Daniela Gschweng / In reichen Ländern sind Hemd und Hose immer öfter aus zweiter Hand. Vor allem Konsumenten unter 40 kaufen gerne Vintage-Mode.
Mit gebrauchter Kleidung wird immer mehr Geld umgesetzt. Laut Statista wird der Wert des weltweiten Marktes für Secondhand-Bekleidung bis 2030 voraussichtlich 84 Milliarden Dollar erreichen – ein Sprung von 56 Milliarden Dollar in einem Jahrzehnt.
Konsumentinnen und Konsumenten in den wohlhabenden Ländern kaufen auch andere Produkte immer häufiger aus zweiter Hand, stellte Statista im August fest. Wenn das Wachstum im Textilbereich anhalte, könnte der Gebrauchtmarkt Fast Fashion bald überholen, sagen die Analysten der Statistik-Plattform.
Am beliebtesten ist der Secondhand-Kauf in Grossbritannien
Statista bezieht sich dabei auf eine Umfrage, mit der die deutsche Online-Plattform regelmässig Konsumentengewohnheiten untersucht – von Online-Dating bis zur Versicherung. In den USA haben demnach 60 Prozent der Befragten im vergangenen Jahr mindestens einmal etwas gebraucht gekauft, vier Jahre zuvor waren es noch knapp die Hälfte (49 Prozent). Am grössten war der Zuwachs in Frankreich mit 17 Prozentpunkten, am meisten Zuspruch erfährt Gebrauchtes aller Art schon länger in Grossbritannien.
Für die Schweiz gebe es keine genauen Zahlen, der Markt jedoch wächst. Auch deshalb, weil Fast-Fashion-Ketten wie H&M inzwischen im Gebrauchtmarkt mitmischen, berichtet das SRF.
2023 könnte der Anteil gebrauchter Kleider 27 Prozent der Kleidungsstücke in einem gedachten globalen Kleiderschrank ausmachen, prognostizierte Statista im vergangenen Jahr in einem YouTube-Video.
Vor allem bei Jüngeren ist Secondhand Trend
Vor allem bei Jüngeren ist Vintage-Kleidung beliebt, fanden die Marktforschenden. Viel Zuspruch findet Secondhand bei Konsument:innen unter 40, die zur Gen Z und zur Millennial-Generation gehören, gefolgt von den Über-40-Jährigen der Generation X. Am wenigsten bereit, Gebrauchtes zu kaufen, ist die Boomer-Generation der ab 60-Jährigen.
Dabei geht es den Käufer:innen nicht nur ums modische Styling. Die Mehrheit der befragten Konsument:innen in einer Umfrage in Australien kaufte Secondhand, um Geld zu sparen. Zwei Fünftel (40 Prozent) gaben an, dadurch nachhaltiger konsumieren zu wollen.
Oxfam ruft zum Secondhand-September auf
Für die Umwelt ist Secondhand-Konsum tatsächlich eine grosse Entlastung, führt die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam auf, die dieses Jahr zum wiederholten Mal den «Secondhand September» ausgerufen hat. Ähnlich wie beim «Veganuary» geht es darum, einen Monat lang nur Gebrauchtes zu kaufen. Die Schweiz ruft seit drei Jahren im September einen nationalen Secondhand-Day aus, dieses Jahr am 23. September.
In Deutschland, wo Oxfam die Aktion intensiv bewirbt, kaufen Konsument:innen jedes Jahr etwa 60 neue Kleidungsstücke. Nur zwei Teile weniger und die gesparten Emissionen würden den gesamten deutschen Inlandflugverkehr kompensieren, stellt Oxfam fest. Die Chancen dafür stehen gut, denn immer mehr Deutsche kaufen Secondhand. Derzeit sind es fast die Hälfte (45 Prozent), 2019 waren es noch knapp zwei Fünftel (39 Prozent).
Allein die Herstellung eines einzigen T-Shirts verbrauche zudem 2700 Liter Wasser, legt Oxfam unter anderem dar. So viel, wie ein Mensch in zweieinhalb Jahren trinken würde. Wer Gebrauchtes trage, verringere ausserdem seine Belastung mit potenziell gesundheitsschädlichen Chemikalien.
Gute Nachricht für den globalen Süden
Für eine Bekleidungs-Kampagne ist der Monat September eine gute Wahl. Im Spätsommer ist die Zeit des Aus- und Umsortierens. Es finden zahlreiche Messen und Märkte statt, auf denen sich Gebrauchtes ergattern und nicht mehr Benötigtes verkaufen lässt. Der grösste Teil gebrauchter Kleidung wechsle aber online die Hand, führt Statista auf.
Der Vintage-Trend im Norden ist eine gute Nachricht für den globalen Süden. Dort sind die gebrauchte Jeans und das Vintage-Shirt oft die Regel. Die Märkte werden von gebrauchten Fast-Fashion-Kleidern aus wohlhabenderen Ländern überschwemmt. Das führt zur Zerstörung der lokalen Textilmärkte und stellt die betroffenen Länder vor riesige Müllprobleme.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Martina Frei / Die Schutzwirkung der Impfung wurde von Anfang an stark übertrieben. Das belegt eine Studie mit Senioren in Heimen.
Die Grippe-Impfung wurde früher als sehr wirksam eingestuft: 70 bis 90 Prozent Wirksamkeit sprach ihr beispielsweise das Bundesamt für Gesundheit zu. Doch im Jahr 2006 weckte eine Studie im angesehenen «International Journal of Epidemiology» grosse Zweifel. Sie wurde legendär, weil sie die vermeintliche Schutzwirkung der Grippe-Impfung raffiniert hinterfragte. Üblicherweise untersuchen Impfstudien einzig, ob die Impfung gegen die entsprechende Krankheit schützt.
Diese Studienautorinnen und -autoren aber machten noch «Gegenproben»: Sie prüften nicht nur, ob die Grippe-Geimpften seltener an Grippe erkrankten als die Ungeimpften. Sondern sie analysierten zum Beispiel auch die Zahl der Unfälle bei Grippe-Geimpften und -Ungeimpften.
Und siehe da: Die Grippe-Impfung schützte Senioren anscheinend ebenso gut vor schweren Verletzungen wie vor einer schweren Lungenentzündung. Wer gegen Grippe geimpft war – so das Ergebnis – wurde deutlich seltener wegen eines Unfalls oder einer Verletzung hospitalisiert, verglichen mit Senioren, die sich nicht gegen Grippe hatten impfen lassen.
Doch die Grippe-Impfung verhütet bekanntermassen keine schweren Verletzungen.
Die StudienautorInnen stellten weitere Rechnungen an: Sie untersuchten auch, ob Geimpfte oder Ungeimpfte öfter wegen Herzversagens oder aufgrund eines Schlaganfalls hospitalisiert wurden. Resultat: In allen Punkten waren die Grippe-Geimpften besser dran als die Ungeimpften.
Die Grippeimpfung schien Seniorinnen und Senioren sogar gegen den Tod aus allen möglichen Gründen zu schützen: Das relative Risiko zu sterben war bei den Grippe-Geimpften etwa 30 bis 60 Prozent tiefer als bei den Nicht-Grippegeimpften. Den scheinbar besten «Schutz» vor dem Tod, aber auch vor Unfällen, Verletzungen sowie vor Lungenentzündungen bot die Grippeimpfung sogar, bevor die Grippesaison überhaupt begonnen hatte.
Das war der Beweis, dass etwas nicht stimmte. Denn die Grippe-Impfung hat keine solch wundersame Wirkung.
Gegenproben gefordert – aber selbst nicht gemacht
Der wahre Grund für die Unterschiede bei Grippe-Geimpften und -Ungeimpften war: Die Studie verglich zwei Gruppen von Menschen, die von Anfang an ein unterschiedliches gesundheitliches Profil aufwiesen. Deshalb lebte die insgesamt gesündere Gruppe der Geimpften länger und musste weniger in Spitälern behandelt werden. Die vermeintliche Schutzwirkung der Grippe-Impfung könnte allein darauf zurückzuführen sein, dass die Gruppe der geimpften Senioren insgesamt gesünder war als die Gruppe der ungeimpften. Dieser Unterschied kann bei einem völlig wirkungslosen Impfstoff eine Schutzwirkung von fast 50 Prozent vorgaukeln.
In der Fachsprache heisst der Effekt «healthy vaccinee bias». Er besagt, dass Ergebnisse von Beobachtungsstudien stark täuschen können, falls die geimpften Studienteilnehmenden gesünder sind als die nicht-geimpften. Den eindeutigsten Nachweis, dass eine von zwei Gruppen aus gesünderen und/oder weniger riskant lebenden Teilnehmenden besteht, liefert die Angabe der Gesamtsterblichkeit in beiden Gruppen.
Solche «Gegenproben» wie in dieser Studie sollte man bei Beobachtungsstudien häufiger durchführen, empfahl der Epidemiologe Marc Lipsitch 2010 in der Zeitschrift «Epidemiology». Dort zitierte er die eben erwähnte Studie ausgiebig. Lipsitch ist ein bekannter Wissenschaftler an der Harvard University. Auch der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach berief sich immer wieder auf ihn.
Doch elf Jahre später, in der Corona-Pandemie, vergass Lipsitch offensichtlich, was er damals selbst geraten hatte. Denn in mehreren Studien zur Wirksamkeit der ersten zwei Covid-Impfdosen von Pfizer, zur ersten und zur zweiten Boosterimpfung unterliessen er und seine Co-Autoren es, solche wichtigen Gegenproben zu machen und das Ergebnis mitzuteilen. Durchwegs fehlte nämlich die Angabe, ob sich Geimpfte und Ungeimpfte in der Gesamtsterblichkeit unterschieden.1
Fachzeitschriften lieferten die wichtigen Angaben nicht
Die Studien, an denen Lipsitch während der Pandemie beteiligt war, zählten zu den wichtigsten Covid-Impfstudien. Sie wurden in bekannten Fachzeitschriften wie dem «New England Journal of Medicine» (NEJM) und «The Lancet» veröffentlicht und bescheinigten der Pfizer-mRNA-Impfung eine sehr hohe Wirksamkeit. Angaben zur Gesamtsterblichkeit oder zur Sterblichkeit an anderen Ursachen als Covid-19 findet man in diesen Studien keine – obwohl Lipsitch elf Jahre zuvor solche Gegenproben empfohlen hatte.
Selbst auf Nachfrage rückten die Autoren mit diesen Angaben nicht heraus. Die Autorin dieses Artikels bat Ron Balicer, den Wissenschaftler, der bei mehreren dieser Studien als Kontaktperson angegeben ist, schon früher zweimal vergeblich, die Gesamtsterblichkeit bei Geimpften und Ungeimpften offenzulegen (Infosperber berichtete). Auch jetzt, auf erneutes mehrmaliges Nachfragen, antwortete er nicht. Noa Dagan, ein weiterer Wissenschaftler, der als Kontaktperson bei einer anderen Studie fungiert, hüllt sich ebenfalls in Schweigen.
«Die Studien zur Wirksamkeit der Impfung verheimlichen die Daten zu den Nicht-Covid-Todesfällen.»
Eyal Shahar, Epidemiologe und Professor für Public Health
Der Hinweis auf Lipsitchs widersprüchliches Verhalten stammt vom US-Epidemiologen Eyal Shahar. Shahar ist emeritierter Professor für Public Health an der Universität von Arizona und weist ebenfalls eine lange Liste von Publikationen in angesehenen Fachzeitschriften auf.
Nicht nur in den Studien von Lipsitch und Kollegen, auch bei diversen anderen wichtigen Covid-Impfstudien fehlen Angaben zur Gesamtsterblichkeit und zu Todesfällen an anderen Ursachen als Covid-19. «Die Studien zur Wirksamkeit der Impfung verheimlichen die Daten zu den Nicht-Covid-Todesfällen», schreibt Shahar auf seinem Blog auf «Medium».
Eyal Shahar hielt monatelang nach einer Studie Ausschau, die diese Informationen lieferte. Es sei nicht einfach gewesen, eine solche Veröffentlichung zu finden, stellte er fest.
Wichtige Angaben, aber kaum irgendwo erwähnt
Anfang Juli 2023 wurde der Public Health-Experte fündig: Die im Fachblatt «Gerontology» veröffentlichte Arbeit erschien im Februar 2022. Sie untersuchte, wie gut die mRNA-Impfung von Pfizer betagte Senioren in israelischen Pflegeheimen vom Beginn der Impfkampagne im Dezember 2020 bis im Mai 2021 schützte.
Im Gegensatz zu den Studien, bei denen Lipsitch beteiligt war und die Hunderte Male von anderen Wissenschaftlern und den Medien zitiert wurden, fand diese wichtige Studie im Fachblatt «Gerontology» fast keine Beachtung. Sie wurde bisher erst viermal in anderen wissenschaftlichen Arbeiten erwähnt.2
Das erstaunt, denn sie ist aus mehreren Gründen interessant:
Die Studie untersucht die Wirksamkeit der Pfizer-Impfung bei durchschnittlich 83 Jahre alten Senioren in Heimen – also genau der Risikogruppe, welche die Impfung am dringendsten benötigte, aber in anderen Impfstudien oft ausgeschlossen wurde oder nur marginal vorkam.
Die Studie erfasste die Wirkung vom ersten Tag nach der Impfung, wie früher üblich. Fast alle anderen Studien in der Corona-Pandemie zählten den Nutzen anders als früher (Infosperber berichtete): Mit der Begründung, dass die Impfung ihren vollen Impfschutz erst 7 oder 14 Tage nach der zweiten Impfdosis entfalte, wurden Geimpfte erst ab dann als geimpft gezählt. In den Tagen davor galten sie als «ungeimpft», obwohl sie die Covid-Impfung bereits erhalten hatten. Wer in dieser Zeit an Covid erkrankte, wurde in den meisten Studien nicht berücksichtigt. Diese Änderung führt dazu, dass die Impfwirksamkeit in den Covid-Impfstudien höher ausfällt, als wenn die Teilnehmenden bereits ab dem Moment der Impfung als «geimpft» gelten würden.
Die Studie gehörte während der Corona-Pandemie zu den sehr wenigen Impfstudien, welche nicht allein die Sterblichkeit an Covid-19 nannte, sondern auch die Gesamtsterblichkeit. Mit dieser Information lässt sich abschätzen, ob die Gruppe der Geimpften insgesamt gesünder war und wie stark der «healthy vaccinee bias» dazu beiträgt, dass die Wirksamkeit der Impfung überschätzt wird (Infosperber berichtete).
Den «healthy vaccinee bias» vom Resultat «abziehen»
Eyal Shahar nahm diese Studie Anfang Juli 2023 unter die Lupe. Er wollte herausfinden, welchen Einfluss der «healthy vaccinee bias» auf das Resultat – also die vermutete Schutzwirkung gegen Covid-19 – hat.
Mit Hilfe eines Korrekturfaktors gerechnet
Die Rechnung, die Shahar machte, ist schnell erklärt. Er verglich, wie viel Prozent der Geimpften und der Ungeimpften nicht an Covid, sondern an anderen Ursachen starben. 60 Tage nach der Impfung waren von den Ungeimpften beispielsweise 13,5 Prozent an anderen Ursachen als Covid verstorben, bei den Geimpften waren es 2,6 Prozent. Die Ungeimpften waren also insgesamt kränker als die Geimpften. Das wirkte sich auf alle Todesursachen aus.
Weil die Covid-Impfung bekanntermassen nicht vor anderen Todesursachen schützt, zeigt dieser Unterschied wahrscheinlich, um wie viel gesünder die Geimpften waren. Die Geimpften hatten folglich – schon vor der Impfung – auch ein niedrigeres Risiko, an Covid zu sterben als die Ungeimpften. Shahar berechnete aus den Angaben einen Korrekturfaktor von 13,5: 2,6 = 5,2. Mit diesem Korrekturfaktor korrigierte er die angebliche Schutzwirkung der Impfung.
Im besten Fall 37 Prozent Schutzwirkung
Die Studienautoren der «Gerontology»-Studie kamen zum Schluss, dass die Pfizer-mRNA-Impfung bei den Senioren in Heimen eine Schutzwirkung von 85 Prozent hatte, um Todesfälle an Covid zu verhindern. Die vermeintliche «Schutzwirkung» gegen alle möglichen Todesursachen betrug 64 Prozent.
Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 in der Studie
Unter den geimpften Heimbewohnerinnen und -bewohnern (blaue Linie) gab es in den 150 Tagen ab der ersten Impfdosis viel weniger Todesfälle an Covid-19 als bei den ungeimpften (rote Linie). Der Unterschied war in den ersten 60 Tagen am grössten. Wer nur diese Kurven sieht, vermutet eine grosse Schutzwirkung der Impfung.
Todesfälle an allen Ursachen in der Studie
Die gegen Covid Geimpften (blaue Linie) und die nicht gegen Covid Geimpften (rote Linie) unterschieden sich auch in Bezug auf Todesfälle aus allen möglichen Gründen. Das zeigen diese Kurven der Gesamtsterblichkeit bei den Covid-geimpften und den Covid-ungeimpften betagten Heimbewohnerinnen und -bewohnern. Angegeben ist der Anteil der Verstorbenen in beiden Gruppen im Verlauf von 150 Tagen ab der ersten Impfdosis.
Shahar kam zu einem anderen Schluss, den er auf seinem Blog veröffentlichte: Setzt man den Korrekturfaktor ein, dann verhinderte die Impfung bei diesen Senioren keine Todesfälle an Covid. Im allerbesten Fall hatte sie eine Schutzwirkung von 22 bis 37 Prozent, also weit entfernt von der immer behaupteten «hohen Wirksamkeit». Im schlechtesten Fall führte die mRNA-Impfung von Pfizer bei den Geimpften laut Shahars Rechnung während der ersten 30 Tage sogar zu mehr Todesfällen als bei den Ungeimpften.
Berichterstattung über Covid-Fälle in Altenheimen gestoppt
Da es keine etablierten Methoden gibt, um zu schätzen, wie stark der «healthy vaccinee bias» die angebliche Impfwirksamkeit beeinflusst, ist offen, wie nahe Shahars Resultat der Wahrheit kommt. Fest steht für ihn aber, dass seine Rechnung ihr näher kommt als die «Gerontology»-Studie. Der Public Health Experte ist sicher, dass die proklamierte, hohe Wirksamkeit der mRNA-Covid-Impfung von Pfizer nicht haltbar ist.
Das schliessen auch die Studienautoren der «Gerontology»-Studie nicht aus: «Die Gruppe der Ungeimpften könnte an mehr Begleiterkrankungen gelitten haben, wodurch sie anfälliger wurde für Sars-CoV-2-Infektionen und Tod. Dadurch würde die Impfung wirksamer erscheinen, als sie es tatsächlich ist», schreiben sie.
Shahar zitiert aus einem israelischen Zeitungsbericht vom Januar 2021:
«Während die zweite Dosis COVID-19-Impfstoff verteilt wird, schlägt die Pandemie in den Einrichtungen, in denen ältere Menschen leben, voll zu. In den vergangenen zwei Wochen wurden Ausbrüche in nicht weniger als 160 geriatrischen Einrichtungen verzeichnet, und allein bei den Bewohnern der vom Gesundheitsministerium zugelassenen Einrichtungen wurden 1098 neue bestätigte Fälle festgestellt. Parallel zum Anstieg der Patientenzahlen in Pflegeheimen und Einrichtungen für betreutes Wohnen hat ‹Senior Shield› [eine Arbeitsgruppe für das Covid-Management in Pflegeheimen] in den letzten zwei Wochen die Veröffentlichung des täglichen Berichts über die Covid-Morbidität in geriatrischen Einrichtungen auf der Website des Gesundheitsministeriums eingestellt.»
Interessenkonflikt der Studienautoren
«Warum stoppten sie die Berichterstattung über die Covid-Fälle in Heimen? Haben sie auch einen Anstieg der Covid-Todesfälle bei geimpften Bewohnern von Pflegeheimen im ersten Monat der Kampagne festgestellt?», fragt Shahar in seinem Blog auf «Medium».
