälfte der Befragten angab, politische Medienberichterstattung mitunter bewusst zu meiden.

Fühlt sich das Publikum manipuliert, weil die Medien Journalismus und Werbung immer häufiger vermischen und wendet es sich deshalb auch von seriösem, demokratierelevantem Journalismus ab? Fivaz will da keine Verbindung herstellen. «Wir haben das schlicht nicht explizit untersucht.» Das ist auch schwierig und die existierende Forschung zur Newsvermeidung ist sich uneinig: zu verschieden sind die Herangehensweisen und Messmethoden.

Informationsflut als Problem

Für Fivaz ist aber die Informationsflut eine Herausforderung der heutigen Medienlandschaft. Denn gar 73 Prozent sagten in der Studie, von der Masse an verfügbaren Informationen ganz oder teilweise überfordert zu sein. Dass diese gefühlte Überforderung durchaus zum Problem werden kann, ist nicht neu. Der US-Soziologe Herbert Simon erhielt 1978 den Nobel-Preis für seine Entscheidungsforschung dazu.

In ihrem Buch «Wir informieren uns zu Tode» (Herder, 2022) beschreiben der deutsche Neurologe Gerald Hüther und der Journalist Robert Burdy von der entgrenzten Aufmerksamkeitsökonomie im Netz getriebene psychologische Mechanismen. Diese bergen auch Risiken für die Demokratie.

Hüther und Burdy beschreiben sie etwa so: Der Informationsüberfluss steigert unser Bedürfnis nach Klarheit (mehr über psychologische Hintergründe in diesem früheren Artikel). Daher neigen wir dazu, Informationen zu akzeptieren, die mit unseren Voreingenommenheiten übereinstimmen. Wenn dies zur Gewohnheit wird, können diese Informationen Teile der Geschichten werden, die wir uns über uns selber erzählen. Sie werden Teil unserer Identität. Und es fällt uns möglicherweise mit der Zeit immer schwerer, Widersprüche gegen sie zu akzeptieren.

Andererseits können widersprüchliche Informationen auch einfach dazu führen, dass wir die Informationssuche aufgeben und ein Informationsbedürfnis unterdrücken. Hüther und Burdy vermuten daher, dass viele Menschen sich von der Demokratie abwenden, weil die Medienberichterstattung darüber keine Klarheit schafft.

Doch beides sind nur mögliche, individuelle Reaktionen auf die Informationsflut. Sie sind auch nicht einfach zu belegen. Ausserdem, so deuten die Buchautoren an, könnten sich Menschen auch von Informationsangeboten abwenden, ohne gerade der Demokratie den Rücken zu kehren. Und zwar weil sie sich respektlos behandelt fühlen – als bloss konsumierende Objekte statt menschlicher Subjekte. Dies sollte besonders den Medienbesitzern und -managern zu denken geben.

Machen Sie den Selbsttest?

Unabhängig davon, wie Medienkompetenz gemessen und interpretiert wird – sie ist nützlich. Die beiden Forscher Jan Fivaz und Daniel Schwarz entwickelten als Pilotversuch auch einen Online-Selbsttest. Er ist kostenlos, schärft den kritischen Blick und zeigt anschaulich, wie Medienkompetenz erforscht wird. Der Test dauert etwa 20 Minuten. Am Schluss erhält man eine Auswertung und erfährt, weshalb man richtig oder falsch lag.

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«Tägliche Willkür und Drangsalierung erträgt kein Mensch»

Red. /  Nach einem Besuch bei Palästinensern im Westjordanland hatte sich der frühere CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm betroffen gezeigt.

upg. Der schwere Terroranschlag der Hamas in Israel, der etwa 1200 Opfer forderte, darf die Diskussion über die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland nicht verstummen lassen. Stimmen wie diejenige von Norbert Blüm aus dem Jahr 2011 werden heute kaum mehr gehört. Seither haben die Regierungen unter Benjamin Netanjahu und die kurzzeitigen von Naftali Bennett und Jair Lapid die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik weiter vorangetrieben. Netanjahu wollte damit eine Zweistaatenlösung verhindern, was ihm wahrscheinlich auch gelang.

Dass die israelische Siedlungspolitik eine Lösung mit zwei Staaten obsolet machen und einen Frieden erschweren wird, war längst abzusehen. Das zeigt folgender Ausschnitt aus einer ARD-Sendung «Hart aber Fair» aus dem Jahr 2011. Ein Teilnehmer war der im Jahr 2020 verstorbene Norbert Blüm, dem wegen seiner Kritik an Israels Politik Antisemitismus vorgeworfen wurde:


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Über 700’000 Franken pro Haltestelle

Marco Diener /  Ende Jahr müssten alle Haltestellen behindertengängig sein. Die Umbauten kommen viel zu spät. Und sie sind sehr teuer.

Kaum zu glauben: Am 1. Januar 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Es schreibt vor: «Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein.» Das heisst: Behinderte sollen die öffentlichen Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe benützen können.

Anfang 2024 laufen die 20 Jahre ab. Und was haben die Bahninfrastrukturunternehmen, die Transportunternehmen, die Kantone und die Gemeinden gemacht? Nicht sehr viel. Das ist wahrscheinlich auch den Verantwortlichen bewusst. Und trotzdem üben sie sich gegenwärtig im Schönreden.

60 Prozent der Bahnhöfe

In einer gemeinsamen Medienmitteilung schreiben der Verband des öffentlichen Verkehrs, die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs, die Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz sowie der Städteverband kürzlich: «Die ÖV-Branche sowie die Kantone, Städte und Gemeinden haben viel investiert und Massnahmen umgesetzt.» So seien rund 60 Prozent der Bahnhöfe umgestaltet.

Gleichzeitig mussten aber die Verantwortlichen einräumen: «Trotz grossem Engagement und vielen Fortschritten wird vor allem die Umsetzung im Bereich der Bus-Haltekanten nicht fristgerecht erreicht werden.»

20 Prozent der Bushaltestellen

Wie gross der Rückstand ist, zeigt das Beispiel der Stadt Bern. Von insgesamt 408 Bus- und Tramhaltestellen sind erst deren 89 so umgestaltet, dass sie behindertengerecht sind. Das sind kaum mehr als 20 Prozent der Haltestellen.

Den Verantwortlichen ist bewusst, dass sie das Gesetz missachten. Sie schreiben: «Die Stadt Bern wird die gesetzlich vorgegebene Frist nicht einhalten können.» Gleichzeitig reden sie sich heraus: «Dies gilt aber auch für zahlreiche andere Schweizer Städte.»

Schlechte Gesellschaft

Offenbar ist die Stadt Bern tatsächlich in ausgesprochen schlechter Gesellschaft. Sie schreibt nämlich: «Eine Umfrage des Tiefbauamts hat gezeigt, dass in den Schweizer Städten bis Ende 2023 durchschnittlich erst jede fünfte ÖV-Haltestelle hindernisfrei ausgestaltet sein wird. Dies entspricht ziemlich genau der Situation in der Stadt Bern.»

Immerhin: Jetzt soll es vorwärts gehen. Zumindest mit nochmals gut 20 Prozent der Haltestellen. Die Stadtbehörden werden dem Stimmvolk nämlich nächstes Jahr für weitere 94 Haltestellen einen Kredit vorlegen. Doch der hat es in sich.

720’000 Franken pro Haltestelle

67,5 Millionen Franken will die Stadt für die 94 Haltestellen. Die Rechnung ist schnell gemacht: Pro Haltestelle sind das fast 720’000 Franken. Zum Vergleich: Die Immobilienberatungsfirma Wüest und Partner hat letztes Jahr die Baukosten für ein Einfamilienhaus mit fünf Zimmern und 170 Quadratmetern Fläche ermittelt. Und zwar anhand von rund 100’000 Baubewilligungen. Das Ergebnis: Die durchschnittlichen Baukosten betrugen 740’000 Franken.

Anders ausgedrückt: Der Umbau einer einzigen Haltestelle mit ein paar Randsteinen, die etwas höher sind als die bisherigen und abgerundet, mit einer Bodenmarkierung für Sehbehinderte und einem Lautsprecher für Fahrplaninformationen kostet praktisch gleich viel wie der Bau eines Einfamilienhauses.

Weitere «bauliche Anpassungen»

Martin Lehmann vom Tiefbauamt der Stadt Bern räumt gegenüber Infosperber zwar ein: «Der Vergleich mit den Baukosten eines Einfamilienhauses mag auf den ersten Blick durchaus veranschaulichen, dass die Investitionskosten für die Anpassung einer Haltestelle sehr hoch sind.» Aber er sagt auch: «Es reicht nicht, einfach eine Haltekante zu erhöhen. Eine Erhöhung der Haltekanten bringt immer bauliche Anpassungen am gesamten Haltestellenbereich mit sich.» So müsse für die Menschen im Rollstuhl Platz zum Manövrieren geschaffen werden. Die Neigung dürfe nicht zu gross sein. Vielleicht brauche es eine Veloumfahrung. Manchmal werde auch gleich noch eine Betonplatte für den Bus eingebaut. Oder die Haltestelle müsse verlängert werden.

Bis die 94 Haltestellen behindertengerecht sind, wird es noch viele Jahre dauern. Die Stadtbehörden rechnen damit, dass sie 10 Haltestellen pro Jahr umbauen werden. Oder anders gesagt: Die Arbeiten an den 94 Haltestellen werden frühestens 2035 abgeschlossen sein. Also über zehn Jahre später, als das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt.

Und die restlichen 225 Haltestellen?

Und dann sind da noch die restlichen 225 Haltestellen – also mehr als die Hälfte. 146 davon werden dann umgestaltet, wenn ohnehin Arbeiten am Strassenbelag, an Gleisen oder an Werkleitungen anstehen. Laut der Stadt Bern lässt sich für diese 146 Haltestellen «kein verlässlicher Zeitrahmen nennen». Sicher ist aber, dass es «über 2035 hinaus dauern wird».

Für die letzten 79 Haltestellen hat die Stadt keine Pläne. Sie «weisen eine tiefe Fahrgastfrequenz auf, stellen keine oder bloss eine untergeordnete Umsteigebeziehung sicher, liegen nicht in Nähe zu Alters- und Behinderteninstitutionen». Die Umgestaltung erfolge deshalb «zu einem späteren Zeitpunkt». Oder anders gesagt: Es dürfte noch Jahrzehnte dauern, bis die Stadt Bern das Behindertengleichstellungsgesetz befolgt.

«Die Frist war grosszügig»

Die Behindertenorganisation Inclusion Handicap ist empört über das liederliche Verhalten von Bahninfrastrukturunternehmen, Transportunternehmen, Kantonen und Gemeinden: «Die Frist des Gesetzgebers war grosszügig: In 20 Jahren hätten alle Anlagen, Bauten, und Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs von Menschen mit Behinderungen autonom und spontan nutzbar sein sollen. Die zuständigen Akteure haben die Frist weitgehend verschlafen.»

Deshalb fordert Inclusion Handicap:

  • Eine neue gesetzliche Frist zur Umsetzung bis spätestens 2030.
  • Eine Etappierung mit verbindlichen Zielen.
  • Eine griffige Kontrolle und damit verbundene Sanktionen.
  • Eine solide Finanzierung.

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Deutsche Rechtsradikale tummeln sich gerne in der Schweiz

Michael Lacher und Hans Baumann /  Die Übergänge von rechtspopulistischer Politik zu ultrarechten Kreisen sind in Deutschland und in der Schweiz zunehmend fliessend.

(Red) Michael Lacher hat den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten in Kassel, publizistisch begleitet und betreibt einen Blog. Hans Baumann ist Ökonom und Publizist und betreibt ebenfalls einen Blog.

Wenn man in der Region währschaft essen gehen will, ist man im Gasthaus St. Meinrad im Kanton Schwyz richtig. Das weiss offenbar auch Alice Weidel von der deutschen Rechtspartei AfD, die sich dort im Spätsommer mit Ex-Bundesrat Ueli Maurer von der SVP traf. In der Idylle des Voralpengebiets rund um den Wallfahrtsort Einsiedeln, mit der Schwarzen Madonna in der Klosterkirche, trafen sich die beiden ungleichen Rechtsaussen im besagten Lokal, das unweit des schweizerischen Wohnorts von Weidel liegt.

Weidel in der Schweiz – nicht ganz allein

Vor einigen Jahren zog die Co-Vorsitzende der AfD-Fraktion im deutschen Bundestag mit ihrer Lebenspartnerin und ihren Kindern aus Biel im Kanton Bern nicht ganz freiwillig in das katholisch-konservative Einsiedeln. Hier «fühlen wir uns sehr wohl, hier kennt man uns», wie die Partnerin von Weidel freimütig in einem Interview hervorhob. Dies kam nicht von ungefähr, wurden sie doch aus dem eher städtisch-migrantischen Biel mehr oder weniger rausgeekelt. Und hier nun, mit Blick in die Schweizer Hochalpen, trafen sich Alice Weidel und Ueli Maurer beim währschaften Essen, angeblich geheim, um was zu besprechen. Offizielle Verlautbarungen gab es nicht. Aber genügend politische Gemeinsamkeiten zwischen der SVP und der AfD sind bekannt.

Bei dem Treffen waren die jüngsten Wahlerfolge beider Rechtsparteien noch süsse Zukunftsmusik: Am 22. Oktober erreichte die SVP mit 27,9 Prozent bei den Nationalratswahlen bekanntlich eine Steigerung von 2,3 Prozent und blieb mit Abstand stärkste Partei. Ein verhaltener Rechtsrutsch in der Schweiz, nicht ganz so ausgeprägt wie bei den deutschen Landtagswahlen in Bayern und Hessen, wo die AfD Rekordergebnisse erzielte: In Bayern verdoppelte sie ihre Mandate, wobei auch noch die andere Rechtspartei, die Freien Wähler, deutlich zulegte, und in Hessen wurde die AfD zweitstärkste Partei hinter der CDU, noch vor SPD und Grünen.