Zwei der Autoren der «Gerontology»-Studie gehörten zur «Senior Shield»-Task Force – ein Interessenkonflikt, den sie selbst angeben. Diese Task Force war in den israelischen Alters- und Pflegeheimen für die Vorbeugung und das Erfassen der Coronavirus-Infektionen sowie für das Impfprogramm zuständig. Sie wurde von der israelischen Regierung ins Leben gerufen. Einer der Autoren der «Gerontology»-Studie leitete die «Senior Shield»-Task Force, ein anderer war für die Informationen zu Covid-Ausbrüchen und deren Eindämmung zuständig.
Auch viele andere Studien betroffen
Eyal Shahar geht davon aus, dass der «healthy vaccinee bias» auch bei anderen Covid-Impfstudien zum Tragen komme: «Wenn eine Studie bei gebrechlichen älteren Menschen zeigt, dass die Wirksamkeit der Impfung gegen den Tod an Covid weit entfernt davon ist, ‹hoch wirksam› zu sein, dann müssen wir daraus ableiten, dass alle anderen Studien, die ähnliche oder bessere Resultate zur Wirksamkeit lieferten, ebenfalls falsch sind – ebenso verzerrt durch den healthy vaccinee bias», schlussfolgert der Epidemiologe.
Shahars Misstrauen, ob die mRNA-Impfungen den Senioren einen Nutzen brachten, wird geschürt durch eine weitere Studie, welche die US-Ärztezeitung «Jama» am 6. April 2023 online veröffentlichte. Sie verglich die Sterblichkeit von US-Senioren, die im vergangenen Winter mit Covid oder mit Grippe ins Spital kamen.
Anhand der Angaben konnte Shahar die Wirksamkeit der Covid-Impfung errechnen: Wer von den Senioren ein- oder zweimal geimpft war, hatte ein um 29 Prozent tieferes Sterberisiko an Covid, verglichen mit ungeimpften Senioren. Wer geboostert war, hatte ein 41 Prozent tieferes Risiko, an Covid zu sterben, verglichen mit den Ungeimpften, und ein 17 Prozent tieferes Risiko, verglichen mit den nur ein- oder zweimal Geimpften.
Schutz vor Covid-19 «nahezu Null»
Doch unter der Annahme, dass der «healthy vaccinee bias» auch hier zum Tragen gekommen sei, habe die Wirksamkeit der Covid-Impfung in dieser Bevölkerungsgruppe – egal, ob mit einer, mit zwei oder mit mehr Impfdosen – «nahezu null» betragen, so Shahar.
Um den Nutzen der Impfung zu kennen, muss die Wirksamkeit in jeder Altersgruppe den unerwünschten Wirkungen gegenübergestellt werden. Shahar äussert sich in seinem Blog auch zu den Nebenwirkungen und zu kurz nach der Impfung aufgetretenen Todesfällen. Sein Fazit ist vernichtend: Die mRNA-Impfung gegen Covid-19 erfülle nicht die Standards, die für eine als sicher bezeichnete Impfung gelten würden. Milliarden von Menschen seien mit dem Slogan «sicher und wirksam» geimpft worden, schreibt Shahar, doch: «Es war weder das Eine noch das Andere.»
Infosperber fragte mehrere Fachleute in «Evidenz-basierter Medizin», ob sie diese Ansicht teilen. Alle anerkennen, dass der «healthy vaccinee bias» wichtig ist. Die Wirksamkeit der mRNA-Impfung sei überschätzt worden, sagen mehrere. Dennoch sind sie überzeugt, dass die Covid-mRNA-Impfung eine Schutzwirkung hatte, zumindest für einen gewissen Zeitraum. Dabei verweisen sie unter anderem auf die grosse Pfizer-Biontech-Impfstudie – allerdings waren dort nur 4,3 Prozent der Teilnehmenden über 75 Jahre. Diese Studie sagte also nicht viel darüber aus, wie gut die Impfung bei hochbetagten Heimbewohnerinnen und -bewohnern wirkte (Infosperber berichtete).
Man wünschte sich eine randomisierte, placebo-kontrollierte Studie bei den Senioren in Pflegeheimen. Dann hätte man dieses Problem der Verzerrung wie bei den Beobachtungsstudien nicht, sagt einer der Befragten. Bei solchen randomisierten Studien werden die Studienteilnehmenden – per Los zugeteilt – entweder geimpft oder sie erhalten nur ein Placebo gespritzt.
Die gleiche Forderung stellt auch Eyal Shahar auf. Das Impfen von älteren, gebrechlichen Menschen mit Impfstoffen, die an neue Virusvarianten angepasst sind, sollte ausgesetzt werden, findet er. Und die Behörden sollten vor der Zulassung solcher Impfstoffe verlangen, dass die Hersteller randomisierte, plazebo-kontrollierte Studien mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeheimen durchführen. Diese Studienanordnung gewährleistet viel eher als die Beobachtungsstudien, dass beide Gruppen von Anfang an vergleichbar sind – und nicht die eine gesünder ist als die andere. Dann, verlangt Shahar, sollten die Sterblichkeit an Covid und die Gesamtsterblichkeit erfasst werden.
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1 Die Autorin fragte bei Professor Lipsitch an:
Gibt es irgendeine Studie zu den Covid-Impfungen, bei der sie mitgewirkt haben, welche die Gesamtsterblichkeit und / oder die Todesfälle an anderen Ursachen als Covid-19 angibt? Oder wurde diese Information später gegeben, beispielsweise in einer Antwort auf einen Leserbrief?
Falls Sie diese Information nicht gegeben haben: Warum nicht?
Haben Sie oder ihre Co-Autoren überprüft, ob es einen «healthy vaccinee bias» gab? Falls ja: Bei welchen Studien und wo finde ich die Analysen und Resultate?
In seiner Antwort verwies Lipsitch auf die Kontaktpersonen der jeweiligen Studien. Sie seien für solche Auskünfte zuständig. Die Autorin fragte daraufhin nochmals bei Lipsitch nach: «Haben sie bei diesen Studien vorgeschlagen, dass man die Gesamtsterblichkeit und / oder die Todesfälle an anderen Ursachen als Covid-19 untersucht?» – Lipsitch antwortete nicht mehr.
2 Auch die Autorin verpasste die «Gerontology»-Studie bei der Recherche nach Informationen zum Artikel über die Wirkung der mRNA-Covid-Impfungen bei Senioren. Das Bundesamt für Gesundheit nannte diese Studie ebenfalls nicht, als die Autorin damals dort nach entsprechender Fachliteratur fragte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Die Autorin ist Ärztin und hat selbst Patientinnen und Patienten mit mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 geimpft. _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Esther Diener-Morscher / Wo eine Frucht auf der Etikette zu sehen ist, hat es manchmal erbärmlich wenig davon drin. Zum Beispiel nur 0,2 Gramm.
Saftige Erdbeeren auf Lebensmittel-Etiketten machen Lust. Würde man vor dem Kauf die Zutatenliste genau studieren, wäre man in manchen Fällen ernüchtert: Verkauft werden einem oft viel Zucker, Aromen oder ganz andere Früchte, aber nur Spuren von Erdbeeren.
Ein krasses Beispiel sind die Erdbeer-Fruchtrollen, die in der Migros und in verschiedenen Online-Shops verkauft werden. Als «100 % natürlich» werden sie angepriesen. Das sind sie tatsächlich, aber den Erdbeergeschmack muss man sich selber zusammenfantasieren.
Denn sie bestehen zu 65,8 Prozent aus Äpfeln, zu 32,9 Prozent aus Birnen; das macht schon 98,7 Prozent. Den kläglichen Rest machen nicht etwa die Erdbeeren aus, von diesen gibt es nur 1 Prozent. Denn 0,3 Prozent braucht es noch für den schwarzen Karottenextrakt. Sonst wären die Fruchtrollen hellbraun und würden nicht einmal mehr farblich an Erdbeeren erinnern.
Da eine Fruchtrolle nur 20 Gramm wiegt, hat es darin 0,2 Gramm Erdbeere – also eher ein Spurenelement. Und sicher nicht anderthalb Erdbeeren, wie auf der Packung abgebildet sind.
Viel mehr Zucker und Farbe als Beere
Auch Erdbeer-Glacé ist nicht wesentlich besser. Die Erdbeer-Cornets von Coop enthalten 2,5 Prozent Erdbeerpüree und 2,5 Prozent Erdbeersaftkonzentrat. Pro Cornet macht das je knapp 2 Gramm Püree und Saftkonzentrat. Kompensiert werden die fehlenden Erdbeeren mit reichlich Zucker: Pro Glacé sind es gut 20 Gramm. Damit der Geschmack und die rote Farbe stimmen, hat es künstliches Aroma und die orange-rot färbenden, künstlich hergestellten Farbstoffe E160a und E160e drin.
Erdbeerjoghurts enthalten meist mehr Früchte. Doch auch die üblichen etwa 8 Prozent würden die Joghurt weder geschmacklich noch farblich gross beeinflussen. Denn bei einem Joghurtbecher von 180 Gramm wären das nur gerade knapp 15 Gramm – also etwa eine mittelgrosse Beere.
Die meisten Erdbeerjoghurts enthalten deshalb künstliches Aroma und Randen- oder Rüeblisaft zum Färben. So lässt sich die Illusion vom Erdbeergeschmack erhalten.
Es gibt auch Erdbeerjoghurt, das mit Natürlichkeit und nur drei Zutaten wirbt. Dessen Inhalt: Knapp 20 Gramm Erdbeeren – also etwa anderthalb Stück – dazu 20 Gramm Zucker und 110 Gramm Joghurt.
Ein Stückchen Erdbeere pro Becher
Auch das Griess-Töpfli von Coop verspricht auf dem Bild mehr Früchte, als effektiv drin sind: Anderthalb Beeren und zwei Rhabarberstücke sind abgebildet. Doch das Bild ist weit übertrieben. Eine durchschnittliche Erdbeere wiegt um die 15 Gramm. Im Töpfli drin sind 5 Gramm, also etwa ein Drittel einer Beere.
Auch in etlichen anderen Lebensmitteln werden Früchte spärlich verwendet. Das hat vor allem drei Gründe: Sie sind oft teurer als andere Zutaten, sie können die Verarbeitung aufwändiger machen und die Haltbarkeit verkürzen.
Ein Hauch Bananenpulver
So ist es viel praktischer, der so genannten «Trinkmahlzeit» Yfood Happy Banana einfach etwas Bananenpulver beizumischen, als eine echte Banane, oder zumindest ein Scheibchen hinzuzufügen. Doch sogar mit dem praktischen Pulver gehen die Hersteller äusserst sparsam um: Der Drink enthält nur 0,1 Prozent Bananenpulver.
Viel Reismehl im Kastanienknäckebrot
Falsche Erwartungen erweckt auch ein Kastanien-Knäckebrot aus der Migros. Auf der Packung sind nur Kastanien abgebildet. Doch schaut man auf die Zutatenliste, wird klar: Die «knusprigen Bio-Kastanien-Schnitten» bestehen nur zu 30 Prozent aus Kastanienmehl. Der Rest, nämlich fast 70 Prozent ist Reismehl. Der Kastaniengeschmack liesse sich kaum erahnen, würde nicht das Bild darauf hinweisen, dass ein solcher zu erwarten wäre.
Der Kirschgeschmack ist vor allem künstlich
Besonders enttäuschend sind auch Früchtetees: Obwohl oft Kirschen, Erdbeeren oder andere Früchte abgebildet sind, ist davon selten etwas drin. Beispiel: Im Früchtetee «Süsse Kirsche» hat es Hagebutten, Hibiskus, Brombeerblätter, Süsskraut, viel künstliches Aroma und etwas Kirschsaftgranulat aus Zucker und Kirschsaft.
Die Hersteller rechtfertigen ihre täuschenden Anpreisungen seit Jahren damit, dass die abgebildeten Früchte auch in sehr kleinen Mengen «geschmacksgebend» seien. Zudem ist meistens auf der Verpackung ein Hinweis aufgedruckt «mit Kirschengeschmack» oder «mit Kirsch-Aroma». Damit sei klar, dass zusätzlich Aroma beigefügt werde.
Die kantonalen Labore, welche die korrekte Anpreisung von Lebensmitteln kontrollieren müssen, tolerieren diese Argumentation – trotz des gesetzlichen Täuschungsverbot. Vor solchen Täuschungen schützen können sich Käuferinnen und Käufer nur, indem sie das Kleingedruckte der Zutatenliste genau lesen.
Dies wird besonders für ältere Menschen allerdings immer schwieriger. Denn immer häufiger sind diese Listen zu klein oder wegen zu wenig Farbkontrast kaum lesbar. Der Bund schreibt vor, dass ein kleines «x» mindestens 1,2 mm hoch sein muss. Bei kleineren Packungen sind es mindestens 0,9 mm.
Viel zu kleine Schrift und schlecht lesbar: Viele Zutatenlisten sind eine Zumutung.
Doch die immer länger werdenden Zutatenlisten haben immer weniger Platz. So dass die Vorschriften gar nicht mehr eingehalten werden können.
Das lässt sich aus der Zutatenliste herauslesen
Die Zutatenliste muss alles auflisten, was in einem Lebensmittel enthalten ist. Die Nennung erfolgt in abnehmender Reihenfolge. Das heisst: Je weiter vorne eine Zutat genannt wird, desto grösser ist ihr Anteil am Produkt.
Für Zutaten, die auf der Verpackung mit einem Bild oder mit Text besonders hervorgehoben werden, muss im Zutatenverzeichnis zusätzlich angegeben werden, wie hoch der prozentuale Anteil der Zutat ist.
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Urs P. Gasche / Viele Spenden der Leserschaft sowie unbezahlte Arbeit ermöglichen ein unabhängiges Informationsangebot, das grosse Medien ergänzt.
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Die verantwortliche Redaktion
Das Redaktionsteam, welches den Inhalt von Infosperber verantwortet, zählt zurzeit sechs Mitglieder. Der Arbeitseinsatz der einzelnen Personen schwankt zwischen 30 und 100 Prozent. Wir stellen sie Ihnen hier in der Reihenfolge ihres Dienstalters bei Infosperber vor.
Urs P. Gasche
Urs P. Gasche hat einen Master-Abschluss der Internationalen Beziehungen in Genf, war Chefredaktor der «Berner Zeitung», Leiter der SRF-Sendung «Kassensturz» und Mitherausgeber des «K-Tipp». Er ist (Co-)Autor mehrerer Bücher wie «Im Kreuzverhör: Gesundheitskosten» (2006) und «Schluss mit dem Wachstumswahn» (2010).
Barbara Jud war Redaktorin bei der «Luzerner Zeitung» (vormals «Vaterland»), Produzentin bei den «Luzerner Neuste Nachrichten» (LNN), der «Schweizer Woche», dem «K-Tipp» und dem «Gesundheits-Tipp».
Martina Frei hat Humanmedizin studiert. Sie arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und als Ärztin. Frei hat zwei Bücher über seltene Erkrankungen verfasst.
Pascal Sigg studierte Journalismus und Organisationskommunikation sowie englische und deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft. Im Mai 2023 schloss er seine Dissertation an der Universität Zürich ab. Neben dem Studium publizierte er seit 2005 als freier Journalist in zahlreichen Medien.
Marco Diener hat an der Universität Bern (Sekundarlehramt) und an der Universität Chambéry in Frankreich studiert. Er war Redaktor bei der «Berner Zeitung», beim «K-Tipp» und beim «saldo».
Esther Diener-Morscher studierte Deutsche Sprachwissenschaft, Philosophie und Medienwissenschaft. Sie arbeitete als freie Mitarbeiterin bei Radio ExtraBern auf der Nachrichten-Redaktion, zudem publizierte sie als freie Journalistin in zahlreichen Print- und Online-Medien.
Perez Süess Rafael E., Zürich Müller Martin, Aarau
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Maienfisch Edith, Freienstein ZH
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Der Autor ist Präsident der Schweizerischen Stiftung zur Förderung unabhängiger Information SSUI und Mitglied der Redaktion. _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Martina Frei / Die Zeitschrift «Annals of Improbable Research» an der Harvard-Universität in Cambridge vergab zum 33. Mal Ig-Nobelpreise.
Mit Ig-Nobelpreisen werden kuriose Forschungsarbeiten geehrt, die Menschen «zuerst zum Lachen, dann zum Denken» bringen sollen. Der Name Ig ist ein Wortspiel: Ignoble bedeutet etwa «unwürdig» oder «unehrenhaft». Unehrenhaft sind die gewürdigten Forschungen zwar nicht, aber sehr speziell.
Einer der soeben Geehrten ist der südkoreanisch-amerikanische Forscher Seung-min Park. Er erfand die sogenannte Stanford-Toilette – ein Klo, das mit verschiedenen Hilfsmitteln die von Menschen ausgeschiedenen Substanzen analysiert. «Verschwendet eure Ausscheidungen nicht», erklärte Seung-min Park bei seiner kurzen Dankesrede zur Preisvergabe.
Seine Erfindung ist eines der bisher ausgefeiltesten «smarten» WCs. Er hatte es in der Fachzeitschrift «Nature Biomedical Engineering» vorgestellt. Zusammen mit Kolleginnen entwickelte er eine Klobrille mit Aufsatz, die viele Menschen wohl nicht einmal geschenkt haben möchten – und die ethische Fragen aufwirft.
Mehrere Kameras schauen zu
Infosperber informierte am 9. März 2023 darüber. Parks Prototyp erfasst mit Hilfe von Sensoren, kleinen Videokameras an der Klobrille, Analysegeräten und Computern Dutzende von Parametern. Ein Sensor auf der Sitzfläche etwa misst, wie lange der Benutzer auf dem WC sitzt und wie lange die Defäkation dauert. Eine Kamera filmt die Stuhlbeschaffenheit. So erkennt der Computer, ob der Benutzer beispielsweise an Verstopfung leidet oder an Durchfall.
Der Prototyp mit Drucksensor (1), Bewegungssensor (2), Urinanalyse-Streifen (3), Stuhlkamera (4), Kamera für den After (5) und Harnfluss-Kamera (6).
Das WC warnt
Hochgeschwindigkeitskameras messen, wie oft jemand Wasser löst, die Harnmenge, die Entleerungszeit der Harnblase, die maximale Flussrate. Beim Nachtröpfeln haperte es mit der Messgenauigkeit allerdings noch, wie Experimente zeigten – ein potenzielles Manko beispielsweise bei der Verlaufsbeobachtung der Prostatavergrösserung, welche die smarte Toilette dereinst ermöglichen soll.
Anstatt einen Teststreifen von Hand in den Urin zu tauchen, erledigt Parks WC das selbst. Mikroskopische Blutspuren, Hinweise auf Blasenentzündung, erhöhte Eiweissausscheidung … insgesamt zehn krankhafte Veränderungen analysiert das WC und setzt eine Meldung ab, wenn etwas nicht stimmt. So das Fernziel.
Personenerkennung anhand der Afterrosette
Weil eine Toilette meist von mehreren Personen benützt wird, sei die Benutzeridentifikation entscheidend. Seung-min Park und seine Kolleginnen und Kollegen bieten dafür zwei Lösungen an: Beim Betätigen der WC-Spülung erkennt ein Sensor den Fingerabdruck und kann die Urin- und Stuhl-Daten so einer Person zuordnen.
Oder man benützt statt des Fingerabdrucks den «Analabdruck» als Erkennungsmerkmal. Dazu filmt eine Kamera die «Region des Interesses», in diesem Fall den After. Anhand der Aufnahmen weiss der Computer, wer sich gerade auf der smarten Toilette erleichtert.