Die Migrationspolitik, die Fremdenfeindlichkeit, die neoliberale Wirtschaftspolitik, Sozialabbau (vor allem für Ausländer) und Europaskepsis sind Gemeinsamkeiten, die mit populistischer Stimmungsmache Wähler vor allem im ländlichen Raum der Schweiz und in Grossstädten Deutschlands anziehen. Allerdings kam die AfD mit fast 19 Prozent Wähleranteil in Hessen und knapp 15 Prozent in Bayern natürlich nicht an die SVP heran, die jetzt schon seit über zwanzig Jahren die wählerstärkste Partei ist. Kann also Weidel von der Schweiz lernen, siegen lernen? Oder anders gefragt: Was macht die adrette und saubere Schweiz für Deutsche aus der rechtpopulistischen und rechtsradikalen Szene so attraktiv?

Deutsche Rechtsradikale in der Schweiz

Die deutschen Rechtsradikalen tummeln sich gerne in der Schweiz. Da gab es 2016 im grenznahen Kanton St. Gallen ein Rechtsrockkonzert mit 5’000 Teilnehmenden vornehmlich aus Deutschland, fast ausschliesslich deutschen Rechtsrockbands und organisiert von Thüringen aus. Nicht lange her, im Sommer 2022, trafen sich im Zürcher Oberland in einem Waldgelände Dutzende Rechtsradikale, vor allem aus Deutschland, in einem Pfadfinderheim. Ein prominentes Beispiel der rechtsradikalen Netzwerke in der Schweiz ist die Verbindung des Neonazis und NPD- (jetzt «Heimat»-) Strippenziehers Thorsten Heise aus Thüringen. Als dessen Sohn infolge eines Vorwurfs der Körperverletzung und des Raubes an einem Journalisten ins Visier der Ermittlung geriet, gelang ihm der Move ins Wallis, und Heise brachte seinen Sohn als Auszubildenden bei einem befreundeten Schweizer Neonazi-Unternehmer unter.

Die Schweiz ist attraktiv für deutsche Rechtsradikale

Doch auch weniger militante, sich etwas zivilisierter gebende Rechtsradikale aus Deutschland nutzen die Schweiz als Rekrutierungs- und Kommunikationsort. So führte der bekannte Reichsbürger und Holocaustleugner Matthias Weidner ein Seminar zum Thema «Leben im Willkürstaat» mit dem verbreiteten antisemitischen Narrativ der «geheimen Weltregierung» am Walensee in der Schweiz durch. Pikanterweise – und da zeigt sich der Übergang in die rechtspopulistische Gefahrenzone – wurde das Seminar ebenfalls von einem bekannten SVP-Vorstandsmitglied und Mediensprecher aus Graubünden besucht, der zudem als Unternehmensberater einen zweistündigen Vortrag über «bewährte und praktizierte Möglichkeiten der Vermögenssicherung für Einzelne, Familien, Selbstständige und Unternehmen im Ausland» platzierte. So vermehrt sich Geld über rechte Ideologie nach Schweizer Art. Dass, wiederum im Kanton St. Gallen, im Zuge einer Reichsbürger-Razzia im Frühjahr 2023 auch zwei Schweizer Staatsbürger mit Verbindung zur deutschen Reichsbürgerszene und zur schweizerischen Rechtsauslegerinitiative «Massvoll» festgenommen wurden, dürfte indes kein Zufall gewesen sein. Bekanntlich ist die ultrarechte «Massvoll»-Initiative anlässlich der Nationalratswahlen in zwei Kantonen eine Listenverbindung mit der SVP eingegangen.

Die Schweizer Behörden registrieren in der letzten Zeit vermehrt Aktivitäten deutscher Neonazis in der Schweiz. Dazu gehören auch solche Organisationen, die in Deutschland mittlerweile verboten sind, wie etwa Blood & Honour, die Hammerskins oder Combat 18. Dies hat auch mit den unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen in der Schweiz und in Deutschland zu tun, wie der Berliner Rechtsextremismusforscher Hajo Funke hervorhebt, weil in der Schweiz neonazistische Symbolik, wie etwa das Hakenkreuz oder der Hitlergruss, nicht verboten sind, es keine Pflicht des Mitführens von Ausweispapieren gibt und das Schweizer Waffengesetz den Besitz von und vor allem den Handel mit Waffen begünstigt. Zudem verläuft die behördliche Koordination zwischen Deutschland und dem Nicht-EU-Land Schweiz weniger reibungslos, als das etwa mit Österreich der Fall ist, wo sich deutsche Rechtsextreme auch gerne aufhalten. Das hat sich im Übrigen auch Stephan Ernst zunutze gemacht. Stephan Ernst hatte vor vier Jahren den Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet. Die Waffe, die Stephan Ernst erworben hatte, gelangte zuvor von der Schweiz nach Deutschland, genauso wie vorher schon Waffen, die der «nationalsozialistische Untergrund», NSU, verwendet hatte. Der NSU ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Personen mit Migrationshintergrund und verübte in Deutschland insgesamt 43 Mordanschläge.  

Wie man sieht, ist die Schweiz für deutsche Rechtsradikale ein attraktiver Zielort. Neben der geografischen Nähe dürfte dabei auch die gemeinsame Sprache in der deutschen Schweiz eine Rolle spielen. Doch das allein würde für eine stärkere Hinwendung deutscher Neonazis nicht ausreichen, wenn nicht die führende Rolle der SVP im Schweizer Parlamentarismus, aber auch ausserparlamentarisch, eine Grauzone zu den Rechtsradikalen begünstigen würde.

Denn die SVP hat hier einiges vorzuweisen:  So arbeitete kürzlich die SVP-Präsidentin in Winterthur mit bekannten Rechtsradikalen der «Jungen Tat» bei der Entwicklung von Social Media und Wahlkampfvideos zusammen. Die «Junge Tat» ist eine Neonazi-Gruppe, die sich mittlerweile über die gesamte deutsche Schweiz organisiert hat. Genutzt hat es der Präsidentin freilich wenig – die SP hat in Winterthur als stärkste Partei nochmals kräftig zugelegt.

In St. Gallen kam es noch dicker: Der ehemalige Präsident der SVP Buchs und Ex-Vizepräsident des SVP-Nachwuchses «Junge SVP» ist sogar Mitglied der «Jungen Tat». Der 28-jährige Neonazi, mittlerweile aus der SVP ausgetreten, konnte mit Unterstützung der lokalen SVP-Granden eine Karriere vorweisen, die wohl seinen ehemaligen Förderern und Ahnungslosen mittlerweile unangenehm geworden ist: «Ich habe von seiner Radikalisierung nichts mitbekommen», resümiert ein ehemaliger Kantonsrat aus St. Gallen. Ähnliches passierte im deutschen Bundesland Hessen zur Kommunalwahl 2021 in Kassel, als ein bekannter Neonazi und ehemaliges Blood-&-Honour-Mitglied auf der Kreistagsliste der AfD kandidierte.

Weidel, Schweiz und die Milliardäre

Dass die AfD-Frontfrau Weidel sich hierzulande wohlfühlt, dürfte indes nicht nur am Wallfahrtsort Einsiedeln und seiner Schwarzen Madonna liegen, sondern auch an mutmasslichen Geldflüssen, die immer wieder die deutsche Staatsanwaltschaft und die Bundestagsverwaltung in Aktion bringen. Jüngstes Beispiel 2022 sind ungeklärte Geldzuwendungen an die AfD für Medienproduktionen, die via Bayern aus der Schweiz möglicherweise über den deutsch-schweizerischen Milliardär und Immobilienhändler Henning Conle in Zürich gelaufen sind. Schon 2017 hatte Weidel laut Recherchen verschiedener deutscher und schweizerischer Medien vom selben Milliardär einen «150’000-Franken-Wahlkampf-Zustupf», so der Zürcher Tagesanzeiger damals, bekommen.

Was die Geldzuflüsse von milliardenschweren Unternehmern an die rechten Parteien angeht, kann die AfD der SVP nun nichts vormachen. Christoph Blocher hat mit seinen Unternehmensmilliarden massgebend zum Aufstieg der SVP beigetragen und sich mit seiner Bauernschläue die Schweizer Rechtsradikalen, aber auch die AfD-Vorsitzenden, weitgehend vom Halse gehalten. Das tat er etwa 2016 in einer Schweizer Talkshow, als er sich weigerte, als Talkshow-Gast neben Alexander Gauland (AfD) platziert zu werden. Diese Distanzversuche scheinen nunmehr der Vergangenheit anzugehören, wie das Tête-à-Tête von Alice Weidel und Ueli Maurer zu bestätigen scheint.

Zweisamkeit mit Rechtsradikalen

Doch diese persönlichen Treffen inklusive finanziellen Transaktionen aus der Schweiz allein machen die Zweisamkeit von AfD und SVP nicht aus. Auch hinsichtlich ihrer Attraktivität für Neonazi-Gruppen und ultrarechte Figuren aus der Szene scheint es die AfD ihren Schweizer Freunden im Geiste gleich tun zu wollen. So ist Alice Weidel schon als Referentin im Institut für Staatspolitik (Schnellroda) des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek – im Übrigen auch Berater des Björn Höcke – aufgetreten. Genauso wie die Tochter der Ehefrau Kubitscheks mit einem Bundestagsmitarbeiter der AfD verheiratet ist.

So fügt sich, was zusammengehört. Es trafen sich beispielsweise nach SPIEGEL-Recherchen (SPIEGEL Nr. 30 vom 22. Juli 2023) im Juli dieses Jahres auf Einladung mehrerer Landesverbände der «Jungen Alternative» (JA) in Niedersachsen eine Reihe von Neonazis und ehemaligen NPD-Funktionären mit AfD-Mitgliedern, um das AfD-Vorfeld zu beackern, das letztlich aus rechtsradikalen und neonazistischen Umfeldorganisationen besteht. Dann wundert es auch nicht, dass in Berlin schon mal gemeinsame Kampfsporttrainings mit Identitären und NPD/«Heimat»-Mitgliedern durchgeführt werden.

In diese Reihe dürfte denn auch die ungebrochene Anziehungskraft der AfD für Rechtsterroristen gehören. So wie etwa beim Mord an Walter Lübcke 2019, wo nicht nur der Schweizer Waffenhandel eine Rolle spielte. Auch der Kumpan des Mörders von Lübcke, Stephan Ernst, der Helfer der AfD bei der Landtagswahl Hessen 2018 war, wurde von einem Neonazi-Kumpan im Zeugenstand des Untersuchungsausschusses als «AfD-Mann, ganz normal» bezeichnet. Dass durch Ernst auch eine Geldspende an die AfD erfolgte, fiel kaum mehr ins Gewicht, weil die zur Kenntnis gebrachten fliessenden Übergänge von den neonazistischen Aktivisten zur AfD noch nicht mal mehr ein Murren der hessischen AfD-Fraktion im parlamentarischen Lübcke-Untersuchungsausschuss bewirkten.

Schweiz und Deutschland – ein ungleiches Paar?

Folgt man der New York Times, dann ist die Schweiz ein Reiseparadies. Folgt man deutschen Arbeitnehmern von ihrem deutschen Wohnort an ihren Arbeitsort in der Schweiz, dann ist das Land ein Einkommensparadies. Dann kommt hinzu: Die Schweiz ist sauber und ordentlich und die Bahn pünktlich – aber die Immobilienpreise und die Mieten sind hoch und die Menschen doch nicht immer ganz freundlich Fremden gegenüber. An diesem Punkt setzt die SVP mit ihrem fremden- und ausländerfeindlichen, letztlich nationalistischen, Versprechen einer reinen und ursprünglichen Schweiz an. Vor allem im ländlichen Raum ohne hohen Ausländeranteil verfängt dieser Politikansatz, während in den Grossstädten, wie etwa Zürich, die SP mit einer eher liberalen Migrationspolitik bei den jüngsten Nationalratswahlen deutliche Zugewinne erzielen konnte.

Hinzu kommt eine extreme Vermögensumverteilung, die in den letzten Jahrzehnten um 50% zugenommen hat, sprich: das reichste Prozent der Steuerzahlenden besass 2018 45 Prozent aller Vermögen (so der linke Think Tank «Denknetz» 2022). Ein europäischer Spitzenwert der sozialen Ungleichheit, was die Rechte als Neidkampagne gegen die Grossstädter und für eine saubere Schweiz gegen das feindliche, vor allem das EU-Ausland nutzt. Die zunehmende soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verschafft den Rechten in der Schweiz, wie auch in Deutschland, Wählerstimmen, weil Ungleichheit, trotz eigener hoher Leistungsanstrengung, als ungerecht empfunden wird und die eigene Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen demonstriert. Zur sozialen Entwertung passen denn auch die eingeschränkten bis verhinderten sozialen Mobilitätschancen in beiden Ländern, die wesentlich von den Bildungsvoraussetzungen und der sozialen Herkunft abhängig sind. 70 Prozent der Studierenden in der Schweiz, so eine Studie des Bundesamtes für Statistik, sind Akademikerkinder.

In Deutschland kommt die Wut und die Angst vor sozialem Abstieg hinzu, wie es Klaus Dörre im FREITAG (Nr. 10 vom 27. Juli 2023) beschrieben hat. Neben der sozialen Ungleichheit spielen Ängste vor der tiefgreifenden Transformation industrieller Arbeitsplätze eine Rolle. Sie treibt den Rechten nicht nur in Ostdeutschland Wählende zu, wie man in Bayern und Hessen im Oktober 2023 sehen konnte. Die Linke hat für dieses Wählerpotenzial, zumindest in Deutschland, bislang keine hinreichend überzeugenden Antworten.