Ein Herz-EKG auf der Toilette machen
Noch haben Park und seine Kollegen nicht alle Funktionen in einem WC-Aufsatz integriert, aber das soll kommen. «Die Toilette wird schliesslich als tägliche Klinik für das kontinuierliche Monitoring menschlicher Ausscheidungen dienen», prophezeien sie.
Andere Forschergruppen experimentierten mit «e-Nasen», welche den Harngeruch untersuchen. Oder sie trainieren die «smart toilets» auf Geschlechtserkennung, Körperfettmessung, Messung des Körpergewichts oder das Aufzeichnen der Herzströme, während die Versuchspersonen auf der Klobrille sitzen.
Urin als «das neue Blut»
An der Tech-Messe CES in Las Vegas stellten mehrere Firmen im Januar 2023 ihre Produkte fürs stille Örtchen vor, das nun ein High-Tech-Labor werden soll. Da ist zum Beispiel der WC-Aufsatz von «Olive Diagnostics», der auf die Klobrille montiert wird. Laut Hersteller diagnostiziert das Gerät mit Hilfe von Photodioden Harnwegsinfekte, Nierensteine, Verstopfung, Dehydrierung und Herzversagen. «Urin ist das neue Blut», ist man bei der Firma überzeugt.
Die Frage nach der Anzahl richtiger, falsch-positiver und falsch-negativer Ergebnisse beantwortet der Hersteller ausweichend: Bezüglich der Pinkelfrequenz, der Dauer und der Harnmenge habe man bereits «starke, genaue Resultate». Was die Urinanlaytik betreffe, erwarte man in den nächsten sechs Monaten erste «starke, genaue Resultate». Das spezielle Gerät sei derzeit an einer Handvoll Orte in den Niederlanden im Einsatz.
Darmkrebs-Früherkennung als Fernziel
Wenn es nach den Tüftlern geht, könnten smarte Toiletten dereinst ein ganzes Potpourri an Diagnosen stellen und zum Beispiel automatische Früherkennungstests auf Blut im Stuhl zum Darmkrebs-Screening durchführen, Darmentzündungen, Zyklusunregelmässigkeiten, sexuell oder anderweitig übertragbare Krankheiten frühzeitig erkennen, bei schlechter Nahrungsverwertung oder zunehmender Dehydrierung warnen, Schwangerschaftstests oder Drogenscreening machen, Veränderungen der Darmflora analysieren und vieles mehr.
Diskret, schmerzfrei und bequem sei das, lobte Wissenschaftler Savas Tasoglu die Vorteile. Er arbeitet an der türkischen Universität Koç und am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. die Vorzüge. «Das ultimative Ziel» sei es, die erhobenen Daten via PC oder Smartphone in Echtzeit mit dem Benutzer und seinen medizinischen Betreuern zu teilen.
Es hapert an der Akzeptanz
Doch wollen die Benutzer das wirklich alles wissen? Selbst unter 300 Studierenden der Elite-Universität Stanford im Silicon Valley, an der Seung-min Park und sein Team die smarten Toiletten entwickeln, gab in einer Umfrage fast jeder Dritte an, er oder sie fühle sich nicht wohl bei dem Gedanken, so ein WC zu benützen. Vor allem der «Analabdruck» sowie die Kameras, die Benutzer bei ihren Verrichtungen filmen, stiessen auf Ablehnung.
Schon im April 2022 hatte Tasoglu im Fachmagazin «Nature Reviews Urology» vom «toiletten-basierten Gesundheitsmonitoring mit Hilfe von Urin» berichtet. Was die Kameras betrifft, hatte Tasoglu bereits eine Idee: Der Harnfluss liesse sich auch mit Hilfe von Ultraschall messen. «Das könnte die Akzeptanz bei den Benutzern erhöhen», schrieb er.
Die High-Tech Klobrille wirft viele ethische Fragen auf
Auch ethische Fragen sollten erst noch gelöst werden, zum Beispiel:
Kann ein Mensch, der dringend aufs WC muss, tatsächlich freiwillig den Urin- oder Stuhlanalysen zustimmen, wenn das einzige erreichbare WC in dem Moment eine «smart toilet» ist?
Sind die Daten, die in privaten Badezimmern oder an öffentlichen Orten installierte, smarte Toiletten erheben, als Gesundheitsdaten zu betrachten, die speziell geschützt werden müssen?
Was ist, wenn die «smart toilet» in einem Land, in dem Schwangerschaftsabbrüche verboten sind, merkt, dass eine seit kurzem schwangere Frau wieder menstruiert?
Was, wenn die «smart toilet» illegale Drogen im Urin findet oder eine Alkoholabhängigkeit erkennt?
Was geschieht mit den Daten, die weitergegeben werden?
In einem Anfang Februar erschienen Artikel in «Science Translational Medicine» weisen Seung-min Park und mehrere Kolleginnen selbst auf diese Punkte hin. Ausserdem müsse noch geklärt werden, in welchen Abständen die «smart toilets» Urin- und Stuhlanalysen durchführen und ab wann ein Wert als krankhaft gelten soll.
Der Nutzen ist noch nicht erwiesen
Noch ist gar nicht klar, ob die Toilettenbenutzer von verfrühter und verstärkter Krankheitserkennung in jedem Fall profitieren – möglicherweise verlängert ein solches Frühwarnsystem nur ihre Angst- und Leidenszeit mit einer Diagnose, treibt die Gesundheitskosten hoch oder schadet den Betroffenen sogar, weil es zu Fehldiagnosen führt oder zu unnötigen «Überbehandlungen» von Krankheiten.
Dass da noch gewisse Hürden zu überwinden sind, ist auch den Forschenden klar. Trotzdem glauben sie an die Zukunft der smarten WCs: Akkurat, verlässlich, kosteneffizient, komplett automatisiert würden diese dereinst funktionieren. Und nebenbei liessen sich damit ganz viele Daten für die Wissenschaft sammeln – auch von Personen, die bisher kaum an Studien teilnehmen, weil sie keine Zeit dafür haben oder in einem Heim sind.
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Weiterführende Informationen
Berichte über andere diesjährige Preisträger hier und hier.
Red. / Für fast 90 Prozent der CO2-Emissionen bis 2050 aus neuen Quellen werden nur zwanzig Staaten verantwortlich sein.
Wenn diese zwanzig Länder darauf verzichten würden, neue Öl- und Gasquellen zu erschliessen, gingen bis 2050 173 Milliarden Tonnen CO2 weniger in die Atmosphäre. Das ist so viel CO2, wie allein die USA innerhalb von dreissig Jahren verursachen. Zu diesem Schluss kommt die Studie «Planet Wreckers: How 30 Countries’ Oil and Gas Extraction Plans Risk Locking in Climate Chaos», welche die NGO «Oil Change International» vor wenigen Tagen veröffentlichte.
Geplante Ausbeutung zusätzlicher Öl- und Gasquellen bis 2050 Anteil der Länder
Fünf reiche Länder des globalen Nordens, die über die grössten wirtschaftlichen Mittel und die grösste moralische Verantwortung für einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern verfügen, sind laut Studie für die Hälfte der bis 2050 geplanten Expansion neuer Öl- und Gasfelder verantwortlich: die USA, Kanada, Australien, Norwegen und Grossbritannien. Für vier Fünftel der geplanten Expansion sind die Lizenzen bereits vergeben.
Dunkelbraune Fläche = Ausbeutung der bestehenden Öl- und Gasquellen. Rote Fläche: Erschliessung zusätzlicher Quellen durch die zwanzig «Planeten-Zerstörer». Ocker und gelb = Zusätzliche Quellen, die andere Länder bis 2050 ausbeuten wollen.
Falls die zwanzig «Zerstörer des Planeten» ihre geplanten neuen Öl- und Gasquellen erschliessen, würde es unmöglich, die Erwärmung der Erde auf 1,5 Grad zu beschränken.
Die USA seien der künftige «Planet-Zerstörer Nummer eins», da sie allein für mehr als ein Drittel der CO2-Belastung durch die geplante zusätzliche globale Öl- und Gasförderung bis 2050 verantwortlich sind (vor allem Fracking). Schon heute sind die USA der grösste Öl- und Gasproduzent der Welt.
Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die in diesem Jahr Gastgeber der entscheidenden UN-Verhandlungen sind, werden bis 2050 ebenfalls zu den grössten Erweiterern der Öl- und Gasproduktion gehören, obwohl sie versprachen, ihre Präsidentschaft der Klimakonferenz zu nutzen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.
Protest während Klimaverhandlungen
Studie-Coautor Romain Ioualalen erklärte:
«Eine Handvoll der reichsten Nationen der Welt riskiert unsere Zukunft, indem sie die Forderung nach einem raschen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen ignorieren. Eine weitere Steigerung der Produktion fossiler Brennstoffe ist mit einer lebenswerten Zukunft nicht vereinbar.»
Tessa Kahn, Direktorin der britischen NGO Uplift, kommentierte:
«Wir hören oft, dass Grossbritannien in Sachen Klimaschutz vorbildlich sie. Aber wir sind Teil eines kleinen Clubs von Ländern, die eine übergrosse Rolle bei der Verursachung der Klimakrise spielen. Wir wissen, dass wir nicht ständig neue Öl- und Gasfelder erschliessen können, wenn wir eine bewohnbare Welt wollen, aber genau das tut diese Regierung. Rishi Sunak muss aufhören, sich den Forderungen der Unternehmen für fossile Brennstoffe zu beugen, die weiterhin obszöne Gewinne einfahren, während Millionen von uns es sich nicht leisten können, ihre Häuser zu heizen.»
Frode Pleym, Leiter von Greenpeace Norwegen, meinte:
«Dieser Bericht bestätigt, dass Norwegen sich auf einem Highway in die Klimahölle befindet. Die Wissenschaft könnte nicht deutlicher sein: Es gibt keinen Platz für einen einzigen Tropfen Öl aus neuen Feldern. Dennoch gibt der Staat Milliarden aus für die Suche nach immer mehr Quellen, sogar in der gefährdeten Arktis.»
Schliesslich die 16 Jahre alte Helen Mancini, Fridays For Future aus New York City:
«Der ‹Planet-Zerstörer›-Bericht zeigt die Gefahren, wenn fossile Brennstoffe weiter extrahiert werden und rechnet mit den historischen Umweltverschmutzern der Welt, insbesondere den USA, ab. Der Aktivismus der Jugendlichen ist nicht radikal, er ist eine Forderung nach Überleben, die die Planet-Wreckers beherzigen müssen.»
Den Öl- und Gaskonzernen sei nicht zu trauen, heisst es in der Studie. «Oil Change International» stellt deshalb unter anderen folgende Forderungen auf:
Keine neuen Öl- und Gaslizenzen mehr vergeben
Keine neuen Förderprojekte mehr genehmigen
Subventionen an fossile Brennstoffe abschaffen und mit dem Geld dezentrale erneuerbare Energien fördern
Schnellstmöglicher Ausstieg der reichen Länder des Nordens aus fossilen Energieträgern
Konzerne (u.a. mit Sitz in der Schweiz) für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden verantwortlich machen
Die Bevölkerung fordere einen schnellen und fairen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, einen allgemeinen Zugang zu sauberer Energie, einen massiven Einsatz erneuerbarer Energien und Energieeinsparungen, stellt die NGO fest und fragt dann zum Schluss:
Werden die Regierungen auf diese Forderungen hören oder weiterhin die Industrie unterstützen, die im Zentrum der Klimakrise steht?
Werden die Regierungen auf den wachsenden Chor wissenschaftlicher, religiöser und politischer Persönlichkeiten hören, die das Ende der Ära der fossilen Brennstoffe fordern?
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Esther Diener-Morscher / Einen grossen Teil ihrer Kulturspende steckt die Migros ihrer Klubschule zu. Für Kulturschaffende bleibt wenig.
Wer glaubt, die Migros stecke ihr Kulturprozent in Kultur, liegt falsch. Vielmehr fliesst ein grosser Teil in Geschäfte, welche die Migros selber betreibt. Nämlich in die Klubschulen. Von den 139 Millionen Franken, die das Kulturprozent letztes Jahr ausmachte, zwackte die Migros 85 Millionen Franken für ihre Bildungskurse ab. Für die Bereiche Gesellschaft, Freizeit, Verwaltung und Wirtschaft gab es 28 Millionen. Für Kulturprojekte blieben nur knapp 26 Millionen Franken übrig.
Würde die Migros Bildung anbieten, die den kommerziellen Anbietern zu wenig einträglich ist, wäre wenig einzuwenden. Mit dem Kulturprozent könnte sie immerhin Kurse unterstützen, die sonst gar nicht stattfinden könnten. Doch stattdessen setzt die Migros auf das, womit sich Geld machen lässt:
Derzeit sind es Trend-Kurse wie Pilates, Brotbackkurse oder Bodytoning – alles Kurse, die es auch ohne das finanzielle Engagement der Migros gibt.
Das Kulturprozent finanziert zudem Aus- und Weiterbildungen in Informatik und Wirtschaft. Auch hier bietet die Migros kein Nischenangebot, sondern konkurrenziert viele andere kommerzielle Anbieter.
In Zürich investiert die Migros Geld vom Kulturprozent in die Eventlocation «Eins0Eins», welche «unvergessliche Schulungen, Meetings und berauschende Feiern in einzigartiger Atmosphäre» anbietet.
In Bern zählt die Migros auch das Restaurant «The Flow» in der «Welle 7» zu ihrem Bildungsangebot und lässt es grosszügig vom Kulturprozent profitieren.
In der «Welle 7» zählen über 9000 Quadratmeter Arbeits- und Sitzungszimmer, die sie vermietet, zum Angebot des Kulturprozents.
Für die Migros ist das kein Problem. Auf Anfrage von Infosperber antwortete die Pressesprecherin, die Migros verstehe Bildung «als Motor für Gesellschaft und Wirtschaft».
In Bern finanziert das Kulturprozent den Bahnhof-Standort
Dank des Kulturprozents konnte sich die Migros in Bern einen der besten Standorte direkt beim Bahnhof sichern. Als die Post vor ein paar Jahren ihre ehemaligen Gebäude direkt bei den Gleisen freigab, mietete die Migros den ganzen Block, der heute «Welle 7» heisst.
Für eine Migros-Filiale war die Fläche auf mehreren Stockwerken allerdings viel zu gross. Doch die Migros zügelte auch ihre Klubschule an den teuren Standort, suchte sich Untermieter und richtete Dutzende von Arbeits- und Sitzungszimmern, die sie vermietet, ein.
Viele Untermieter warfen schon nach kurzer Zeit das Handtuch, weil die Mieten so hoch waren. Doch die Migros kann sich den Standort weiterhin leisten – dank des Kulturprozents, das über 10’000 Quadratmeter der «Welle 7» mitfinanziert.
Drei bis fünf Millionen Franken Miete pro Jahr
Die Jahresmiete für diese Fläche dürfte drei Millionen Franken betragen, wenn man von einem Mittelwert ausgeht, mit dem die Berner Immobilienexperten von Wüest Partner rechnen. Es können aber auch gut fünf Millionen Franken sein, wenn man mit Mietzinsen in der Nähe vergleicht. Vorher bot die Klubschule viele ihrer Kurse an weniger prominenter, dafür an viel billigerer Lage im eigenen Gebäude im Wankdorf an.
Mit dem Umzug an den Bahnhof konnte die Migros dank den Millionen aus dem Kulturprozent gleich doppelt profitieren: Sie konnte sich den prestigeträchtigen Standort bei den Gleisen leisten. Und sie konnte Coop ausstechen. Der Konkurrent hat zwar auch eine Filiale auf dem Post-Areal. Diese liegt aber sehr versteckt und abseits der grossen Pendlerströme.
Die Migros finanziert mit dem Kulturprozent vor allem eigene Interessen. Das wird auch bei den Gesundheitskursen deutlich. Dort steht: «Die Migros zählt zu den begehrtesten Arbeitgeberinnen in der Gesundheitsbranche.» Nach der Ausbildung würden «spannende Jobs» bei der Klubschule, Migros Fitness oder Medbase warten.
Auch bei den Sprachen beackert die Migros vor allem jenes Feld, auf dem auch die kommerziellen Anbieter arbeiten: Englischkurse. Aussergewöhnliche Sprachen, für die sich kaum kostendeckende Kurse finanzieren lassen, sind der Migros offenbar ebenfalls zu wenig einträglich. Kurse für Katalanisch oder Swahili gibt es nicht; und für Isländisch und Hebräisch beschränkt sich die Migros auf Online-Angebote.
Die Kultur muss darben
Für Kulturprojekte gab die Migros letztes Jahr weniger als einen Fünftel des Kulturprozents aus, nämlich 26 Millionen Franken.
Und ganz im Gegensatz zur Freigiebigkeit bei den einträglichen Klubschulangeboten, ist die Migros bei den eigentlichen Kulturausgaben zunehmend geizig. Während sie für ihre «Bildungsangebote» grosszügig Millionen ausgibt, spart sie in der Kultur ganze Einrichtungen und Projekte weg.
Bis 2019 hatte die Migros Aare eine eigene Kunstsammlung und konnte mit jährlich 200’000 Franken Werke zukaufen. Damit wurde die regionale Kunstszene der Migros-Aare-Kantone Aargau, Bern und Solothurn gefördert. Die Sammlung wird nicht mehr weitergeführt.
In fünf Schweizer Städten bieten Kulturbüros den Kulturschaffenden Werkplätze, Geräte und Unterstützung für ihr Projekte. Die Migros will ihre Unterstützung herunterfahren. Zum Beispiel soll das Kulturbüro Bern nächstes Jahr nur noch 100’000 Franken erhalten – weniger als die Hälfte des bisherigen Betrags.
Auch bei gewissen Kursen setzt die Migros gnadenlos den Rotstift an. So führt die Berner Migros-Klubschule keine Keramik- und Töpferkurse mehr. Weil es dafür eine Werkstatt braucht, sind solche Kurse kaum einträglich – eigentlich ein klassischer Fall für Unterstützung vom Kulturprozent. Doch die Migros stellt lapidar fest: Sie richte sich «auf die sich dynamisch ändernden Marktbedingungen aus» und passe das Angebot «den veränderten Kundenbedürfnissen» an.
Nicht im Sinne des Gründers
Das Kulturprozent ist in den Staturen der Migros verankert. Die Migros kann den Betrag deshalb nicht einfach kürzen oder streichen. Die Verwendung des Gelds ist allerdings weit gefasst: Das Geld müsse «für wirtschaftspolitische, soziale und kulturelle Zwecke» verwendet werden. Das ermöglicht der Migros, die verfügbaren Millionen fast beliebig auszugeben – auch fürs eigene Geschäft.
Etikettenschwindel nennt das der Journalist Beni Frenkel in einem Artikel auf Inside-Paradeplatz. Sicher ist: Der heutige Einsatz des Kulturprozents entspricht nicht der Absicht von dessen Begründern. Ende 1950 veröffentlichten Adele und Gottlieb Duttweiler in der Migros-Zeitschrift «Brückenbauer» 15 Thesen, die als Leitlinie für die Weiterführung der Migros dienen sollten. Unmissverständlich halten die Duttweilers dort fest: «Das Allgemeininteresse muss höher gestellt werden als das Migros-Genossenschafts-Interesse […]. Wir müssen wachsender eigener materieller Macht stets noch grössere soziale und kulturelle Leistungen zur Seite stellen.»
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Daniela Gschweng / Ein Auto kostet die deutschen Steuerzahlenden jährlich 5000 Euro. Sonst könnten sich selbst Gutverdienende kaum ein Auto leisten.
Versicherung, Steuer, Vignette, Werkstatt, Winterreifen, Waschanlage … und irgendwo abstellen muss man den fahrbaren Untersatz auch. Autofahren kostet eine Menge Geld. Die meisten Leute bemerken gar nicht, wie viel. Besonders grössere Reparaturen oder Unfallschäden werden unterschätzt, fand eine Studie, die 2022 in der Zeitschrift «Ecological Economics» veröffentlich wurde.