Dabei ist offenbar eine grosse Zahl der Wählenden rechter Parteien in beiden Ländern unempfindlich geworden gegenüber den fliessenden Übergängen von rechtspopulistischer Politik zu partieller neonazistischer Übernahme. Diese Immunisierung ist Teil, wenn nicht einer politischen Akzeptanz so doch eines Hinnehmens rechtsradikaler Einflussnahme auf erstarkende rechtspopulistische Parteien in beiden Ländern.  

Wenn das Nachtessen im St. Meinrad herzhaft und kräftig war, an dem Thema Rechtsradikalismus werden sich Alice Weidel und Ueli Maurer nicht verschluckt haben.


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Die Bührle-Sammlung gehört der Schweiz

Erich Schmid /  Emil G. Bührle hat einen grossen Teil seiner umstrittenen Kunstsammlung mit Geld bezahlt, das er aus Bundesbern bekommen hat.

Wenn die beiden renommierten Historiker Jakob Tanner und Jacques Picard die Schenkung der Bührle-Sammlung an die öffentliche Hand fordern, dann sollte man klar sagen, um was es da eigentlich geht: Die Bührle-Sammlung hat die Schweiz bezahlt, und nun will sie das, was sie bezahlt hat, zurück.

So einfach ist es. Aber für die meisten Medien scheint dies zu kompliziert zu sein. Es ist zwar nicht falsch, wenn Andreas Tobler im «Tages-Anzeiger» schreibt, Emil Bührle sei «nur dank der Unterstützung der offiziellen Schweiz zu seinem enormen Reichtum gelangt». Abgesehen davon, dass Tobler eine «offizielle Schweiz» erwähnt, als ob es noch eine inoffizielle gegeben hätte, und von einem «enormen Reichtum» schreibt, als wäre Bührle nicht dank der Schweiz zum reichsten Mann im Land geworden, ist das unpräzis.

Nein, Bührle hat sich für die Waffen, die er den Nationalsozialisten geliefert hatte, direkt von der Schweiz bezahlen lassen, und zwar via die «Clearingmilliarde», von der später noch die Rede sein wird.

Die Nazis haben Bührle für seine Waffenlieferungen keinen Franken und keine Reichsmark überwiesen. Bührle hat die Rechnungen direkt nach Bern geschickt und nur das Doppel nach Berlin. Bern bezahlte die Rechnungen umgehend und addierte den Rechnungsbetrag der Summe, welche die Nazis der Schweiz schuldeten.

Und so funktionierte die Clearing- bzw. «Kollaborations»-Milliarde: Der Bundesrat, im Zweiten Weltkrieg mit Sondervollmachten ausgestattet, gewährte dem Naziregime am Parlament vorbei einen Kredit von einer Milliarde Schweizer Franken, ohne diesen auszuzahlen – ähnlich eines Gutscheins oder einer Gutschrift. Damit konnten die Nazis in der Schweiz Waren beziehen, vor allem Waffen von der Oerlikon Bührle in Zürich, Lastwagen von Saurer in Arbon und Munition. Wir wissen, was die Nazis damit angerichtet haben. Aber viele wissen nicht, dass das Geld für diesen Kriegsmaterialbezug die Grenze nie passierte, sondern in der Schweiz blieb. Über die Grenze ging nur die Ware.

Bührle wurde mit diesem Geschäft nicht nur «enorm» reich, sondern der reichste Mann der Schweiz – mit Geld der Schweizer Steuerzahlenden, das der Bundesrat den Nazis als Kredit gutgesprochen hatte. Mit diesem Geld, bzw. mit dem Gewinn aus seinen Waffenlieferungen an die Nazis, legte Bührle den Grundstein für seine Kunstsammlung: etwas über 600 der wertvollsten Bilder der Welt. 200 davon sind heute in der Bührle-Stiftung, über 400 sind noch in Privatbesitz der Bührle-Erben.

Diese Bilder, die Bührle gekauft und die Schweiz bezahlt hat, soll die Schweiz zurückbekommen. Das ist der Vorschlag von Tanner/Picard. Und wenn die Schweiz die Bilder hat, sollte sie jene Gemälde, die Bührle verfolgungsbedingt erwerben konnte, den Nachfahren jüdischer Herkunft zurückgeben oder sie entschädigen.

Hier noch zwei Präzisierungen:

1. Bührle hat bis 1945 insgesamt 146 Gemälde gekauft. Zwischen 1946 und 1950 kamen weitere 53 dazu. Der Hauptharst von 439 Bildern fällt auf die Jahre 1951 bis 1956 (Bericht Prof. Leimgruber, Uni Zürich, S. 207). Der Bund hat auch nach 1945 massive Unterstützung geliefert, allerdings nicht mehr primär in Form von Finanzen, sondern in Form von Gesetzen (Erlaubnis für die Waffenausfuhr in den Korea-Krieg) und Wegschauen (illegale Geschäfte, die erst 2021 zum Vorschein kamen).

2. Im Herbst 1941 entstand nach einem Vorstoss von Hans Oprecht (SP) immerhin noch eine Debatte über die Clearing-Milliarde im Nationalrat. Walter Muschg (LDU) hatte das Problem der Clearingkredite an Deutschland an die Adresse des Bundesrates so formuliert: «Auch unsere eigenen Nachkommen werden dereinst nicht zuerst darnach fragen, ob wir in diesen Jahren gehungert und gefroren haben, sondern ob wir die Kraft aufbrachten, trotz Hunger und Not dem schweizerischen Staat diejenige Geltung zu erhalten, deren er würdig ist und die er braucht.»

Bundesrat Stampfli antwortete darauf: «Es ist von Prof. Muschg angedeutet worden, unsere Nachkommen würden einmal nicht gross darnach fragen, ob wir tüchtig gefroren und gehungert haben. Mich interessiert es gar nicht, was unsere Nachkommen sagen werden. Mich interessiert vielmehr, was die heutige Generation dazu sagen würde, wenn sie keine Kohlen und nichts zu essen hätte.» (Schlussbericht der UEK, Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, S. 200/201; kann integral heruntergeladen werden: www.uek.ch ).


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Keine. Erich Schmid ist Autor und Film-Regisseur. Er lebt und arbeitet im Wohn- und Atelierhaus von Max Bill in Zumikon.
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65 Milliarden Subventionen für Klimaschädigendes streichen

Urs P. Gasche /  Zum Stopfen des deutschen Milliardenlochs braucht es mittelfristig keine Abstriche im Sozialen oder im Ausbau der Infrastruktur.

Seit der deutsche Bundesgerichtshof der Schuldenschummelei der Regierung ein Ende setzte, beisst sich die Ampelkoalition die Zähne aus, wie das 60-Milliarden-Loch gestopft werden kann.

Es muss nicht auf Kosten der Sanierung der Deutschen Bahn oder der Digitalisierung oder der Sozialleistungen gehen. Es würde genügen, sämtliche Subventionen für klima- und umweltschädigende Aktivitäten abzuschaffen. Steuererleichterungen oder Steuerprivilegien sind Subventionen mit anderem Namen. Deren Abschaffen würde Einsparungen von rund 65 Milliarden Euro bringen. 