Um die privaten oder auch «internen» Kosten ging es den Forschenden in «The lifetime cost of driving a car» aber nur zum Teil. Sie wollten wissen, wie viel ein Auto in Deutschland insgesamt kostet – inklusive der Kosten für Strassen, öffentliche Parkplätze, Gesundheits- und Umweltschäden. Selbst die Zulassung von Fahrlehrern kostet Geld. All das gehört zu den sozialisierten oder «externen» Kosten, die die Allgemeinheit bezahlt.
Jeder Verbrenner in Deutschland kostet die Allgemeinheit 5000 Euro im Jahr
Und diese zahlt beim Autofahren kräftig dazu. Für jeden Verbrenner in Deutschland legt sie 5000 Euro im Jahr drauf, rechneten die Mobilitätsforschenden Stefan Gössling, Jessica Kees und Todd Litman aus.
Bildlich gesprochen: Wenn der Nachbar mit dem Auto zum Briefkasten fährt, zahlt das ganze Quartier mit. Und zwar zwischen 0,31 und 0,35 Euro pro Kilometer – berechnet für einen Opel Corsa und einen Mercedes GLC. Zwischen 45 und 86 Cent pro Kilometer bezahlt der Halter selbst. Neben den Kosten für einen Corsa 1.2 und dem Mercedes-SUV berechneten die Forschenden auch die Kosten für einen VW Golf, der als Mittelklassewagen dazwischenliegt.
Die Studienautor:innen gingen davon aus, dass alle drei Fahrzeuge 50 Jahre halten und jährlich 15’000 Kilometer zurücklegen. Ersteres ist eher optimistisch, Letzteres ein für Deutschland typischer Wert. Der Kleinwagen kostet die deutschen Steuerzahlenden während seines Autolebens rund 234’000 Euro, der Golf 238’000 Euro und der SUV 264’000 Euro – macht durchschnittlich 5000 Euro pro Fahrzeug und Jahr.
Ein Auto kostet eine Menge Geld. Private (interne) Kosten sind aber noch nicht alles. Viele sozialisierten (oder externe) Kosten eines Autos werden in Deutschland von der Allgemeinheit getragen.
Ein Opel Corsa wird dabei zu 41 Prozent von anderen mitfinanziert, der Mittelklasse-Golf zu 38 Prozent, und der Mercedes-SUV zu 29 Prozent. Das sieht zwar nach kleineren Kosten für grössere Fahrzeuge aus, in absoluten Zahlen kostet der Mercedes SUV die Allgemeinheit aber am meisten.
Am meisten zahlen die, die nicht einmal ein Auto besitzen
Wer wenig verdient, zahlt dabei am meisten drauf. Geringverdiener in der Stadt wohnen meist dort, wo die Luft schmutzig, die Umgebung lärmig und die Mieten deshalb günstig sind. Oft haben sie gar kein Auto. Wer mehr Geld hat, wohnt eher in ruhigen Nebenstrassen oder in Aussenquartieren mit mehr Grün. Für Menschen mit geringem Einkommen auf dem Land sind Fahrzeuge meist der teuerste Posten auf der Ausgabenliste. Lange Fahrtzeiten, Stau, Unfälle und Verkehrsbehinderungen betreffen sie besonders.
Nachgerechnet: Selbst ein günstiges Auto ist für viele zu teuer
Ein Auto ist für den Einzelnen erschreckend teuer, wenn man die Kosten auf die gesamte Lebenszeit des Besitzers oder der Besitzerin hochrechnet.
Die individuellen, privaten (internen) Kosten eines Klein- und Mittelklassewagens sowie eines SUV im Verhältnis zum Nettolebenseinkommen.
Ein alleinstehender ungelernter Arbeiter («Unskilled Worker») müsste für einen Mercedes GLC ganze 69 Prozent seines Nettolebenseinkommens ausgeben, bei einem Opel Corsa 1.2 wären es noch immer 36 Prozent. Einen besserverdienenden Experten («Outstanding Specialist») mit einem doppelt so hohen Lebenseinkommen kostet der Kleinwagen 19 Prozent seines Einkommens.
Selbst ein günstiges Auto ist also eigentlich zu teuer. Wenn man davon ausgehe, dass ein Durchschnittshaushalt 30 Prozent seines Nettoeinkommens für die Miete ausgebe, blieben ungefähr 15 Prozent für Transport, argumentieren die Autor:innen der Studie. Eine eher optimistische Annahme – in vielen Gegenden Deutschlands geben Mieter nach Angabe des Mieterbunds längst deutlich mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Wohnung aus. Wer ein Auto gebraucht kauft oder sich die Kosten mit anderen teilt, spart andererseits aber auch Geld.
Trüge die Allgemeinheit nicht einen grossen Teil der Kosten, könnte sich aber selbst der Wohlhabendere kein Auto mehr leisten. Die Kosten für einen Opel Corsa würden für den Experten («Outstanding Specialist») auf 32 Prozent seines Nettolebenseinkommens steigen:
Müssten die Eigentümer eines Autos auch die sozialisierten Kosten bezahlen, könnten sich selbst Gutverdienende kaum noch ein Auto leisten.
Die Autor:innen der Studie trafen einige Annahmen und Schätzungen. Verzögerung durch Stau berechneten sie beispielsweise als Arbeitszeit, was man kritisieren kann. Ungehindertes Fortkommen zur Rush-Hour ist ja kein Normalzustand und sollte es eventuell auch nicht sein. Unfalltote und Gesundheitseinbussen berechneten sie nach verlorenen Lebensjahren. Verglichen mit dem deutschen Automobilclub ADAC, der diese Kosten nicht berücksichtigt, kommen die Mobilitätsforschenden auf höhere Zahlen.
Am teuersten am Autofahren sind Luftverschmutzung und Landverbrauch
Am teuersten für die öffentliche Hand – und damit für alle – sind aber ohnehin Luftverschmutzung, Landverbrauch und das Parken am Strassenrand (curbside Parking). Dinge, die einem meist nicht auffallen, weil man sich längst daran gewöhnt hat, wie viel Platz Autos benötigen.
Ganz überraschend ist das nicht. Die drei Co-Autor:innen der Studie sind auch nicht die ersten, die diese Rechnung aufstellen. Eine Metastudie der TU Dresden von 2012 berechnete beispielsweise, dass in den EU-27-Ländern jedes Jahr zwischen 258 und 373 Milliarden Euro an gesellschaftlichen Kosten für Automobile anfallen. Hängen bleibt aber, dass Autos für den Einzelnen und für die Allgemeinheit um einiges teurer sind als bisher angenommen.
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Pascal Sigg / Fast täglich sterben Minderjährige durch Gleichaltrige. Das milde Strafrecht und die freie Schulwahl stehen in der Kritik.
Mindestens sieben Tote allein in den letzten beiden Wochen: In Uppsala und Stockholm dreht eine Gewaltsspirale. Besonders an ihr sind Intensität und Akteure. So viel tödliche Gewalt in so kurzer Zeit. Und dass Täter und Opfer so jung sind. 15-Jährige werden verhaftet, ein 13-Jähriger wurde kürzlich erschossen.
Dass Schweden so stark von der Gewalt betroffen ist, verwundert hingegen weniger. Schiessereien kamen auch vorher wöchentlich vor. Kein anderes europäisches Land verzeichnet so viele Todesfälle durch Schusswaffen wie Schweden. Gemäss einem Bericht des schwedischen Rates für Verbrechensvorbeugung (Brottsförebyggande Rådet – BRÅ) von 2021 ist vor allem der Trend beunruhigend: Kein anderes Land in der Studie zeigt vergleichbare Anstiege. In den meisten anderen Ländern sinken die Zahlen der Fälle tödlicher Gewalt allgemein und tödlicher Gewalt mit Schusswaffen im Speziellen. Der Trend zeigt zudem, dass in Schweden die Opfer meist junge Männer unter 30 sind.
Fürs Jahr 2022 existiert kein Vergleichsbericht. Doch Schweden alleine verzeichnete 61 Fälle von tödlicher Gewalt durch Schusswaffen. Dänemark und Norwegen je 4. Finnland 2. Die Schweiz kam auf 11 Fälle (2021: 8).
Immer mehr Tote, immer jüngere Täter
Besonders an Schweden ist: Die allermeisten Morde finden in bestimmten Quartieren und im Rahmen organisierten Drogenhandels in Gang-Netzwerken statt. Die allermeisten Täter haben Migrationshintergrund, aber die Einwanderung lässt sich nicht als alleiniger Grund heranziehen. Zwischen 2000 und 2003 lag Schweden nämlich am anderen Ende der Statistik – trotz vergleichsweise hoher Einwanderung. Und andere europäische Länder mit hoher Einwanderung wie Frankreich oder Deutschland kennen das Problem nicht.
Alarmierend ist zudem ein weiterer Trend: Die Täter werden immer jünger. Die Zahl der Strafverfahren gegen 15- bis 17-Jährige ist wieder so hoch wie seit 2019 nicht mehr. Im ersten Halbjahr 2023 wurden 42 minderjährige Teenager eines Mordversuchs verdächtigt. Im gesamten 2022 waren es noch 38.
Ein fataler Zwischenzustand
Hauptgrund für die Gewalt sind nach Ansicht vieler Experten wie dem Journalisten Diamant Salihu tiefe Identitätkrisen als Folge gescheiterter Integration. Die Kinder aus geflüchteten Familien haben keine Perspektive innerhalb der schwedischen Gesellschaft. «Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der sich viele ihrer Eltern nicht etablieren konnten. Gleichzeitig begegnet den Kindern in der schwedischen Mehrheitsgesellschaft grosses Misstrauen, bezogen etwa auf ihre Religion oder Aussehen. Sie landen in einem Zwischenzustand. In den Gesprächen, die ich geführt habe, berichteten viele, dass sie nirgendwo wirklich dazugehören.»
Die Netzwerke – anscheinend keine Gangs mit klarer Hierarchie – bieten Orientierung, schnelles Geld und Status. Die Gruppen in den Vororten der Grossstädte würden um Drogen kämpfen, sagt Carin Götblad, die ranghöchste Polizistin Stockholms. Bereits 2010 hatte sie in einem Bericht gewarnt, dass 5000 Kinder auf dem Weg in schwere Kriminalität seien, weil sie die falschen Vorbilder hätten und bereits mildere Verbrechen begangen hätten. Vor allem der Kokainhandel sei eine wichtige Ursache. «Viel Kokain kommt direkt aus Südamerika nach Schweden und wird von hier nach Europa verkauft. Es hält diese Konflikte am Leben», sagte Götblad kürzlich dem Guardian.
Schulsystem fördert Segregation
Viele machen auch das schwedische Schulsystem teilweise verantwortlich. In Schweden herrscht freie Schulwahl, jedes Kind erhält einen Gutschein und wählt selber, welcher Schule es das Geld bezahlen will. 1992 führte die Regierung unter Carl Bildt die sogenannte Freischulreform durch. Allerdings erhielten Privatschulen bis 1997 erst 85 Prozent des Schulgelds eines Kindes, während öffentliche Schulen die vollen Kosten erstattet erhielten.
Für öffentliche Schulen in Quartieren mit sozialen Problemen bedeutet dies: Wer weniger Probleme will, wechselt die Schule. Dies hat in den letzten Jahren die Segregation verstärkt. 2020 schlug ein Bericht im Auftrag der schwedischen Regierung vor, öffentlichen Schulen mehr Schulgeld zukommen zu lassen, um diese Entwicklung zu mindern. Dies wurde allerdings zuletzt abgelehnt.
Ein weiterer Bericht des Brottsförebyggande Rådet hielt vor wenigen Monaten fest: Jugendliche, die in eine sozial stärker herausgeforderte Schule gehen, riskieren eher, kriminell zu werden.
Status und Zugehörigkeit
Hinzu kommt, dass Schweden ein eher mildes Jugendstrafrecht kennt. Es sei bekannt, dass die Gangs bewusst Minderjährige einsetzen, um einen Mord zu begehen, weil ihnen keine lange Gefängnisstrafe drohe, sagte zum Beispiel Thomas Bälte, Staatsanwalt aus Uppsala gegenüber Sveriges Radio. Journalist Salihu sagte vor wenigen Tagen dem schwedischen Fernsehsender SVT, die Gangs würden die Jugendlichen mittlerweile im ganzen Land rekrutieren. Sie suchten auch besonders in Jugendheimen nach «verlorenen, identitätslosen jungen Personen, die bereit sind Gewalttaten auszuüben». Er sehe auch Beispiele von Kindern aus der Mittelklasse mit ethnisch schwedischem Hintergrund, die sich aktiv diesem Milieu zuwenden, weil die Anziehungskraft so stark ist.
Privatschulfilz mit rechtsextremen Einflüssen
Schwedens Mitte-Rechts-Regierung will dagegen vor allem die Repression verstärken und junge Straftäter härter bestrafen. Am Schulsystem will sie bisher nichts verändern. Wohl auch weil die personellen Verflechtungen zahlreich sind. Viele ranghohe Politiker haben oder hatten Posten in Privatschulkonzernen inne. Kürzlich wurde zudem bekannt, dass die Gründer des Schulkonzerns Internationella Engelska Skolan, welcher jährlich über drei Milliarden Kronen (ca. 250 Millionen Franken) Schulgeld umsetzt, rechtsextreme Medien finanzierten. Jimmie Åkesson, Parteichef der rechtsextremen Schwedendemokraten macht derweil pauschal die Zuwanderung für die Gewalt verantwortlich. Er sagte vor wenigen Tagen: «100 Prozent der Gewalt hat nur mit Migration zu tun.»
Arte:Re: Bandenkriminalität in Schweden (märz 2022)
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Pascal Sigg / Der Kanton Bern winkte über 300 adaptive Antennen ohne Baubewilligung durch. Obschon sie kurzzeitig viel stärker strahlen dürfen.
Das Mobilfunknetz der nächsten Generation bedarf neuer Antennen. Sogenannt adaptive Antennen strahlen gezielter und konzentrierter als bisherige Mobilfunkanlagen, die permanent grossflächige Netze erzeugen. Doch dafür müssten sie mitunter stärker strahlen dürfen, als die vorsorglichen Grenzwerte vorsehen.
Zuständig für die Zulassung dieser Antennen sind in der Schweiz eigentlich die Gemeinden. Die Kantone machen allerdings Empfehlungen und interpretieren die Gesetzeslage.
Kanton Bern rät Gemeinden zu Bagatellverfahren
Dabei sorgt besonders der Kanton Bern für Kritik. Da herrscht nämlich die Ansicht, dass keine Baubewilligungsprozesse für Umbauten bestehender Anlagen zu adaptiven Antennen nötig seien – obschon diese später stärker strahlen dürfen.
Dies teilte das Regierungsstatthalteramt der Direktion für Justiz und Inneres den Gemeinden im April 2022 in einem eindeutigen Schreiben mit. Dies bedeutet: Betroffene Anwohnerinnen und Anwohner neuartiger Antennen müssen über die Änderungen nicht informiert werden. Und können so keine Einsprachen erheben.
Hunderte Anlagen dürfen Anlagegrenzwerte überschreiten – ohne Baubewilligung
Ob der Kanton dies darf, ist allerdings unklar. In einem noch nicht rechtskräftigen Urteil gab das Berner Verwaltungsgericht kürzlich nämlich einer Beschwerde aus Büren an der Aare Recht. Sunrise hatte da ohne Baubewilligungsprozess eine konventionelle Anlage durch eine neue adaptive Antenne ersetzt und später die Sendeleistung erhöht. Gemeinde und Kanton hatten grünes Licht für die Umrüstung gegeben. Sunrise kann das Urteil anfechten. Falls das Unternehmen davon absieht, muss die Berner Baudirektion darüber entscheiden, ob die Aufschaltung des Korrekturfaktors bewilligungspflichtig ist.
Dies könnte Auswirkungen auf hunderte Anlagen haben. Auf Infosperber-Anfrage schreibt das Amt für Umwelt und Energie (AUE) nämlich: Ende August 2023 sind im Kanton Bern 955 Anlagen (z.T. mehrere an einem Standort) mit adaptiven Antennen in Betrieb. 416 davon würden mit Korrekturfaktor betrieben. Lediglich 29 davon wurden in einem Baubewilligungsvefahren bewilligt. Bei 387 Anlagen dürfte also gegenwärtig unklar sein, ob ihr Betrieb rechtmässig ist.
Grenzwertüberschreitung durch die Hintertür
Daniel Laubscher beschwerte sich über das Vorgehen. Er wohnt unweit der Antenne in Büren an der Aare. Er wehrte sich dagegen, dass ihre Umrüstung vor sich ging, ohne dass er darüber informiert wurde. Laubscher war damals Fachbereichsleiter Raumplanung der Regionalkonferenz Bern-Mittelland. Zuvor war er als Stadtplaner in Solothurn angestellt. Er kennt die komplizierte Materie. «Ich musste selber schon Mobilfunkanlagen bewilligen», sagt er Infosperber.
Was ihn besonders irritierte: Sunrise aktivierte noch während des laufenden Verfahrens den sogennannten Korrekturfaktor und erhöhte damit potenziell die Sendeleistung und die Immissionen. Auch darüber wurde er nicht informiert. Denn die Gemeinde verlangte auch dafür keine Baubewilligung – auf Empfehlung des Kantons. Laubscher fand dies nur heraus, weil eines Tages Sunrise im Ort für mobiles Fernsehen warb. «Ich wusste, dass dies nur mit höherer Sendeleistung angeboten werden kann.» Eine Anfrage beim Verwaltungsgericht und der zuständigen kantonalen Stelle bestätigte seine Vermutung.
«Systematische Bevorzugung der Mobilfunkunternehmen»
Mit dem Korrekturfaktor erlaubt der Bundesrat den Mobilfunkunternehmen per Verordnung seit 1. Januar 2022, dass adaptive Antennen den Grenzwert nur noch im sechsminütigen Durchschnitt einhalten müssen. Dadurch kann es auch in nahegelegenen Wohnungen kurzzeitig zu stärkerer Strahlenbelastung kommen. Diese kann mehr als das Dreifache der deklarierten Feldstärke betragen und damit auch den vorsorglichen Anlagegrenzwert überschreiten. Dafür müssen die Antennen aber über eine automatische Leistungsbegrenzung verfügen.
Schutzorganisationen argumentieren, dass der Bundesrat mit diesem Korrekturfaktor versteckt die Anlagegrenzwerte erhöht hat – und damit entgegen dem Willen des Parlaments vorgeprescht ist. Das Parlament hat Grenzwerterhöhungen nämlich zuletzt dreimal abgelehnt.
Auch deshalb findet Laubscher, dass der Kanton Bern mit seiner Bewilligungspraxis den Umbau des Schweizer Mobilfunknetzes hinter dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger forciert. «Das ist eine systematische Bevorzugung der Mobilfunkunternehmen».
Andere Kantone sind vorsichtiger
Martin Miescher vom Rechtsamt der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern (BVD) weist diesen Vorwurf auf Infosperber-Anfrage zurück. Die BVD würde sich ausschliesslich auf die gesetzlichen Vorgaben und die einschlägigen Urteile der übergeordneten Gerichte (Verwaltungs- und Bundesgericht) stützen. Er schreibt allerdings auch: Das Bundesgericht habe die Frage, ob das Aufschalten des Korrekturfaktors bewilligungspflichtig ist, noch nicht beantwortet.
Andere Kantone wie Zürich oder St. Gallen sind vorsichtiger. Sie verlangen bei jeder adaptiven Antenne ein Baubewilligungsverfahren. Der Kanton Zürich bestätigt auf Infosperber-Anfrage, dass im Bagatellverfahren bewilligte adaptive Antennen gar ein neues Baubewilligungsverfahren durchlaufen müssen, sobald der Korrekturfaktor aufgeschaltet werden soll. Dasselbe schreibt das Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen. Dabei stützt es sich auf ein Urteil des kantonalen Verwaltungsgerichts.