Der Abbau der Subventionen müsste konsequent aber schrittweise erfolgen. Die 65 Milliarden könnten deshalb nicht auf einen Schlag eingespart werden, aber wenigstens mittelfristig.

Zum Einsparpotenzial von 65 Milliarden Euro kamen jedenfalls das Umweltbundesamt und auch das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. Laut dessen Direktor und Leiter der Energie- und Agrarpolitik, Florian Zerzawy, zählen zu den klimaschädigenden Subventionen und Steuererleichterungen insbesondere:

Umweltlschädiche Subventionen. Umweltbundesamt
65,4 Milliarden Euro Subventionen für umwelt- und klimaschädliche Aktivitäten wie Flug- und Autoverkehr, Landwirtschaft oder Bauerei. Grössere Auflösung der Grafik hier.

Eine Studie des Umweltbundesamtes kam zum Schluss, dass «umweltschädliche Subventionen» schon im Jahr 2018 die Höhe von 65 Milliarden Euro erreichten. Die wichtisten Posten waren laut UBA folgende:

  • 25,4 Milliarden Euro bei der Bereitstellung und Nutzung von Energie (u.a. Ausgleichsregelung und Eigenstromprivileg);
  • 30,8 Milliarden Euro im Verkehr (namentlich Steuerbefreiung für Kerosin, Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge, Dieselprivileg, Pendlerpauschale). [Siehe auch «Billig fliegen? Dank Milliarden an Subventionen!»];
    3,0 Milliarden Bau- und Wohnungswesen (u.a. KfW-Wohneigentumsprogramm, Wohnraumförderung, Baukindergeld);
  • 6,2 Milliarden Landwirtschaft und Fischerei (namentlich tiefere Mehrwertsteuer für Fleisch- und Milchprodukte).

In der Schlussfolgerung schreibt das Umweltbundesamt:

«Vielfach werden soziale Argumente gegen den Abbau umweltschädlicher Subventionen angeführt. Auf den ersten Blick sind diese Sorgen berechtigt, wenn Haushalte mit niedrigen Einkommen prozentual stärker belastet werden oder bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders betroffen sind, z. B. Fernpendler. Allerdings gibt es, wie die vorliegende Studie zeigt, inzwischen zahlreiche Vorschläge, wie soziale Härten vermieden werden können. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Verwendung der freiwerdenden Gelder, sei es für spezifische Förderprogramme oder zur allgemeinen Entlastung von Haushalten mit geringen Einkommen.
Vielfach – und dies spielt in der öffentlichen Diskussion bislang nur eine geringe Rolle – ist der Abbau umweltschädliche Subventionen mit positiven Verteilungswirkungen verbunden. Hier bietet sich die Chance, gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, d. h. Umwelt- und Klimaschutz mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden.»

Energiewende ohne Subventionen

In der Schweiz hat der Unternehmer und ETH-Professor Anton Gunzinger in seinem Buch «Kraftwerk Schweiz» für Kostenwahrheit bei den fossilen und nuklearen Energieträgern plädiert, was alle Subventionen zur Förderung erneuerbarer Energien überflüssig machen würde. Mit steuerneutralen CO2-Abgaben auf Erdöl, Erdgas, Kohle und Risiko-Abgaben auf Atomstrom würden diese Energieträger entsprechend ihrer Umweltschäden und nicht versicherbaren nuklearen Risiken bepreist. Auf diese Weise würde der Solarstrom auch ohne Subventionen rentabel. Siehe «Radikale Energiewende mit weniger Subventionen» von Hanspeter Guggenbühl.

Das Tabu einer Besteuerung der Kapitalflüsse

Ein hartnäckiges Tabu in der Steuer- und Budgetdiskussion ist die Einführung einer Mikrosteuer auf allen elektronischen Geldflüssen. Eine solche Mikrosteuer könnte einen Teil der Steuern und Abgaben auf Löhnen sowie auf dem Konsum einfach und unbürokratisch ersetzen. Die Geldüberweisungen sind bereits elektronisch erfasst, so dass eine Mini-Steuer von beispielsweise 0,1 oder 0,2 Prozent auf jedem Transfer leicht zu erfassen ist. Eine Mikrosteuer würde die Steuerbelastung von der Realwirtschaft in die Finanzwirtschaft verlagern. Die meisten Geldtransfers mit hohen Summen gehen auf das Konto von Reichen. Deshalb hat die Mikrosteuer einen sozialen Charakter. Siehe dazu: 
«Eine Mikrosteuer würde die Casino-Wetten an der Börse und ausserhalb der Börsen erschweren»


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«Sports Illustrated» liess KI Autoren und Texte erfinden

Pascal Sigg /  Die traditionsreiche US-Medienmarke operierte mit Fake-Autoren, um Werbegelder zu kassieren.

Zum Beispiel Drew Ortiz. So hiess einer der Autoren auf der Website von Sports Illustrated. «Drew verbringt viel Zeit draussen und führt dich gerne durch seine unendliche Liste der besten Produkte, die dich vor den Gefahren der Natur bewahren. Es vergeht kaum ein Wochenende, da Drew nicht zeltet, wandert oder einfach auf der Farm seiner Eltern ist.» Bloss. Drew Ortiz existiert nicht. Wie eine Journalistin des kleinen Online-Mediums Futurism aufdeckte, ist auch sein Portraitbild gefälscht. Es kann auf einer Seite, die KI-generierte Bilder anbietet, gekauft werden.

Sports Illustrated ist eine prestigeträchtige US-Medienmarke. Das Wochenmagazin erschien erstmals 1954, gewann mehrmals die wichtigsten Branchenpreise für Magazinjournalismus und publizierte Texte von William Faulkner oder John Updike. Bis 2018 gehörte die Medienmarke zu Time Inc. Nach diversen Deals hält das Medienkonglomerat Arena Group die Lizenzrechte an der Marke und fährt eine aggressive Digitalstrategie. Das Printmagazin wird wöchentlich weiterhin über 1 Million mal gedruckt. Mitte der Nullerjahre zählte es noch über drei Millionen Abonnierende.

Auch Texte KI-generiert

Die Futurism-Journalistin sprach auch mit zwei Personen, die an der Publikation der KI-Artikel beteiligt waren. Diese bestätigten, dass nicht nur Autorinnen und Autoren gefälscht wurden, sondern auch Texte. Dass weder die Urhebenden noch die Texte menschliche Produkte waren, wurde nirgendwo deklariert.

Sports Illustrated tauschte die Autorenprofile laufend aus. So wurde Drew Ortiz irgendwann durch eine gewisse Sora Tanaka ersetzt – ebenfalls eine Erfindung mit gefaktem Profilbild. Nun trat sie als Autorin der Texte auf, welche zuvor Ortiz zugeordnet waren.