Kanton Bern: Keine Leistungssteigerung mit Korrekturfaktor
Weshalb tut dies der Kanton Bern nicht auch? Weshalb empfiehlt er den Gemeinden weiterhin die Anwendung der umstrittenen Bagatellverfahren? Regierungsstatthalter Martin Künzi schreibt auf Anfrage, der Kanton würde sich an den Vorgaben des Bundesrats und der NIS-Verordnung orientieren. Entscheidend sei dabei die Beurteilung des kantonalen Amts für Umwelt und Energie (AUE).
Dieses sei der Ansicht: Für die Beurteilung, ob eine Änderung an einer Mobilfunkanlage baubewilligungspflichtig ist, sei weder der Antennentyp noch der Betriebsmodus entscheidend. Es zähle allein eine mögliche Veränderung der Leistung oder der Strahlenbelastung. Bei dieser Argumentation wird nicht berücksichtigt, dass der vom Bund eingeführte Korrekturfaktor ebenfalls eine Erhöhung der Antennenleistung ermöglicht, wenn auch nur eine temporäre.
Laubscher berät derzeit als selbständiger Raumplaner Gemeinden im Umgang mit Baugesuchen von Mobilfunkantennen. Er findet, dass jene nun Verantwortung übernehmen müssten. «Sie sind dringend aufgefordert, ihre Aufgabe als Baupolizeibehörde wahrzunehmen.» Allerdings will er den Berner Gemeinden und Vollzugsbehörden auch keinen Vorwurf machen. «Die machen auch nur, was der Bund sagt.»
Bundesrat schafft Unklarheit
Tatsächlich ist der Bund verantwortlich für das juristische Hickhack um den 5G-Umbau bis auf Gemeindeebene in der ganzen Schweiz. Ende 2021 schrieb der Bundesrat, er «schaffe Klarheit und erhöhe die Rechtssicherheit». Damit meinte er die neue Verordnung über den Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung (NISV) mit dem Korrekturfaktor. Dieser sollte nämlich ermöglichen, die neuen Antennen gesondert zu behandeln – weil sie mit neuartiger Technologie funktionieren. Doch Klarheit herrscht damit nicht. Dies kritisierte der SonntagsBlick damals umgehend und titelte: «Anwohner und Gemeinden ausgetrickst».
Genau betrachtet folgte der Bundesrat dem Vorschlag des Branchenverbands Asut aus dem Bericht «Mobilfunk und Strahlung» des UVEK von 2019. Dessen Handlungsoption sah eine Mittelwertberechnung vor. Doch im Bericht wurde bereits damals gewarnt: Aufgrund fehlender Transparenz des Verfahrens sei mit vielen Anfragen aus der Bevölkerung zu rechnen. Zudem finde «eine gewisse Aufweichung der Vorsorge statt, resultierend in einer Erhöhung der Exposition der Anwohnenden von Antennen.»
In die neue NISV schrieb der Bundesrat Ende 2021 auch: Die Anwendung des Korrekturfaktors sei bei einer bereits bestehenden adaptiven Antenne nicht bewilligungspflichtig. Doch dies steht womöglich im Konflikt mit dem übergeordneten Raumplanungsgesetz. Auch deshalb wollte es die Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) der Kantone bereits vor Inkrafttreten der neuen NISV genauer wissen. Sie gab beim Institut für Schweizerisches und Internationales Baurecht der Uni Fribourg ein Rechtsgutachten in Auftrag.
Bundesgericht muss entscheiden – einmal mehr
Die Freiburger Autoren meinten: «Schon das Vorhaben, eine einzige adaptive Antenne zu installieren, kann in einem Baubewilligungsverfahren münden, wenn mit der Antenne eine Zunahme der Immissionen verbunden ist.» Auch die ausschliessliche Aktivierung des Korrekturfaktors würde die Behörden nicht dazu berechtigen, ein Bagatellverfahren anzuwenden. Deutlich machten die Autoren auch, dass Anwohnende sich auf Bundesrecht berufen konnten, um eine Baubewilligung zu verlangen.
Daniel Laubscher ist nicht der Einzige, der dies getan hat. Die vielen schnellen Bagatellverfahren entlasten vordergründig zwar die kantonalen Bewilligungsbehörden und die Gemeinden. Ein Teil der Arbeit landet nun aber im Justizsystem – und damit nicht selten vor Bundesgericht. Gegenwärtig muss es sich in mehreren Fällen mit der Frage beschäftigen, ob die Anwendung des Korrekturfaktors eine Baubewilligungspflicht mit sich bringt.
Ausbau 5G-Netz: Bundesrat, Industrie und Parlament gegen den Volkswillen
Erst im Juni entschied der Ständerat, dass der Aufbau des 5G-Netzes ohne Grenzwerterhöhung auskommen muss. Er hörte damit auch auf die bundeseigene wissenschaftliche Expertengruppe, welche dies aufgrund ihrer Einschätzung der Gesundheitsrisiken gegenwärtig ablehnt. Eine Mehrheit der Bevölkerung dürfte ebenfalls dagegen sein. In einer Befragung des ETH-Umweltpanels in Kooperation mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) aus dem Jahr 2020 waren mehr als 50 Prozent der Personen der Meinung, dass die Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung nicht gelockert werden sollten. Es reiche, wenn 5G in der Schweiz erst in zwanzig bis dreissig Jahren flächendeckend verfügbar sei.
Das Parlament will den Netzausbau trotzdem beschleunigen, obschon der Bundesrat mit der neuen NISV den Anbietern bereits unter die Arme greift. Nach dem Ständerat dürfte auch der Nationalrat nächste Woche einer Motion der FDP-Fraktion zustimmen, welche die Beschleunigung des Ausbaus verlangt. Die vorberatende Kommission des Nationalrats – mit 10 Mitgliedern der Lobbykampagne Chance 5G – stimmte ihr mit überwältigender Mehrheit zu. Wie diese Beschleunigung ohne Grenzwerterhöhung und gegen den Willen einer Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger geschehen soll, bleibt allerdings weiterhin unklar.
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Marco Diener / Der Druck hat gewirkt: Der ZVV darf sich nicht mehr bereichern. ÖV-Billette werden günstiger.
Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit hat sich ein Infosperber-Leser während Jahren gewehrt: Beim Ombudsmann des Kanton Zürich, bei den SBB, beim Bundesamt für Verkehr (BAV), bei der Stadt Winterthur – überall prangerte er die verfehlte Tarifpolitik des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV) an. Aber lange passierte nichts.
30 Prozent teurer
Gegenüber Infosperber nannte der Leser im Juni ein Beispiel von Tausenden: Wer von Flawil SG mit dem Zug nach Winterthur ZH fährt und von dort mit dem Bus der Linie 1 bis zur Haltestelle Sulzer, der zahlt mit Halbtaxabo Fr. 14.60. Wer ein Billett für eine längere Strecke löst, zahlt weniger. Zum Beispiel fünf Haltestellen weiter bis zur Endstation Töss. Dieses Billett kostet Fr. 10.50. Ersparnis: fast 30 Prozent. Trotz längerer Strecke.
City-Ticket obligatorisch
Der Grund: Zur Haltestelle Töss ist ein ganz normales Streckenbillett erhältlich. Zur Haltestelle Sulzer dagegen gibt es nur ein Streckenbillett mit einem zusätzlichen City-Ticket. Das ist eine Tageskarte, die am Gültigkeitstag zu beliebigen Fahrten in Winterthur berechtigt. Abwählen lässt es sich im Ticket-Shop nicht.
Eine Reise, ein Billett
Dabei gilt in der Schweiz eigentlich der Grundsatz: Eine Reise, ein Billett – egal, wie viele Transportunternehmen beteiligt sind. Voraussetzung für direkte Billette ohne City-Ticket-Zuschlag ist allerdings, dass die Transportunternehmen ihre Stationen in den so genannten Nationalen Direkten Verkehr (NDV) integrieren. Doch der ZVV macht das unsystematisch. Hunderte von Haltestellen hat er nicht integriert.
SBB konnten nichts ausrichten
Der ZVV kam unter Druck. Aber nicht einmal die SBB konnten etwas ausrichten. Schon fast verzweifelt schrieben sie: «Wir intervenieren in dieser Sache seit mindestens fünf Jahren beim ZVV.»
Gegenüber Infosperber schrieb der ZVV schon fast höhnisch: «Es besteht grundsätzlich kein Zwang, Haltestellen in den Nationalen Direkten Verkehr zu integrieren. Es besteht hingegen die gesetzliche Vorgabe, dass für eine Reise ein Ticket angeboten werden muss. Diese ist auch mit der Kombination eines Streckenbilletts mit einem City-Ticket gewährleistet.» Oder anders gesagt: Der ZVV nahm sich die Freiheit heraus, unnötig teure Billette zu verkaufen.
Mehrere Millionen
Zudem bagatellisierte der ZVV das Problem. 90 Prozent der Passagiere seien nicht betroffen, da sie bei ihren Reisen das Gebiet des ZVV respektive des Z-Passes nicht verlassen würden. Im Umkehrschluss heisst das: 10 Prozent sind betroffen. Oder in absoluten Zahlen: pro Jahr 47 Millionen Fahrgäste. Ein Teil von ihnen muss zu viel bezahlen. Die Mehreinnahmen für den ZVV dürften in die Millionen gehen.
Das BAV verlor die Geduld
Aufs Mal wurde es auch dem BAV zu bunt. Es verlangte vom ZVV eine Stellungnahme. Doch ein Mail, das Infosperber vorliegt, zeigt, dass der ZVV nur herumeierte: «Wir möchten unterstreichen, dass die Situation im ZVV bzw. der Stadt Zürich für schweizerische Verhältnisse wahrlich einzigartig komplex ist: Nirgendwo sonst gibt es ein dermassen dichtes ÖV-Netz mit mehreren Intercity-Bahnhöfen, an welchen die Gäste aus nah und fern an-, ab- und durchreisen können.»
ZVV wollte Einnahmen sichern
Den Leuten im BAV war das inzwischen offenbar egal. Jedenfalls forderten sie den ZVV auf, bis im Sommer eine Lösung für die Integration aller Haltestellen auf seinem Gebiet. Der Brief des ZVV, der Infosperber ebenfalls vorliegt, zeigt, dass der ZVV mit den SBB lange nach einer Lösung suchte, bei der die Passagiere zum Streckenbillett zwingend auch ein Verbundbillett hätten kaufen müssen. Damit hätte sich der ZVV zumindest einen Teil der ungerechtfertigten Einnahmen weiterhin sichern können. Doch die SBB lehnten ab.
Es dauert
Jetzt aber gibt der ZVV klein bei. Bis Ende Jahr sollen alle Haltestellen in der Stadt Zürich in den NDV integriert sein. Dann nach und nach auch die Haltestellen ausserhalb der Stadt. Künftig werden also nur noch jene Fahrgäste ein City-Ticket kaufen, die es auch wirklich brauchen.
Werner Vontobel / Der Nutzen der Arbeitsmigration ist viel kleiner und ihr Schaden viel grösser, als wir denken.
Unsere Vor- und Nachdenker sind gemeinhin die Ökonomen und die Wirtschaftspolitiker (männliche Form bewusst gewählt). Diese haben leider extrem enge und dogmatische Vorstellungen davon, was Wirtschaft ist, und wie sie unser Wohlergehen beeinflusst.
Sie machen vor allem zwei entscheidende Fehler, und die hindern uns auch daran, vernünftig über die Arbeitsmigration nachzudenken.
Fehler Nummer 1: Die Ökonomen interessieren sich nur für das, was wir gegen Geld tun.
Fehler Nummer 2: Sie unterschätzen die soziale Dimension massiv. Unser Wohlergeben hängt zwar auch von dem ab, was wir mit der Arbeit produzieren, aber ebenso wichtig ist die mit der Arbeit verbundene oder dadurch erschwerte soziale Integration.
Wenn unser Glück nur vom Produkt der Erwerbsarbeit abhängt, dann fördern wir den Wohlstand, indem wir die bezahlte Arbeit immer genau dort einsetzen, wo sie am meisten Bruttoinlandsprodukt (BIP) produziert. Das ist die ökonomische Logik, die sich etwa hinter der «Personenverkehrsfreiheit» versteckt, welche in der EU als eine der «vier Grundfreiheiten» hochgehalten wird. Aus demselben Grund halten die Ökonomen auch die «Flexibilität der Arbeitsmärkte» für wohlstandsfördernd. Die Arbeitskräfte ziehen weltweit dahin, wo ihre Arbeitskraft am meisten BIP generiert.
Durch die Migration geht viel unbezahlte Arbeit in der Heimat verloren
Das ist ein doppelter Trugschluss. Erstens sind Arbeitskräfte immer auch Menschen, die in der Familie, in der Nachbarschaft und Vereinen und Parteien wichtige unbezahlte Arbeit leisten. Durch die Migration geht diese Arbeit verloren und die entsprechenden «Produktionsstätten» (die Familien und Nachbarschaften) werden entscheidend geschwächt. Noch wichtiger ist, dass dadurch auch soziales Kapital zerstört wird. Unbezahlte Arbeit mag zwar weniger produktiv sein, aber in Bezug auf den sozialen Nutzen ist sie der bezahlten Arbeit fast immer weit überlegen.
Diese Überlegung verändert auch den Blick auf die Migration. Nur leicht überspitzt kann man es so formulieren: Die Arbeitskräfte wandern nicht dahin, wo sie am meisten verdienen, sondern dahin, wo das soziale Umfeld weniger kaputt ist. Sei es, weil es dort noch funktionierende Sozialsysteme gibt, sei es, weil sie dort auf die soziale Unterstützung der vor ihnen Geflüchteten zählen können. Auswanderung wird so zum doppelten Teufelskreis: Jeder Wegzug ist ein Grund mehr auszuwandern, und ein Grund mehr, dorthin zu ziehen, wo ein besseres soziales Umfeld lockt. («Wir kennen dort schon ein paar Leute.»)
Die tiefen Löhne der Einen sind die Gewinne und Boni der Anderen
Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir das Wechselspiel zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit einerseits und lokaler und globaler Nachfrage andererseits besser verstehen, als dies mit dem intellektuellen Werkzeug des ökonomischen Dogmas möglich ist. Auswanderungsländer oder -regionen werden letztlich deshalb verlassen, weil sie nicht (mehr) in der Lage sind, sich so zu organisieren, dass sie die lokalen und nationalen Bedürfnisse befriedigen können. Diese interne Nachfrage nach Nahrung, Wohnraum, Erziehung, Pflege usw. verursacht selbst in der global aufgestellten Schweiz mehr als 75 Prozent der bezahlten und 90 Prozent aller Arbeit (hier). Hier – in der Organisation dieser Tätigkeiten – liegt der Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Allerdings gibt es da ein Problem: Anders als einst benötigt heute jedes Land und jede Region Importe und ist somit auf ein externes Devisen-Einkommen angewiesen. Dazu braucht man Exportindustrien, und um diese wird weltweit immer härter gekämpft – Stichwort Standortwettbewerb. Es gilt, die Gunst der globalen Investoren zu gewinnen. Zu diesem Zweck muss man die Lohnkosten und die Steuern tief halten, was wiederum die interne Nachfrage nach öffentlichen und privaten Gütern schwächt. Gleichzeitig wird auch die Ungleichheit verschärft, denn die tiefen Löhne der vielen sind die hohen Gewinne, Boni und Saläre der oberen zehn Prozent.
Auch die privaten Haushalte sind heute zwingend auf ein externes Geldeinkommen angewiesen. Notfalls muss ihnen der Staat unter die Arme greifen. Dieser hat deshalb ein Interesse daran, möglichst viele unbezahlte in bezahlte (Dienstboten-) Arbeit zu verwandeln oder eine entsprechende Auswanderung zu fördern. Dazu passt, dass die Doppelverdiener in den Siegerländern des Standortwettbewerbs auf billige Dienstleistungen angewiesen sind. So entstehen globale Migrantenströme – welche letztlich die Verliererländer weiter schwächen.
Ständiger Wechsel schwächt die soziale Integration
Doch auch für die meisten Bewohner der «Siegerländer» wie die Schweiz, Deutschland, Frankreich etc. geht die Rechnung nicht auf. Auch hier werden die Produktionsstätten der unbezahlten Arbeit systematisch geschwächt. Deutschland hat zwischen 1992 und 2013 pro Kopf 13 Prozent unbezahlte Arbeit verloren.(hier). Dass solche Daten nur alle zehn Jahre erhoben werden, spricht für sich. Dazu kommt, dass der mit der Einwanderung und der Arbeitsmobilität verbundene ständige Wechsel der Nachbarn und Arbeitskollegen die soziale Integration der Einheimischen schwächt. Das ist nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern schlicht die menschliche Natur – welche die Ökonomen leider ausklammern.
Ein weiterer grosser Nachteil sind die explodierenden Immobilienpreise in den Ballungsgebieten, die eine stetige Binnenmigration (auch Gentrifizierung genannt) zwischen Zentrum und Vororten auslösen. Was wiederum die Produktionskraft der Familien und Nachbarschaften enorm schwächt.
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die durch den Standortwettbewerb und die hohen Bodenpreise verschärfte Umverteilung von unten nach oben den Finanzsektor gewaltig aufbläht. Dieser verschlingt immer grössere Teile des BIP, ohne einen nennenswerten Beitrag zum Wohlbefinden zu liefern.
Ein beträchtlicher Teil der Migrationsströme wird folglich durch eine falsche Wirtschaftspolitik ausgelöst, die zudem den Wohlstand in den Ein- und Auswanderungsländern stark beeinträchtigt. Was müssen wir besser machen?
Die Schweiz sollte alle Arten von Einwanderung betrachten
Vereinfachend formuliert, geht es darum, dass die Auswanderungsländer und –regionen wieder in die Lage gebracht werden müssen, auf die eigenen Bedürfnisse reagieren zu können. Es braucht Entwicklung von innen heraus. Mit staatlichen Zuschüssen irgendeine Exportindustrie anzulocken reicht nicht. Das bringt vor allem dann nichts, wenn gleichzeitig die lokale Nachfrage und die unbezahlte Produktion geschwächt werden.
Mit einer jährlichen Einwanderung von rund 180’000 brutto und 80’000 netto hat die Schweiz die Grenzen ihrer Assimilationskraft zumindest geritzt. Finanziell und sozial. Darüber müssen wir reden: Einerseits steht die reiche Schweiz gegenüber den meist mausarmen Migranten in einer moralischen Pflicht. Andererseits muss die Belastung tragbar bleiben und auf alle Schultern verteilt werden. Das heisst, dass wir alle Arten von Einwanderung gleichermassen ins Visier nehmen müssen.
Beim Zustrom von Kriegsflüchtlingen ist der Spielraum begrenzt. Bei den Wirtschaftsflüchtlingen müssen wir bei der Ursache ansetzen. Der Druck zur Auswanderung muss geringer werden. Schnelle Erfolge sind dabei nicht zu erwarten und unsere Eingriffsmöglichkeiten sind beschränkt. Aber als globale Finanz-und Rohstoffdrehscheibe tragen wir eine Mitverantwortung, die wir etwa mit der Konzernverantwortungsinitiative wahrnehmen können.
Wir sollten aber auch vor der eigenen Tür wischen: Mit unserer aggressiven Wirtschafts- und Standortpolitik entfachen wir einen starken Sog zur Einwanderung in die Schweiz – meist auch zum Schaden unserer Nachbarländer. Wir können zwar den norwegischen Steuerflüchtlingen die Ausreise aus ihrem Land nicht verbieten, aber wir könnten die Doppelbesteuerungsabkommen in Übereinstimmung mit den Herkunftsländern so ändern, dass sie viele Jahre lang keine Steuern sparen. Hoch lebe die internationale Solidarität.