Die gefakten Artikel – häufig Rezensionen von Produkten – waren mit Seiten in Webshops verlinkt, wo man die Produkte kaufen konnte. Wenn Leser auf die Links klickten, verdiente Sports Illustrated Geld. Nachdem Futurism die Verantwortlichen der Arena Group mit den Vorwürfen konfrontiert hatte, wurden die Seiten gelöscht. Und die Arena Group gab an, die Artikel von einem Drittanbieter erhalten zu haben. Doch Sports Illustrated ist nicht allein. Die Futurism-Journalistin konnte auch zeigen, dass mindestens eine andere Medienmarke der Arena Group gleich vorging. Futurism erwischte auch BuzzFeed mit zweifelhaften KI-generierten Reise-Texten. Auch zahlreiche Zeitungen der Gannett-Gruppe, wie zum Beispiel USA Today, mussten ein KI-Experiment einstellen, nachdem peinliche Fehler in Sport-Texten bekannt wurden.

In der Schweiz verlangt der Berufskodex des Presserats Transparenz im Umgang mit künstlicher Intelligenz im Journalismus. Verschiedene Medienhäuser haben sich selber bereits Verhaltensregeln auferlegt. Der Presserat möchte aber gemäss eigenen Angaben einheitliche Regeln erarbeiten.

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Fast Fashion

Daniela Gschweng /  Das Modeunternehmen Zara macht vollmundige Nachhaltigkeitsversprechen, fliegt aber tonnenweise Kleidung um die Welt.

Fast Fashion muss nichts Böses sein, vermitteln viele grosse Modehäuser wie H&M, Zara und Co. Sie präsentieren grüne Produktlinien, fahren grüne Werbekampagnen, nutzen Öko-Labels und machen klangvolle Nachhaltigkeitsversprechen.

Zara, das zum Inditex-Konzern gehört, beispielsweise «lebt einen Prozess der kontinuierlichen Verbesserung, bei dem wir uns ständig hinterfragen, um nachhaltiger zu werden». So steht es auf der Website des Modelabels.

Zaras Mutterkonzern Inditex transportiert jedoch tausende Tonnen Kleidung im Flugzeug um die Welt, belegt «Public Eye» mit Zoll- und Unternehmensdaten. Kleidung, die unter anderen für die Marken Massimo Dutti, Bershka oder Zara in den Regalen landet.

Wenn das Shirt mehr geflogen ist als die Käuferin

«Zara», das kommt von Zaragossa. In der Stadt im nordwestlichen Spanien gibt es einen grossen Frachtflughafen und das Logistikzentrum Plaza, das Zentrum der Inditex-Mode. «Jedes Bekleidungsstück für Frauen, das Inditex irgendwo auf der Welt verkauft, läuft über Plaza», zitiert «Public Eye» den Sender «Aragón TV». Selbst wenn es aus Kambodscha kommt und in Australien verkauft wird.

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Gesamte Frachtflüge von (rot) und nach (blau) Zaragossa von Januar bis September 2023. Der grösste Teil davon sind Zara-Kleidertransporte. Für Zielländer ist jeweils der wichtigste Flughafen angegeben.

So manches T-Shirt ist beim Kauf also schon mehr geflogen als die Käuferin. Eine wichtige Destination für Transportflüge ab Zaragossa ist Mexiko. Dort hat Inditex viele Läden, das Land ist Verteilerstation für Südamerika. 2022 flog Inditex rund 19’000 Tonnen Kleidung, Accessoires und Ladeneinrichtungen nach Mexico City. Die nächstgrösseren Mengen gingen nach Katar und Nordamerika.

Faire Löhne und Umweltbelange haben keine Priorität

Innerhalb der EU nutzt Inditex grösstenteils LKW-Transporte, aber nicht überall. Von Spanien weiter entfernte EU-Länder wie Griechenland bekommen Shirt und Jupe per Luftfracht, damit es schnell genug geht.

In der Schweiz betreibt Inditex 38 Shops und sieben Online-Läden mit dem bekannten Geschäftsmodell: Fast Fashion. «Fast» wie «schnell». Mode, die innerhalb weniger Tage an den Kunden oder die Kundin gebracht werden soll. Was heute Trend ist, kann morgen schon out oder vergriffen sein. So zumindest soll die Kundschaft denken.

Eine Strategie, die sich lohnt. Im letzten Geschäftsjahr machte Inditex 4,1 Milliarden Euro Gewinn bei einer Marge von 12,5 Prozent. Das ist höher als die 10-Prozent-Gewinnspanne des nicht gerade für Zurückhaltung bekannten Nestlé-Konzerns.

Doppelt so hohe Klimabelastung wie im Branchendurchschnitt

Behäbige Seefracht hat dabei genauso wenig Priorität wie existenzsichernde Löhne in Herstellerländern wie Bangladesch. Von einem Zara-Shirt flössen gerade einmal 34 Rappen in direkte Lohnkosten, gibt «Public Eye» an. Eine Näherin verdient deutlich weniger als 100 Franken im Monat.

Im Gegenzug fliegt Inditex jedes Jahr Millionen Kleidungsstücke von Dhaka nach Zaragossa. Wenn dem Flughafen Dhaka die Kapazitäten ausgehen, weicht das Unternehmen auf das 1400 Kilometer entfernte Delhi im benachbarten Indien aus.

Der Transport eines T-Shirts, für das Inditex in Dhaka 1,90 Franken bezahlt, schlägt laut «Public Eye» mit mindestens 20 bis 40 Rappen zu Buche. Wenn es von Spanien aus auf andere Kontinente weiterreist, entsprechend mehr. Geld, das die Näherinnen in Dhaka gut gebrauchen könnten. Der Transport auf dem Seeweg würde nur wenige Cent kosten.

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Flugmode ist enorm klimaschädlich, zeigt der Vergleich in der Bilanz eines Langarmshirts.

Besser fürs Klima wäre das auch. Ein Flugshirt, rechnet «Public Eye» nach Daten von Systain vor, verursacht 14-mal höhere Treibhausgasemissionen als ein Seefracht-Shirt. Im Branchendurchschnitt machen diese Emissionen drei Prozent am Gesamt-Fussabdruck eines Kleidungsstücks aus. Bei Zaras Flug-Shirts waren es 2022 mit acht Prozent mehr als doppelt so viel; 2021, vor dem Ukrainekrieg, gar 10,6 Prozent.

2022 habe allein die EU 387’009 Tonnen Kleidung, Textilien und Schuhe importiert und 346’778 Tonnen exportiert, schreibt «Public Eye» unter Bezug auf die Handelsstatistiken. Kleinsendungen von chinesischen Onlinehändlern wie Shein und neuerdings Temu, die auf schnelle Lieferung per Luftpost setzen, werden darin nicht vollständig erfasst. Fast ein Drittel der knapp acht Tonnen Mode, die mit dem Flugzeug in die Schweiz kämen, stammten gemäss Schweizer Handelsstatistik jedenfalls aus China.

Bei den Nachhaltigkeitsbestrebungen wird Flugmode ausgeklammert

Zara hat umfangreiche Nachhaltigkeitsziele. Das Unternehmen will bis 2040 netto null Emissionen produzieren, es fördert Recyclingbestrebungen, will die übermässige Nutzung von Chemikalien im Herstellungsprozess verringern, engagiert sich nach eigenen Angaben für sauberere Seefracht und wassersparende Produktionsmethoden.

An der schnellen bis ultraschnellen Lieferung per Flugzeug will Inditex aber anscheinend nichts ändern und gab «Public Eye» auch nur vage Auskunft dazu.

Fast Fashion von Nachhaltigkeit weit entfernt

Die Auswirkungen von Flugmode sind enorm. Mode gehöre aber weder zu den wichtigen noch zu den dringenden Gütern, die unbedingt per Luftfracht transportiert werden müssten wie Medikamente oder Ersatzteile, argumentiert «Public Eye». In die Läden kämen trendige Kleider auch ohne Flugzeug, nur ein paar Wochen später. Mit Fragen wie der grossen Abfallbelastung durch Altkleidung oder der exzessiven Chemikaliennutzung bei der Kleiderproduktion hat sich die NGO dabei noch gar nicht beschäftigt.


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Der missbrauchte Erich Fried

Felix Schneider /  «Die» Israelis gegen «die» Palästinenser – Frontbildung bis in die Schweiz, auch kulturell. Schlagt euch die Köpfe ein!

«Die Gesellschaft Schweiz-Palästina ist stark israelfeindlich», versichert Georg Humbel in der NZZ am 04.11.23 und führt als Beleg u.a. an, diese Gesellschaft habe «ein Gedicht mit einem Nazi-Vergleich gepostet. Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Israel habe das palästinensische Volk ebenfalls in Lager gesperrt. Und wenn es sich zu wehren versuche, bedrohe Israel es mit Bomben und Napalm».

Ja, wer schreibt denn solche Gedichte?

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Damals auf der Berliner Mauer.

Es ist kein geringerer als der österreichische Dichter Erich Fried (1921 – 1988), einer der grossen Autoren des 20. Jahrhunderts und einer der erfolgreichsten Lyriker seiner Zeit. Bei Gelegenheit trug er seine Gedichte auf Marktplätzen vor Tausenden vor.  Dass er nicht genannt wird, erinnert an den Vermerk «Dichter unbekannt», der in Nazi-Anthologien unter Heinrich Heines «Die Lorelei» gesetzt wurde, weil man das populäre Gedicht brauchte, den Namen des jüdischen Verfassers aber nicht nennen wollte.

Verdrängung und Verleugnung

Würde man Frieds Namen nennen, müsste man so einiges zugeben und differenzieren.

Fried war ein Jude, dem sein Judentum nicht gleichgültig war. Er schrieb: «Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten, die, was immer ihre Absicht sein mag, in Wirklichkeit ‘ihr Volk’ immer tiefer in eine Lage hineintreiben, die schliesslich zu einer Katastrophe für die Juden im heutigen Israel führen könnte.» Diese Katastrophe ist unterdessen eingetreten.

Erich Fried konfrontiert uns mit der Tatsache, dass die jüdische Geschichte mehr bereithält, als die heutige Diskussion wahrhaben will. Er war Marxist, Antizionist, nichtstalinistischer Sozialist, Sympathisant der Matzpen.  

Aufforderung zum genauen Lesen

Das in der NZZ nicht genannte Gedicht des nicht genannten Autors trägt den Titel: «Warum Palästinenser sich nicht fügen». Georg Humbels Vorwurf lautet, wie zitiert: «Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen.» Dieser Vorwurf ist eine frei erfundene Unterstellung. Frieds Gedicht kritisiert «Israelische Sprecher», die von den Palästinensern verlangen, dass sie sich mit ihrem Schicksal, ihrer Ohnmacht abfinden. Fried erinnert daran, dass in den nationalsozialistischen Lagern Häftlinge, die am Ende ihrer Kräfte waren und sich aufgegeben hatten, «Muselmanen» genannt wurden. Er hegt den Verdacht, dass es wohl kein Zufall, sondern eher Ausdruck europäischer Überheblichkeit sei, dass die KZ-Häftlinge, die sich fatalistisch in alles fügten, ausgerechnet «Muselmanen» genannt wurden, und dass diese abwertenden Vorstellungen von Israelis im Konflikt mit den Arabern reaktiviert werden.

Im Vorwort zu der Gedichtsammlung, in der das inkriminierte Gedicht steht, schreibt Fried u.a.: «Ich kann auch verstehen, dass jeder Vergleich der Untaten des Zionismus mit denen des Nationalsozialismus Empörung auslösen wird. Auch in mir empört sich einiges, wenn ich solche Vergleiche ziehe. Israel hat keine Gaskammern gebaut; auch die Entstehung des Konflikts und die Zahl der bisherigen Opfer entziehen sich dem Vergleich. Aber weil viele Israelis, von einzelnen bis zu Regierungsstellen und militärischen Führungsgremien, deutliche Zeichen des Übernehmens und Weitergebens von Verhaltensmustern ihrer Todfeinde von gestern zeigen, drängt sich dieser hässliche Vergleich manchmal auf und kann auch in den Gedichten nicht ganz fehlen, gerade weil sie verhindern helfen wollen, dass er in der Wirklichkeit immer gültiger und zwingender wird.»

Doppelter Missbrauch

Die hier erwähnten Fried-Zitate und -Gedichte stammen alle aus einer Gedichtsammlung, die 1974 und in erweiterter Form 1983  erschienen ist.  Sie trägt den Titel «Höre, Israel!». Natürlich ist mit «Israel» sowohl der Staat als auch das Volk gemeint. Entscheidend aber ist: Alle Gedichte dieser Sammlung sind Gebete FÜR Israel. In Sorge um Israel, Staat und Volk, führt Fried einen zwar heftigen, aber internen Dialog. Im Namen universeller Prinzipien und um Israels Zukunft willen, tritt er für die Rechte der Palästinenser ein. Frieds Gedichte aus diesem Zusammenhang herauszureissen und für die Frontbildung im aktuellen Krieg einzusetzen, ist ein Missbrauch. Die militärisch dysfunktionale, sadistische Gewaltorgie der Hamas vom 7. Oktober war, wie Dan Diner in der FAZ vom 25.10. mit Recht gesagt hat, «genozidal», d.h. eine Todesdrohung an alle Juden. Organisationen wie die «Gesellschaft Schweiz Palästina», die diese konkrete Hamas-Aktion nicht verurteilen, sondern ausweichen in den Nebel der Allgemeinheit («beide Seiten haben Verbrechen begangen») haben kein Recht, sich auf Erich Fried zu berufen.

Andererseits: Der groteske Versuch, Erich Fried mit der Antisemitismuskeule zu erschlagen, ist eine Folge des dummen und gefährlichen Versuchs, hierzulande klare Fronten zwischen «den» Israelis und «den» Palästinensern herzustellen. Ein bedeutender Sieg der Hamas besteht darin, dass mittlerweile im politischen wie im publizistischen Diskurs «Pro-Palästina» in eins gesetzt wird mit «Pro-Hamas». Es wäre an der Zeit, dass sich die Israel- ebenso wie die Palästina-Bejubler fragen, was sie dazu beigetragen haben, «ihr Volk» immer tiefer in eine Lage hineinzutreiben, die in die derzeitige Katastrophe geführt hat.


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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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