Einwanderer mit sehr unterschiedlichen ökologischen und ökonomischen Fussabdrücken
Und brauchen wir wirklich – wie dies avenir-suisse fordert – in den nächsten sieben Jahren 800’000 ausländische Fachkräfte? Müssen wir unsere demographische Lücke mit Einwanderern füllen? Warum füllen wir nicht einfach nur die durch die tiefe Geburtenrate entstandene Lücke, ohne Nettoeinwanderung? Letztlich geht es hier um unser auf chronischen Exportüberschüssen beruhendes Wirtschaftsmodell.
Es zielt darauf ab, dass möglichst viele Schweizer in den Branchen mit der höchsten Produktivität tätig werden – Finanzen, Pharma, Werbung, Google, Unternehmenszentralen etc. So könnten wir unsere BIP enorm steigern und die Staatskassen füllen.
Doch das ist Illusion. Die Spezialisten, die in die Schweiz kommen, um hier ihre teuer bezahlte Arbeit zu leisten, brauchen auch Wohnungen, Infrastrukturen, Schulen, Restaurants, Coiffeure, Dienstboten usw. Unser Modell zielt darauf ab, dass wir uns diese Arbeitskräfte billig aus dem Ausland beschaffen. Nachhaltig ist das nicht. Wir können die kleine Schweiz nicht immer weiter aufblähen. Letztlich muss sich jeder Wirtschaftsraum nach der Decke strecken, sprich nach den Bedürfnissen seiner Bewohner. Die Arbeit ist dort, wo die Menschen sind.
Gut bezahlte Fachkräfte oder norwegische Multimillionäre sind zwar Netto-Steuerzahler, aber ihr ökologischer und ökonomischer Fussabdruck ist wesentlich grösser als der von ukrainischen Flüchtlingen. Wenn wir über die Grenzen der Einwanderung reden, dann muss alles auf den Tisch. Wir können nicht gleichzeitig Bootsflüchtlinge zurückschicken und für reiche Steuerflüchtlinge den roten Teppich ausrollen.
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Martina Frei / Wissenschaftler und britische Ärztevereinigung verschwiegen finanzielle Verflechtungen mit dem Hersteller.
Das britische «Nationale Institut für Gesundheit und Pflegeexzellenz» (NICE) ermittelt, welche Medikamente und Behandlungen einen Nutzen haben und darum angewendet und bezahlt werden sollen. Im Mai 2022 hiess das NICE das neue Abnehm-Medikament «Wegovy» unter bestimmten Voraussetzungen gut, nachdem es 2020 bereits für die «Fett-weg-Spritze» «Saxenda» das OK gegeben hatte.
Was die Öffentlichkeit erst im März 2023 erfuhr: Mindestens drei der Experten, die das NICE vor seiner Entscheidung betreffend «Wegovy» konsultierte, hatten vom «Wegovy»-Hersteller Novo Nordisk Geld erhalten.
Der britische Professor John Wilding präsidierte zu jener Zeit die «World Obesity Federation», die von Novo Nordisk im Verlauf dreier Jahre über 4,3 Millionen britische Pfund an Sponsorengeldern erhielt. Gegenüber dem NICE habe er diesen Interessenkonflikt nicht angegeben, berichtete «The Observer». Ausserdem habe Wilding über 19’000 britische Pfund von Novo Nordisk für Dienstleistungen bekommen, was er offenlegte.
Auch das «Royal College of Physicians», die königliche Ärztevereinigung in Grossbritannien, unterliess es gegenüber dem NICE zu erwähnen, dass es über 100’000 Pfund von der Pharmafirma bekommen hatte.
«Die ‹UK Association for the Study of Obesity› (ASO) teilte dem NICE immerhin mit, eine ebenso hohe Summe bekommen zu haben», so der «Pharma-Brief». Die ASO wiederum sei Mitglied in der «European Association for the Study of Obesity» und der «World Obesity Federation», die sich beide ebenfalls für Wegovy stark gemacht hätten. «Beide Verbände deklarieren nicht, dass sie Millionen Pfund Unterstützung von Novo Nordisk bekamen und diese einen bedeutenden Teil ihrer Budgets ausmachen» fasst der «Pharma-Brief» die Verwicklungen zusammen.
Alle Beteiligten wiesen es strikt von sich, dass die Zahlungen sie beeinflusst hätten. Auch den Vorwurf der orchestrierten PR-Kampagne liess Novo Nordisk nicht auf sich sitzen. Die Pharmafirma betonte gegenüber «The Obeserver», dass sie auf «transparente und ethische Weise» im Einklang mit «strengen regulatorischen Rahmenbedingungen» gearbeitet habe.
Novo Nordisk versorgte Gesundheitsfachpersonen mit einseitigen Informationen
Wegen unlauterer Werbepraktiken rügte der britische Verband der Arzneimittelhersteller den «Wegovy»-Hersteller Novo Nordisk im Frühjahr 2023. «Novo Nordisk ist wegen schwerwiegender Verstösse gegen den Industriekodex, die das Vertrauen in die pharmazeutische Industrie unterminieren können, für zwei Jahre aus dem Verband der britischen Pharmaindustrie (ABPI) ausgeschlossen worden. Unter anderem hat die Firma versäumt, ihr Sponsoring von Online-Trainingskursen für Fachkreise offenzulegen», berichtet das «arznei-telegramm».
Novo Nordisk hatte in Grossbritannien mehrere Tausend Gesundheitsfachleute in Kursen geschult. Die Vortragenden erwähnten dort zwar die Nebenwirkungen von älteren Konkurrenz-Medikamenten zum Abnehmen wie zum Beispiel «Xenical», nicht aber jene des Novo Nordisk-Produkts «Saxenda». Diese Unausgewogenheit störte den britischen Verband der Arzneimittelhersteller. Laut dem «British Medical Journal» ist dies das achte Mal in der 40-jährigen Geschichte des Verbands, dass ein Mitglied suspendiert wurde.
Markus Mugglin / Die Schweiz fällt zurück bei der Umsetzung der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung.
«Leider fällt die Bilanz nicht gut aus», spricht Markus Reubi in einem auf der EDA-Webseite publizierten Interview Klartext zum Stand der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Reubi ist Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und gehört zur Delegation der Schweiz am zweitägigen Treffen am UNO-Hauptsitz in New York, an der acht Jahre nach der Verabschiedung der Agenda Zwischenbilanz gezogen wird. Christian Frutiger, Chef der Abteilung thematische Zusammenarbeit in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, nennt die Situation im selbigen Interview als «wirklich besorgniserregend».
Die Welt ist nur bei 12 Prozent der insgesamt 169 Unterziele der Agenda 2030 auf Kurs, bei einem Drittel gibt es keine Fortschritte, teilweise sogar Rückschritte. Und gibt es Fortschritte, dann meist zu wenig schnell.
Wie schneidet die Schweiz ab? Die Antwort dazu blieb vage: «Die Richtung stimmt, das Tempo nicht». Genaue Auskunft liefert der jährlich publizierte «Sustainable Development Report» für mehr als 160 Länder, darunter die Schweiz. Sie schneidet immerhin besser ab als der Durchschnitt der Welt. Bei mehr als der Hälfte der Ziele erhält sie gute Noten – wie beispielsweise für Armutsbekämpfung, Gesundheit und Wohlbefinden, Bildung, sauberes Wasser und sanitäre Einrichtung oder Industrie, Innovation und Infrastruktur. Sie hat aber – auch das ist dem Report zu entnehmen – noch viel «Luft nach oben». Im Länder-Ranking ist sie seit dem Vorjahr sogar zurückgefallen. Brachte sie es 2022 auf Rang 8, so ist sie neu auf Rang 15 abgerutscht. Negativ vermerkt wird eine zunehmende Ungleichheit der Einkommen und die wachsende Kluft zwischen den reichsten zehn und den untersten 40 Prozent der Einkommensbezüger.
Die zentraleuropäischen EU-Staaten Tschechien, Polen, Estland, Kroatien, Slowenien und Lettland, aber auch Grossbritannien haben die Schweiz überholt. Sie erzielten zuletzt Fortschritte, während die Schweiz in vielen Bereichen stagniert.
Die Schweiz bremst die Entwicklung anderer Länder
Negativ bewertet wird die Schweiz insbesondere wegen den «Spillover Effekten», die sie durch ihre Handels-, Steuer- und Finanzmarktpolitik auslöst. Zielhafen für Steuerflüchtlinge und für Gewinnverlagerungen multinationaler Konzerne, fehlende Transparenz in Finanzmarkt-Angelegenheiten, Stickstoff- und Schwefeldioxid-Emissionen bei den Importen, Mängel bei der Biodiversität werden als Schwächen der Schweiz erwähnt, die über ihre Grenzen hinaus andere Länder belasten oder sie gar daran hindern, sich nachhaltig zu entwickeln.
Nur neun Länder fallen anderen Ländern noch stärker zur Last als die Schweiz – angeführt von Singapur und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Von den europäischen Ländern stehen Island, Luxemburg, die Niederlande, Belgien und Zypern noch schlechter da als die Schweiz.
Dass es auch besser ginge, zeigen die Top-Länder Finnland, Schweden und Dänemark. Wie in den Vorjahren erzielen sie auch jetzt die Bestresultate bei der Umsetzung der Agenda-Ziele. Sie haben auch die «Spillover Effekte» vergleichsweise gut im Griff. Der Reichtum eines Landes steht offenbar nicht automatisch im Widerspruch zu einer nachhaltigen Entwicklung. Es spielt eine Rolle, wie die Politik den Rahmen setzt.
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Daniela Gschweng / Das Totalherbizid Glyphosat wird in der EU im Dezember voraussichtlich weiter zugelassen. Umweltverbände wehren sich.
Das Tauziehen um den Unkrautvernichter Glyphosat geht in die nächste Runde. Mitte Oktober wollen die EU-Staaten darüber entscheiden, ob die am 15. Dezember auslaufende Zulassung von Glyphosat verlängert wird.
Die ursprünglich von 2017 bis Ende 2022 gültige Zulassung wurde bereits mehrfach verlängert. Zuletzt, um die grossen Datenmengen zu bearbeiten, die zur Risikoprüfung eingereicht wurden. Die WHO hatte das Pestizid 2015 als «wahrscheinlich krebserregend» eingestuft.
ECHA hält Glyphosat für ungefährlich, Umweltverbände kritisieren
Die Europäische Chemikalienagentur ECHA sieht kein Krebsrisiko mehr, was für eine Wiederzulassung spricht. Mit Glyphosat gefütterte Nagetiere hatten zwar Krebs entwickelt. Es sei aber kein Mechanismus bekannt, wie Krebs unter Glyphosateinwirkung entstehen könne, argumentiert die Behörde. Der Entstehungsmechanismus bei Krebs ist allerdings häufig nicht abschliessend geklärt.
Umweltverbände wie das Pesticide Actions Network (PAN) halten dagegen. Sie verweisen unter anderem auf eine im August veröffentlichte Studie, die oxidativen Stress im Körper mit Glyphosat in Zusammenhang bringt. Bei mit Glyphosat gefütterten Nagern seien Marker für oxidativen Stress in grosser Menge nachweisbar. Dieser könne durchaus Krebs auslösen, argumentieren die beteiligten Wissenschaftler. Das Vorgehen der ECHA kritisieren sie als oberflächlich.
«Keine wesentlichen Erkenntnisse und Problembereiche»
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) räumt in ihrer Überprüfung der ECHA-Risikobewertung ein, dass es in der Bewertung Lücken gibt. Diese berührten aber keine «kritischen Problembereiche». Immerhin schreibt die EFSA zur «Ökotoxikologie»: «Es wurde für 12 von 23 vorgeschlagenen Verwendungen von Glyphosat ein hohes langfristiges Risiko für Säugetiere ermittelt.»
Nicht abgeschlossen ist laut der EFSA die Bewertung einer der Verunreinigungen in Glyphosat, des ernährungsbedingten Risikos für Menschen und des Risikos für Wasserpflanzen. Noch offen sei die Bewertung eines Zusatzstoffes in einem Glyphosat-Produkt. Der Cocktail-Effekt, also die Wechselwirkung mit anderen Chemikalien im Produkt oder in der Umwelt, würde bei der Risikobewertung von Chemikalien generell zu wenig berücksichtigt, kritisieren Umweltverbände seit langem.
Der deutsche Umweltminister Cem Özdemir kritisierte, dass ECHA und EFSA Umwelteinflüsse nur unzureichend bewerteten. Das berichtet die «taz». Glyphosat ist das weltweit meistverkaufte Herbizid. Das Totalherbizid tötet alle Pflanzen, die nicht gentechnisch unempfindlich gemacht wurden. Es hat damit einen grossen Einfluss auf die Artenvielfalt.
Zur Biodiversität oder den Folgen auf die Artenvielfalt gebe es «keine eindeutigen Schlussfolgerungen», so die EFSA. Als Grund verweist die Behörde auf fehlende Daten, die Komplexität der Fragestellung und eine mangelnde Standardisierung der Methoden.
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Patrick Jerg / Es sieht schön aus, besitzt einfache Regeln und dauert nicht lange – aber macht das bunte Kartensammelspiel auch Spass?
Manche Spiele benötigen kein Thema, da dreht sich alles ums Spiel selber. Der Weg ist das Ziel, wie im Fall von «Trio». Drei gleiche Zahlenkarten sollen es sein, um zumindest ein Teilziel zu erreichen. Das klingt doch ganz einfach. Nun bedient sich das kleine Kartenspiel auch noch an einem bekannten Element. In diesem Fall ist es «Memory». Das macht den Spieleinstieg wiederum sehr einfach. Nach dem Motto «Das kenne ich schon!» steckt man schnell in der ersten Partie, und gleich darauf in weiteren.
Da das Spiel kein echtes Thema hat, muss es mit dem Design überzeugen. Das erledigt «Trio» wirklich gut. Es ist bunt, hat knallige Farben und bei genauerem Hinsehen entdeckt man einige, kleine Motive auf den Karten. Die haben mit dem Spiel gar nichts zu tun, vielmehr benötigt man die Zahlen. Die Werte von 1 bis 12 gibt es je drei Mal im Kartenstapel. Also schnell ein paar Karten an die Spielenden verteilen, einige Karten bleiben verdeckt in der Tischmitte liegen.
Die gut sortierte Kartenhand
Die erhaltenen Handkarten behält man schön bei sich, doch man sortiert die Karten nach ihren Werten. Ganz links muss der tiefste Wert in der Hand liegen, ganz rechts der höchste Wert. Auf der Suche nach Zahlen-Trios spielt man nun reihum. Wer an der Reihe ist, deckt eine Karte von der Tischmitte auf oder fragt bei den Mitspielenden nach ihrem höchsten oder tiefsten Wert. Die müssen die gewünschte Karte bereitwillig zeigen. Zwischen diesen beiden Aktionen wählt man so lange, wie man dadurch gleiche Werte aufdeckt. Natürlich ist es auch erlaubt von der eigenen Hand den höchsten oder tiefsten Wert aufzudecken. Da weiss man, was man hat.
Liegen drei gleiche Karten aus, sammelt man das Trio ein. Anders wie bei «Memory» ist man aber nicht noch einmal an der Reihe. Erwischt man keine passende Karte, dreht man sie wieder um oder nimmt sie zurück auf die Hand. Der Spielzug endet sofort, das erworbene Wissen kann man später wieder gebrauchen. So sucht man Runde für Runde nach den passenden Zahlen. Wer drei Trios gesammelt hat, gewinnt das Spiel. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Das Trio mit der 7 gewinnt immer sofort die Partie. Die 7 ist am schwierigsten zu erreichen, da sie sich meist mitten in der Kartenhand befindet und erst von einer Seite freigespielt werden muss,
Mild oder pikant?
Eben haben wir die milde Variante von «Trio» kennengelernt. Wer ein wenig anspruchsvoller sammeln möchte, wechselt auf die pikante Variante. Die Zahlen haben nämlich so ihre Wünsche. Die findet man etwas kleiner gedruckt auf den bunten Karten. So ist die 2 gern mit der 5 oder der 9 zusammen, die 11 möchte gerne die 4 bei sich haben. Nun muss man die Sammlung sorgsamer angehen. Wer dafür 2 Trios mit Zahlen besitzt, die sich gut mögen, gewinnt die Partie. Alternativ kann man sich immer noch auf die 7 konzentrieren. Die gewinnt auch in der pikanten Variante sofort.
«Trio» überrascht ein wenig, denn es macht nicht vieles neu. Es spielt mit dem Memory-Effekt und trainiert die Merkfähigkeit. Die Mischung aus dem bekannten «Karten aufdecken» und dem Abrufen der höchsten oder tiefsten Werte einer Kartenhand sorgt aber bis zuletzt für Spannung am Spieltisch. Mit dem Wissen der eigenen Kartenhand kann man sich gewisse Karten in der Runde kombinieren. Da man sieht, was die Mitspielenden abfragen, erhält man ganz nebenbei zusätzliche, wichtige Informationen. Es ist die Art von Kartenspielen, die ich sehr gut mag: Simpel, kurzweilig, aber mit Pfiff.
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Trio
Trio
Ein Merkspiel von Kaya Miyano Illustrationen: Laura Michaud
Für 3-6 Personen | Ab 7 Jahren | 15 Minuten Verlag: Cocktail Games | ca. 16 Fr. / 15 Euro
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Patrick Jerg betreibt seit 13 Jahren die Webseite brettspielblog.ch und veröffentlicht regelmässig Spielkritiken über Brett- und Kartenspiele. _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Susanne Aigner / Grosse Agrarkonzerne liessen tausende Pflanzensorten patentieren. Für die Nutzung von Saatgut braucht es eindeutige Regelungen.
Die europäische NGO «No Patents on Seeds!» fordert ein striktes Verbot für Patente auf Züchtungsprozesse, einschliesslich Kreuzung oder Selektion sowie auf die Nutzung natürlich vorkommender oder zufällig erzeugter genetischer Variationen. Der Zugang zur biologischen Vielfalt dürfe nicht blockiert, die globale Ernährungssouveränität nicht mittels exklusiver Eigentumsansprüche über Patente kontrolliert und behindert werden. Die Organisation appelliert an das Europäische Patentamt sowie an Regierungen, hier endlich wirksame Massnahmen zu treffen.
Dem Bündnis gehören Umwelt-, Saatgut- und landwirtschaftliche Verbände aus Deutschland, Österreich, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, UK und Portugal an. Die Schweiz ist durch ProSpecieRara, Swissaid, Public Eye und Biorespect vertreten:
Hintergrund ist: Immer mehr Pflanzensorten, die neu auf den Markt kommen, sind von Patenten betroffen – viele konventionell gezüchtete Sorten sogar von mehreren Patenten. Um zu verhindern, dass sich die grossen Konzerne die biologische Vielfalt aneignen, müsse die Politik eingreifen, erklärt Johanna Eckhardt von «No Patents on Seeds!»
Laut europäischer Gesetzgebung ist die Patentierung von Pflanzensorten zwar verboten. Doch im Zusammenhang mit technischen Erfindungen wie transgenen Pflanzen erlaubt eine Richtlinie der EU (98/44) die Vergabe von Patenten.
Eine natürlich vorkommende Sequenz oder Teilsequenz eines Gens sei als solche zwar nicht patentierbar, heisst es im Schweizer Bundesgesetz über die Erfindungspatente (Stand: 1. Juli 2023). Doch seien «Sequenzen, die sich von einer natürlich vorkommenden Sequenz oder Teilsequenz eines Gens ableiten, als Erfindung patentierbar, wenn sie technisch bereitgestellt werden und ihre Funktion konkret angegeben wird (….)».
«Seit Jahren umgehen diese Unternehmen mit Kniffen und Schlupflöchern dieses Übereinkommen und unser Gesetz», erklärte François Meienberg, Projektleiter Saatgutpolitik bei ProSpecieRara. Das etwas schwammig formulierte Gesetz biete Interpretationsspielraum, den diese Konzerne clever nutzten: «So ist es nicht möglich, ein Patent für eine einzige Sorte zu erhalten – ein Patent für eine neu entdeckte Eigenschaft, die verschiedenen Sorten angezüchtet werden kann, zu erhalten, ist aber möglich», erläutert er. Die bittere Ironie dabei: So kann ein Patent nicht nur eine Sorte, sondern unter Umständen tausende Sorten umfassen, welche diese Eigenschaft aufweisen.
«Noch abstruser ist ausserdem die Tatsache, dass die Entdeckung beispielsweise einer Mehltauresistenz bei einer wilden Spinatsorte ja nicht per se eine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist – die Resistenz kommt natürlich vor und muss im Erbgut der Pflanze nur gefunden und markiert werden.». So habe Syngenta vor Kurzem ein Patent auf alle kommerzialisierbaren Peperoni erhalten, die resistent gegen die Weisse Fliege sind. Für den Erhalt des Patents gab den Ausschlag, dass der Neuigkeitscharakter insofern gegeben war, dass die Resistenz im vorliegenden Fall nicht mehr nur in der wilden Sorte zu finden war, sondern neu eben auch in kommerziellen und hybriden Sorten.
Diese werden vor allem von Agrochemie-Konzernen wie Bayer, BASF, Syngenta und Corteva, aber auch von traditionellen Züchtungshäusern wie Rijk Zwaan und KWS mit Hilfe ihrer Patentanwälte und des Europäischen Patentamts (EPA) zur Genüge genutzt. So werden zum Beispiel in die Patentanmeldungen spezifische Formulierungen eingefügt, die den Einsatz gentechnischer Verfahren suggerieren, obwohl diese Verfahren in den meisten Fällen gar nicht angewandt wurden und für die Entwicklung der gewünschten Pflanzen auch nicht notwendig sind. In anderen Fällen beinhalten die Patentanmeldungen einen Anspruch auf ein Pflanzenmerkmal sowie einen bestimmten natürlich vorkommenden Genotyp.
Laut dem von «No Patents on Seeds!» veröffentlichten Bericht «Zukunft der europäischen Pflanzenzucht in Gefahr» betrifft die wachsende Zahl erteilter Patente und Patentanmeldungen mit Ansprüchen zur konventionellen Pflanzenzüchtung in Europa unter anderem Brokkoli, Tomaten, Melonen, Spinat, Salat, Mais, Weizen und Gerste. Erst im Mai dieses Jahres erhob «No Patents on Seeds» Einspruch gegen ein Patent der deutschen Firma KWS beim EPA. Das Patent beansprucht Mais, der zum Anbau in kälteren Regionen besonders geeignet ist. Allerdings wurde der Mais mit Hilfe von Pflanzen gezüchtet, die bereits tolerant gegenüber kälteren Anbaubedingungen waren.
50 Jahre nach der Gründung des Europäischen Patentamtes (EPA) stimmen die Entscheidungen, die vom Amt getroffen werden, nicht mehr mit seiner rechtlichen Basis, dem Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) überein, lautet die Kritik. Für alle Pflanzenzüchter, Gärtner und Landwirte in Europa, die sich mit konventioneller Züchtung, Anbau und Vermehrung von Nahrungspflanzen und -tieren beschäftigen, müsse Handlungsfreiheit garantiert bleiben, fordert das Saatgut-Bündnis.
Die EPA könnte das eigene Jubiläum zum Anlass nehmen und ein klares Signal setzen, dass die Patentierung von Saatgut stoppt. Über einen einfachen Mehrheitsbeschluss im Verwaltungsrat des EPA könnte die Regelungen des EPÜ wieder korrigiert werden. Ohne eine solche Korrektur werde nicht nur die traditionelle Pflanzenzucht blockiert, sondern auch die Zukunft der Ernährungssicherheit gefährdet. Darüber hinaus sollen die nationalen Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten des EPA mit der korrekten Auslegung der Patentgesetze verabschiedet werden.
Österreich bietet Steilvorlage für neues Gesetz
Ein entsprechendes Gesetz in Österreich wurde kürzlich bei Artikel 2, Absatz 2.3, wie folgt geändert: «Ein Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentlichen biologisch, wenn es ausschliesslich auf natürlichen Phänomenen wie Kreuzung, Selektion, nicht zielgerichtete Mutagenese oder auf in der Natur stattfindenden, zufälligen Genveränderungen beruht.» Pflanzen und Tiere durften in Österreich schon vorher nicht patentiert werden. Es darf ausdrücklich keine Form der konventionellen Pflanzenzüchtung patentiert werden. Die Sortenvielfalt ist somit für alle zugänglich.
Mit der Patentrechtsnovelle sollen die bestehenden Lücken bei Patenten auf Leben geschlossen werden. Das betrifft auch das sonst übliche Verfahren der nicht zielgerichteten Mutagenese: Dabei wird eine Pflanze einem bestimmten Stress ausgesetzt, etwa mit intensiver UV-Bestrahlung. Dadurch entstehen zufällige Mutationen und somit vielfältige Eigenschaften, die mittels Kreuzung und Selektion weiter gezüchtet werden können.
«No Patents on Seeds!» sieht im neuen Gesetz eine Vorlage für andere nationale Patentgesetze und für die erwarteten Entscheidungen des Verwaltungsrats. Auch das niederländische Parlament richtete sich jüngst mit der Forderung an die EU, Patente auf Saatgut auf der Ebene des EU-Agrarministerrates zu diskutieren.
Patente auf Leben mit Ansprüchen auf Pflanzen und Tiere als «Erfindungen» wurden in Europa erstmals in den 1980er Jahren eingefordert, als Unternehmen wie Monsanto mit der Züchtung gentechnisch veränderter Pflanzen begannen. Nach offiziellen Angaben wurden inzwischen mehr als 4000 Patente auf Pflanzen und 2000 Patente auf Tiere in Europa erteilt, meist für gentechnische Verfahren. Dahinter stecken die Interessen von agrochemischen Konzernen, von Patentanwälten, aber auch des EPA, denn sie alle profitieren vom Geschäft mit den Patenten. Verlierer sind die kleineren und mittleren Züchtungsunternehmen, deren Zugang zum Ausgangsmaterial für die Zucht zunehmend erschwert wird.
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Pascal Sigg / Die Verlage sind wieder Mitglied des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Und dieser finanziert bürgerliche Wahlkampagnen.
Der Verband Schweizer Medien (VSM) ist die Interessengruppe der Schweizer Medienverlage und damit eines bedeutenden Wirtschaftszweigs. TX Group, AZ Medien, Ringier, NZZ, Somedia: alle Grossen sind dabei. Letzte Woche kommunizierte der Verband, dass er nun nach längerem Unterbruch wieder Mitglied des Dachverbands Economiesuisse sei.
Verbandspräsident Andrea Masüger liess verlauten: «Economiesuisse vertritt die Interessen einer liberalen und verantwortungsvollen Schweizer Wirtschaft. Die privaten Medienunternehmen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Wirtschaftssystems und leisten einen zentralen Beitrag für das Funktionieren von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zusammen mit economiessuisse wollen wir uns gemeinsam für das Erfolgsmodell Schweiz einsetzen.»
Mit diesem politischen Engagement gehen die Verlage in einen schwierigen Spagat – besonders vor den anstehenden Parlamentswahlen.
Mindestens 500’000 Franken für bürgerliche Kandidaturen
Economiesuisse finanziert nämlich Wahlkampagnen – und zwar mit grossem Portemonnaie. Vor wenigen Tagen deklarierte die «IG der Wirtschaftsverbände», dass sie die gemeinsame Wahlkampagne «Perspektive Schweiz» mit zwei Millionen Franken ausgerüstet hat. Bauernverband, Arbeitgeberverband, Gewerbeverband und Economiesuisse steuerten je 500’000 Franken bei.
Urs Schneider, Gesamtkampagnenleiter von Perspektive Schweiz schreibt auf Infosperber-Anfrage, das Geld werde für Plakat- und Inseratekampagnen, Aushang von Fahnen und Transparenten sowie Medienarbeit verwendet. In der letzten Phase werde zudem «schwergewichtig über die sozialen Medien mobilisiert».
Es würden dabei keine einzelnen Kandidierenden unterstützt. Allerdings wolle die Kampagne wirtschafts- und landwirtschaftsfreundliche Kreise dazu bewegen, an den Wahlen teilzunehmen und entsprechende Kandidierende zu wählen, unabhängig von der Partei. «Naheliegend sind dies vor allem Kandidierende von FDP, Mitte und SVP.»
VSM antwortet nicht
Wie viel Geld zahlt der VSM Economiesuisse?
Kann der VSM ausschliessen, dass sein Geld in Politkampagnen fliesst?
Beide Fragen wollte der VSM gegenüber Infosperber nicht beantworten. Geschäftsführer Stefan Wabel schrieb bloss, der Verband werde künftig einen ordentlichen Mitgliederbeitrag entrichten. «Es erscheint uns wichtig, dass die Interessen der Medienbranche und des Journalismus im führenden Dachverband der Schweizer Wirtschaft vertreten sind, insbesondere auch die Themen Presse- und Werbefreiheit.»
Werbeinteressen: ja – Journalismusinteressen: naja
Dass sich Economiesuisse unter dem Motto «Ohne Werbung keine Wirtschaft» für Werbefreiheit einsetzt, ist bekannt.
Die Medien- oder Pressefreiheit gehört gemäss Website jedoch nicht zu den zentralen Anliegen des Verbands. Auch bürgerliche Parlamentsmitglieder engagierten sich in den letzten Jahren kaum für die Medienfreiheit. Als sich der Nationalrat zwischen Wirtschafts- und Medienfreiheit entscheiden musste, stimmten die SVP- und Mitte-Fraktion geschlossen gegen die Medienfreiheit. Und dies obschon die entsprechende Motion bloss vom Bundesrat verlangte zu prüfen, inwiefern die Medienfreiheit in der Bankenberichterstattung gewährleistet werden kann. Zuvor hatte ein Rechercheteam der Tamedia auf eine Mitwirkung bei den Suisse Secrets-Recherchen verzichtet. Es befürchtete ein Strafverfahren, falls es über geleakte Bankdaten berichtet hätte.
Und auch als der Grüne Waadtländer Nationalrat Raphaël Mahaim forderte, Medien besser vor strategischen Gerichtsverfahren gegen die Beteiligung der Öffentlichkeit (SLAPP-Klagen) zu schützen, stimmte einzig die Ratslinke zu.
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Keine. Infosperber ist Gründungsmitglied des Verbands Medien mit Zukunft. _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Deborah Shaw / Patricio Guzmáns Dokumentarfilme erzählen die Geschichte des Andenlands seit Pinochets Coup vor 50 Jahren.
psi. Dies ist ein Gastbeitrag. Deborah Shaw ist Professorin für Film an der Universität Portsmouth. Der Artikel erschien zuerst bei The Conversation. Infosperber übersetzt ihn im Rahmen der Creative-Commons-Lizenz.
Vor einem halben Jahrhundert begann Augusto Pinochet seine brutale 17-jährige Diktatur Chiles – eine dunkle und verheerende Periode in der Geschichte Chiles, die noch immer Narben in dem südamerikanischen Land hinterlässt.
Am 11. September 1973 führte Pinochet einen rechten Militärputsch an und beendete die demokratisch gewählte sozialistische Koalition der Volkseinheit von Präsident Salvador Allende.
Wer die turbulente politische und soziale jüngere Geschichte Chiles verstehen will, sollte sich den Filmen von Patricio Guzmán zuwenden, dem bedeutendsten Dokumentarfilmer des Landes, der für sein Werk gerade mit dem Nationalen Kunstpreis Chiles ausgezeichnet wurde.
Seine Bedeutung als Filmemacher wird diesen Monat mit einer Retrospektive seines Werks in in New York gewürdigt. Bei der einwöchigen Veranstaltung mit dem Titel Dreaming of Utopia: 50 Years of Revolutionary Hope and Memory werden Guzmáns Filme im Kino gezeigt, darunter neue Restaurierungen des bisher unveröffentlichten The First Year (1972) und seines Klassikers The Battle of Chile (1975).
Dies ist eine willkommene Anerkennung. Obwohl Guzmán ein bedeutender, preisgekrönter Filmemacher mit internationalem Ruf ist, verdient es sein Werk, bekannter zu werden.
Im Exil unter Pinochet
Wie so viele Chilenen unter der Diktatur Pinochets wurde Guzmán 1973 ins Exil gezwungen, nachdem er im berüchtigten Estadio Nacional (Nationalstadion) eingesperrt war, wo viele Tausende von politischen Gefangenen gefoltert und ermordet wurden. Nach einigen Aufenthalten in Kuba und Spanien ließ sich der Regisseur in Frankreich nieder.
Als jemand, der direkt von der Diktatur betroffen war, verbinden seine Filme das Persönliche mit dem Politischen.A ls glühender Verfechter von Salvador Allende gibt es in Guzmáns Filmen keine neutrale Sichtweise. Sie feiern den Protest des Volkes und den Kampf für Demokratie und Gleichheit.Ihr Zorn gilt Pinochet und seinem Erbe, einschließlich der Gräueltaten, die von der Militärpolizei unter seinem Kommando begangen wurden.
In einem Interview mit Jorge Ruffinelli in dessen Buch über den Regisseur beschreibt Guzmán die Rolle des Dokumentarfilms als:
Das kritische Gewissen einer Gesellschaft. Er stellt die historische, ökologische, künstlerische und politische Analyse einer Gesellschaft dar. Ein Land ohne Dokumentarfilm ist wie eine Familie ohne ein Fotoalbum.
Patricio Guzmán
Für Chile kämpfen
Der Kampf um Chile (englisch: The Battle of Chile) (1975) taucht regelmässig in den Listen der besten politischen Filme und Dokumentationen auf. Das dreiteilige, viereinhalbstündige Epos zeigt die komplexe politische Landschaft Chiles und die tiefen Gräben, die 1973 zu Pinochets Putsch führten.
Die persönlichen Kosten des Films werden in der Widmung zu Beginn des Films zum Gedenken an Jorge Müller Silva deutlich. Der Kameramann des Films wurde von der Militärpolizei gefoltert und «verschwand».
Eine der berühmtesten Szenen des Films zeigt den schockierenden Zusammenstoss zwischen einer friedlichen Kameraaufnahme und einem tödlichen Schuss. Mit der Aufnahme hält dder argentinische Kameramann Leonardo Hendrickson seinen eigenen Tod fest, nachdem ein Soldat auf ihn geschossen hat. Der Journalist Andy Beckett vom Guardian bezeichnete den Film als «den heiligen Text der Gegner des Generals im In- und Ausland».
General Pinochets Vermächtnis im Inland ist das Thema von Guzmáns Chile, Obstinate Memory (1998), einem Film über die Vorführung von The Battle of Chile bei seiner Rückkehr ins Land im Jahr 1996. Der Film, der während der Diktatur verboten war, wird mit emotionaler Wirkung Menschen gezeigt, die kaum etwas anderes über die jüngste Geschichte des Landes wissen als das, was das Militärregime sanktioniert hat. Im Publikum sitzen junge Menschen zusammen mit Veteranen und Überlebenden der Diktatur.
Die feministische Revolution
Die Wurzeln der jüngsten chilenischen Massenproteste, die als «estallido social» (soziale Explosion) bekannt sind, werden in Guzmáns bemerkenswertem Film My Imaginary Country (2022) erforscht. Wie er in seinem Dokumentarfilm sagt, wollte der Regisseur herausfinden, wie «ein ganzes Volk 47 Jahre nach Pinochets Putsch in einem so genannten sozialen Ausbruch, einer großen Rebellion oder gar einer Revolution aufgewacht ist».
Im Gegensatz zu Der Kampf um Chile, einem Film, in dem Männer den öffentlichen Raum dominieren, liegt die Antwort bei den Aktivistinnen, die in dem Film vorkommen und die alle Interviewpartnerinnen sind. My Imaginary Country zeigt ein Chile, das von tiefer struktureller Ungleichheit zerrissen ist und von einer militarisierten Polizei (Carabineros) unterjocht wird, die sich scheinbar im Krieg mit ihrer eigenen Bevölkerung befindet.
Dennoch zeigt der Film chilenische Frauen, die für eine friedliche Zukunft kämpfen. Ein Bild zeigt den kraftvollen Slogan einer Demonstrantin: «La Revolución será feminista o no será» – die Revolution wird feministisch sein oder sie wird überhaupt nicht stattfinden.
Diese Botschaft zieht sich durch den Film und wird durch die zentrale Rolle des feministischen Theaterkollektivs LasTesis verkörpert. Wie meine Co-Autorin Deborah Martin und ich in unserer Forschungsarbeit über LasTesis herausstellten, ging ihre Strassenperformance des Songs «A Rapist in Your Path», der die staatlich sanktionierte Vergewaltigungskultur anprangert, im Jahr 2019, dem Jahr des «estallido», weltweit viral.
Im Dezember 2021 dankte der neu gewählte Präsident Gabriel Boric den Frauen Chiles nach seinem Sieg über den rechtsextremen katholischen Kandidaten José Antonio Kast. Boric versprach, die Rechte zu verteidigen, für die sie «so hart gearbeitet hätten». Die Erinnerung ist ein zentrales Thema in den Filmen von Patricio Guzmán, aber ein zentraler Punkt in My Imaginary Country ist, dass die Zukunft Chiles von Frauenbewegungen angeführt werden muss, wenn es dem Kreislauf von Gewalt und Unterdrückung entkommen will, von dem seine Filme berichten. Als Dokumentarfilmer wird er zweifellos mit Interesse beobachten, wie sein Land darauf reagiert.
Zu kaufen und leihen gibt es Guzmáns Filme in der Schweiz bei Trigon Film.
Den Dreiteiler Der Kampf um Chile (1975) gibt es derzeit kostenlos in der Arte-Mediathek zu sehen.
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Catherine Duttweiler / In der Finanzkrise des Tierschutzes übernimmt Ex-TV-Moderator Jürg Wildberger die Krisenkommunikation. Kostendach: 50’000 Franken.
Verdacht auf ungetreue Geschäftsführung, unprofessionelle Immobiliendeals in Millionenhöhe, ein halbierter Vorstand und eine rabiate Präsidentin: Der spendenfinanzierte «Schweizer Tierschutz» (STS) ist aktuell vor allem mit sich selber beschäftigt. Gegen drei ehemalige und aktuelle Vorstandsmitglieder läuft eine polizeiliche Strafuntersuchung der Basler Staatsanwaltschaft.
Jetzt soll Jürg Wildberger, 73, langjähriger Chefredaktor und heutiger Seniorpartner bei einer der bekanntesten und teuersten Schweizer PR-Agenturen, den gemeinnützigen Verein in ein besseres Licht rücken. Mit einem Interview im heutigen «SonntagsBlick» hat er einen ersten Coup gelandet. Das ist für den STS teuer. Die Präsidentin beantragte dem Zentralvorstand des Verbandes – er hat sich nach Rücktritten und Sistierungen innerhalb weniger als zwei Jahren von 12 auf 6 Mitglieder halbiert – letzte Woche ein Rahmenbudget von 50’000 Franken für die Krisenkommunikation. Das ist viel Geld für einen Verein, der sich aus Spenden und Legaten finanziert.
Die «Konsulenten», so der Name von Wildbergers Agentur, die jetzt das Image des STS verbessern soll, verrechnen für ihre Dienstleistungen ein Honorar von 500 Franken pro Stunde, wie «Wildbi» (Branchenübername) auf Anfrage bestätigt. Er sagt indessen, dass für Nichtregierungsorganisationen ein günstigerer Tarif verrechnet werde, ohne dies zu präzisieren. Man darf von einem Rabatt von 30 bis 50 Prozent ausgehen. Inwiefern das 50’000-Franken-Budget reichen wird, muss sich weisen, zumal Präsidentin Nicole Ruch sehr zeitaufwändig kommuniziert: Mitarbeitende, Vorstandsmitglieder und Medienschaffende berichten, dass praktisch jedes Telefon mit ihr über eine Stunde dauert.
Prüfberichte dokumentieren fahrlässige Fehler bei Immobiliengeschäften und inkorrekte Spesenabrechnungen. Trotzdem zeigt die angeschossene Präsidentin Nicole Ruch im grossen «SonntagsBlick»-Interview von heute keinerlei Einsicht und weist jegliche Kritik zurück. Einzige, schwammig formulierte Konzession: «Es ist geplant, die Ressortleitungen möglichst bald wieder zu delegieren […] Ich ziehe mich aus dem operativen Geschäft zurück.» Ruch leitet bereits seit über 14 Monaten sieben von neun STS-Ressorts, wie dieses Organigramm zeigt. Nur die Ressorts Rechtsdienst und Jugend laufen ohne ihre Mitwirkung. Die Leitung der Ressorts Politik und Jugend ist verwaist, nachdem ein Mitglied suspendiert und ein zweites aus Protest dagegen seine Aufgabe abgegeben hat. Ruch ist zudem seit über einem Jahr Mitglied von 6 der 7 Kommissionen. In den Kommissionen sitzen jeweils Mitglieder des Vorstands sowie normale Mitarbeitende – ein fragwürdiges Konstrukt.
Die Präsidentin rechtfertigt sich im Interview, sie habe «nach Rücktritten vorübergehend einspringen und einzelne Bereiche selbst übernehmen» müssen. Dies ist aber nur in einem einzigen Fall korrekt, wie das Organigramm zeigt – bei den Finanzen, wo der gewählte Treuhänder nach einem ersten Einblick in intransparente und verdächtige Transaktionen im Juni letzten Jahres das Handtuch warf, weil die Präsidentin seine Reformbestrebungen abblockte. Der frühere TV-Moderator Kurt Aeschbacher hatte zwar schon zuvor den Hut genommen, allerdings nie leitende Funktion inne. Er ging, weil er ein Kommunikationskonzept ohne Einblick in Budget und personelle Ressourcen erstellen sollte – und weil er noch nie in seinem Berufsleben derart verletzend angegriffen worden ist, wie er am Freitag in einem grossen Hintergrundartikel in den CH Medien erklärte.
Trotzdem verkauft PR-Mann Wildberger Präsidentin Ruch in einer merkwürdigen Verdrehung der Fakten als Reformerin und ihre beiden Kritiker, SP-Nationalrätin Martina Munz und ETH-Agronom Michel Roux, als Bremser. So etwa in einer Stellungnahme in der NZZ vor zehn Tagen. Dort erklärte Wildberger, die beiden würden im Gegensatz zum Restvorstand den notwendigen Modernisierungskurs der Präsidentin nicht unterstützen.
Interne Unterlagen zeichnen ein anderes Bild der Rolle von Ruch, die im November 2021 die Leitung des STS übernommen und schon zuvor während acht Jahren als Vorstandsmitglied und stellvertretende Finanzchefin die fragwürdigen Immobilien- und Spesendeals mitverantwortet hatte.
Zum Beispiel der Bericht der Wirtschaftsprüfer BDO zu fragwürdigen Immobiliengeschäften. Schon im März 2022 hatten Vorstandsmitglieder mit Finanzhintergrund verdächtige Hinweise und forderten Einblick in Unterlagen und ab November 2022 wenigstens eine interne Untersuchung. Im Dezember 2022 beschloss der Vorstand ein erstes Mal, eine externe Untersuchung: Ruch sollte einen entsprechenden Auftrag erteilen. Im März 2023 wurde dieser Auftrag bekräftigt. Doch erst im Juni 2023 wurde ein entsprechender Auftrag endlich unterschrieben. Als der Bericht am 31. Juli eintraf, hielt Ruch diesen zurück. Einer ihrer Kritiker, Michel Roux, konnte ihn am 9. August direkt bei der BDO einholen, schickte ihn an alle Vorstandsmitglieder und verlangte eine Traktandierung an der Zentralvorstandssitzung, die tagsdarauf stattfand. Doch das Thema wurde nicht traktandiert. Der Vorstand folgte seiner Präsidentin, die den Bericht nicht diskutieren wollte. Roux, der zu diesem Zeitpunkt zusammen mit Munz eine Strafanzeige eingereicht hatte, forderte zudem eine forensische Untersuchung der Immobilienarbeiten, wie ihm dies die Basler Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte empfohlen hatte. Doch vergeblich. «Reformerin» Ruch erklärte, sie wolle jetzt nach vorne blicken. Den Zentralvorstand und die leitenden Mitglieder liess sie noch am 18. August 2023 im Glauben, der Bericht stehe erst «kurz vor Abschluss». Gegenüber Medien erklärte sie, der Bericht müsse noch ergänzt werden. Doch wie sie letzte Woche zugeben musste, gibt es auch sieben Wochen nach Abgabe des Berichts keine Ergänzungen und es sind auch keine geplant. Pikant: Ruch verzögerte den Untersuchungsbericht, obwohl im Vorstand schon im Dezember 2022 bekannt war, dass der Immobilienverantwortliche Pascal Reinhard zusammen mit einem befreundeten Architekten Privataufträge für den STS übernahm und pauschal als Spesen verrechnete – bis zu 14’500 Franken pro Monat. Sie hatte dies an der Vorstandssitzung vom 12. Dezember 2022 mit der Begründung verteidigt, dies sei für den Verband günstiger gewesen.
Als sich die Verfehlungen im Immobilienbereich konkretisierten, beantragte Martina Munz an der Vorstandssitzung von März 2023 einen sofortigen Verkaufsstopp für die 16 Immobilien, die von Reinhard verwaltet werden – da dieser bei jeder Transaktion Provisionen kassiert habe. «Reformerin» Ruch lehnte dies ab mit der Begründung, das Thema sei nicht traktandiert, man könne nicht darüber abstimmen.
Als Mitarbeitende und Vorstandsmitglieder auf immer mehr Missstände stiessen und den Zentralvorstand als oberstes Führungsgremium darauf aufmerksam machen wollten, erteilte «Reformerin» Ruch die Anweisung, sie dürften nicht mehr unter einander direkt kommunizieren, alle Informationen müssten künftig «strikte» über sie laufen – ein wohl einzigartiger Vorgang. Roux und Munz hatten unter anderem den Vorstand über ihre Feststellung nach der stichprobenhaften Einsicht in die Buchhaltung informiert.
Derartige schriftlich dokumentierten Fakten und Abläufe kann auch der teuerste PR-Berater nicht aus der Welt schaffen. Spender und Spenderinnen des «Schweizer Tierschutzes» jedenfalls haben bedauerlicherweise ihre Schlüsse längst gezogen. Seit Amtsantritt von Ruch im Jahr 2021 kam es zwar 2022 einmalig zu mehr Erbschaften, dafür aber zu einem massiven Spendeneinbruch, wie die interne Statistik zeigt – von 4,2 Millionen auf 1,7 Millionen Franken pro Jahr:
STS: Die Entwicklung der Spendeneinnahmen von 2017 bis 2022
Auch diese Tatsache wird im heutigen «SonntagsBlick» von Ruch und Wildberger schön geredet. Die traditionellen Spenden gingen seit Jahren «kontinuierlich leicht zurück», beteuerte Ruch, was mit Erbschaften wettgemacht würden: «Aktuell sehen wir keinen Einbruch.»
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Daniela Gschweng / Wegen neuer Versicherungs- und Migrationsgesetze fürchtet Florida Probleme nach dem Jahrhundertsturm Idalia.
Der Vorname Idalia bedeutet angeblich «ich sehe die Sonne». Er benennt auch eine Stadt auf Zypern. Dort hätten sich die Einwohner Floridas am 30. August vermutlich hingewünscht. Von Sonne war nichts zu sehen und Idalia richtete grosse Zerstörungen an. Der Sturm der Kategorie 3 zerstörte tausende Häuser. Teile Floridas waren tagelang ohne Strom, ganze Stadtteile standen unter Wasser.
Allein im Bezirk Paso County seien 4000 bis 6000 Häuser überschwemmt, sagte der Bezirksverwalter Mike Carballa. Was die Bewohner besassen, ist durch Wasser und Schlamm unbrauchbar geworden.
Schätzungen gehen von 3 bis 10 Milliarden Dollar Schaden aus
Die Rating-Agentur Moody’s schätzte den versicherten Schaden Anfang September auf 3 bis 5 Milliarden US-Dollar. Die UBS ging laut dem «Guardian» von etwa 9 Milliarden Dollar aus.
Im betroffenen Gebiet im Big Bend waren Schäden durch Hurricanes bisher eher selten. Viele Hausbesitzer haben deshalb ältere Häuser, die nicht mehr versichert wurden. Einige versuchen nun per Crowd-Funding, Geld aufzutreiben. Wer eine Hausratversicherung hat, hofft auf Geld.
Auch das könnte schwierig werden. Der letzte kostspielige Sturm, Hurrikan Ian, ist gerade elf Monate her. Nach Ian packte Floridas Gouverneur Ron DeSantis eine Milliarde Dollar Steuergelder in Rückversicherungsfonds und änderte mehrere Gesetze zu Ungunsten der Versicherten. Die Versicherungen dankten es ihm mit rund vier Millionen Dollar an Wahlkampfspenden, berichtete das Magazin «Mother Jones».
Wie DeSantis’ Gesetze Versicherte entrechten
Seit Dezember 2022 ist es für Versicherte sehr viel schwerer geworden, Versicherungen zu verklagen, wenn sie Ansprüche nicht angemessen beglichen sehen. Klagen sie trotzdem, werden ihre Anwaltskosten nicht mehr bezahlt. Die Frist, in der Geschädigte Ansprüche geltend machen können, hat sich ebenfalls verkürzt.
Ausserdem schränkte die gemeinnützige staatliche Versicherungsgesellschaft Citizens ihre Förderbedingungen ein. Citizens versichert Menschen, die auf dem regulären Markt keine bezahlbare Versicherung finden. Die Versicherungsprämien in Florida sind im Schnitt viermal so hoch wie im Landesdurchschnitt.
Wegen restriktiver Migrationsgesetze fehlen Bauarbeiter
Wer Geld von der Versicherung bekommt, steht anschliessend vor dem nächsten Problem: Er muss jemanden finden, der den Schaden repariert oder das zerstörte Haus wieder aufbaut. Eine Aufgabe, die bisher vor allem Migranten zufiel.
Viele sind Sans-Papiers aus Mittel- und Lateinamerika. Sie arbeiten vor allem in der Landwirtschaft und auf dem Bau. Um den verwüsteten Teil Floridas wieder aufzubauen, brauche es Tausende von ihnen, schätzt der «Guardian».
Florida braucht also ausgerechnet diejenigen dringend, die DeSanis um jeden Preis loswerden will. Der Republikaner, der für das Präsidentenamt kandidiert, gilt als Hardliner in Sachen Migration. Seit seinem Amtsantritt als Gouverneur Floridas hat er die Migrationsgesetze wiederholt verschärft.
Das jüngste Gesetz trat am 1. Juli in Kraft. SB1718 verbietet es unter anderem, Sans-Papiers zu beschäftigen. Die Fahrerlaubnis von Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung ist neu ungültig. Wer Menschen ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis transportiert, muss mit Strafen rechnen, selbst wenn es Verwandte sind.
Für Migranten wird das politische Klima immer restriktiver. Schon bevor Idalia auf Land traf, sah sich das US-Ministerium für innere Sicherheit gezwungen klarzustellen, dass Behörden im Rahmen der Katastrophenhilfe keine Abschiebungen oder Kontrollen vornähmen. Sans-Papiers hätten jedoch keinen Anspruch auf Teilnahme an Nothilfeprogrammen, berichtete NBC. Wer eine Greencard oder ein anderes Visum hat, bekommt einen Teil der Hilfen.
Wiederaufbauhelfer seien auch früher schon mit Abschiebung bedroht worden. Zum Beispiel, wenn sie ihre Löhne einforderten, erklärte Saket Soni von Resilience Force im vergangenen Jahr gegenüber dem «Time Magazine». Resilience Force vertritt etwa 2000 Katastrophenhelfende, einige sind Wanderarbeiter ohne Aufenthaltserlaubnis. Geholfen hätten sie bisher trotzdem, sagte Soni.
Das hat sich inzwischen geändert. Viele, die nach Hurrican Ian noch angepackt haben, haben Florida inzwischen verlassen, weil sie befürchten, abgeschoben zu werden.
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Daniel Goldstein / Wer ein zünftiges Feindbild hegen und verbreiten will, muss es sorgsam pflegen. Dazu gibt es vielerlei Methoden, hier eine Auswahl.
Die Mittelchen zur Feindbildpflege reichen von primitiven in der Politpropaganda bis zu raffinierteren, die auch in redaktionellen Medienbeiträgen nicht selten sind. Als Königsdisziplin liesse sich da das vergiftete Kompliment nennen: Wird jemand mit dem Prädikat «Vorzeige-» beglückt, dann meistens, wenn das Image zumindest Kratzer bekommen hat. So geschehen beim weltoffenen «Vorzeige-Imam» in Bern, in dessen Moschee es Zwangsheiraten gegeben haben soll. Auch die Bezeichnung «Alphatier» erhält eher, wer mit seinem Ehrgeiz aneckt, als wer damit Beifall erntet. Wenn von einem «Bildungsbürger» die Rede ist, dann wird er kaum für sein gediegenes Wissen gelobt, sondern dafür angeprangert, dass er es zur Schau stellt.
Mit Etiketten pflastern
Damit sind wir unversehens beim Etikettieren angelangt. So bezeichnete eine Vertreterin des Berner Nachtlebens Kritiker als «Lärmnörgler» und konnte das Wort ohne Anführungszeichen auf einer Frontseite lesen; im Blattinnern waren es dann rundum korrekte «Lärmklagende». Die Stadtregierung, deren «Wahlklientel» angeblich eine «Wohlfühloase» will und bekommt, hat nun das Dilemma, auf welche Seite sie stärker hören soll. Hat man eine feindtaugliche Etikette gefunden, kann man sie durch Verallgemeinerung aufwerten: «Einfach einmal seinen inneren alten weissen Mann channeln und stumpf Sachen behaupten», schrieb eine Kolumnistin. Sie meinte damit «Bullshit erzählen», etwa die Klimaerwärmung oder die Existenz von Transsexuellen leugnen.
Während die als Feststellung getarnte Unterstellung eher zu den primitiven Methoden gehört, ist die offene Unterstellung etwas für Geniesser des Genres. Etwa so: «Man kann sich vorstellen, wie Wladimir Putin sarkastisch lächelnd im Kreml sitzt» – wegen der Verurteilung einer US-Sportlerin, die als Pfand für einen Gefangenenaustausch dienen sollte. Ähnlich einfallsreich steht im Bericht über einen argentinischen Populisten: «Slogans wie ‹Die Kaste hat Angst› oder ‹Alle sollen abhauen› könnte man sich auch gut bei Trump vorstellen.»
In den Eintopf hämmern
Wäre dies eine Hitparade, kämen wir nun zu den «bottom five» der Top Ten (gross- und ohne Anführungszeichen geschrieben, weil laut duden.de deutsch, wenn auch «Jargon»). Als unterste Schublade dient dabei praktischerweise der Briefkasten bzw. das Altpapier, denn da landete kürzlich eine zeitungsförmige Wahlpropaganda. Und noch praktischer: Alle fünf Methoden waren nur schon auf einer einzigen Seite vereint. Da war das Einhämmern: fünfmal «links-grün», dazu noch x-mal auf den restlichen 15 Seiten. Dann der Eintopf, in den man alles wirft: «links-grüne Verkehrspolitik und ihre Klima-Kleber».
Weiter das Übertreiben: «Links-grüne Gender-Ideologen wollen flächendeckend für viel Geld die Strassenschilder mit sog. gendergerechten Schildern ersetzen.» Die Formulierung ist vorbildlich unwiderlegbar: Es werden sich schon zwei fremdernannte Ideologen (er)finden lassen, die dem Genfer Beispiel gesamtschweizerisch folgen wollen. Da ist’s nicht mehr weit zum Pathologisieren, denn hinter dem «Gender-Unsinn» steckt «Gender-Wahn», und zuvorderst in diesem SVP-Extrablatt begegnet uns schon der «links-grüne Verbotswahnsinn». Auf der zuvor zitierten Musterseite 7 folgt doch noch etwas Raffinierteres: die Retourkutsche. So quasi nach dem Motto: Feindbilder pflegen – wer tut denn so was? Natürlich die Gegenseite, sie schröpft und schikaniert das «Feindbild Autofahrer».
Weiterführende Informationen
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Er wird als alter weisser Mann «gelesen» (wahrgenommen). _____________________ Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Martina Frei / Zum Blutverdünnen genommen, schadete es Menschen im Alter von über 70 Jahren ohne Herzgefässerkrankungen eher, als dass es half.
Fast 20’000 über 70-Jährige, etwa die Hälfte davon bekam täglich vorbeugend eine 100-Milligramm-Tablette Aspirin, die andere Hälfte erhielt ein Placebo – dieses Experiment sollte zeigen, welchen Nutzen Aspirin als Blutverdünner den Senioren bringt, die relativ fit sind. Keine der Studienteilnehmerinnen und der -teilnehmer hatte bisher einen Schlaganfall, eine «Streifung» oder eine Herzerkrankung wie zum Beispiel Vorhofflimmern oder einen Herzinfarkt.
Nach knapp fünf Jahren wurde Bilanz gezogen. Die erste Frage war, ob das Aspirin (auch bekannt unter dem Wirkstoffnamen Acetylsalicylsäure oder abgekürzt ASS) Schlaganfälle verhinderte, die durch ein Blutgerinnsel in einer Arterie im Gehirn verursacht wurden.
Die zweite Frage galt dem möglichen Schaden des Aspirins. Wegen seiner blutverdünnenden Wirkung begünstigt es als Nebenwirkung innere Blutungen, zum Beispiel im Gehirn. Diese können spontan auftreten oder infolge eines Sturzes.
Unter jeweils 1000 Versuchspersonen gab es im Verlauf von fünf Jahren in der Aspirin-Gruppe 2,5 Gerinnsel-bedingte Schlaganfälle weniger als in der Placebo-Gruppe. Dieser Effekt wurde jedoch wettgemacht durch die Anzahl der Hirnblutungen: Unter jeweils 1000 Versuchspersonen gab es im Verlauf von fünf Jahren in der Aspirin-Gruppe 3,5 Hirnblutungen mehr als in der Placebo-Gruppe.
Erste grosse Studie an älteren Menschen
Überdies kam es in der Aspirin-Gruppe rechnerisch bei 6,1 von 1000 Personen pro Jahr zu einer grösseren Blutung irgendwo anders als am Kopf. In der Placebo-Gruppe passierte das jährlich 4,3 von 1000 Personen.
Die meisten Studien in der Vergangenheit untersuchten den Nutzen des Aspirins bei jüngeren Altersgruppen. Diese erste grosse Studie ausschliesslich an älteren Menschen ohne bestehende Herz- oder Gefäss-Erkrankungen ergab keinen statistisch signifikanten Nutzen des Aspirins, indem es Blutgerinnsel-bedingte Schlaganfälle verhinderte.
Es zeigte sich aber ein statistisch signifikanter – also wahrscheinlich nicht bloss zufällig aufgetretener – Schaden in Form von Hirnblutungen. Dabei waren diese Studienteilnehmenden im durchschnittlichen Alter von 74 Jahren noch relativ gesund. Niemand von ihnen lebte in einem Pflege- oder Altersheim. «Bei älteren Menschen, die zu Stürzen neigen, könnte das Risiko für eine Hirnblutung bei der Behandlung mit Aspirin noch höher sein als in dieser Studie», geben die Studienautorinnen und -autoren in «Jama Network Open» zu bedenken.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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