Kinderlähmung in Gaza: Eine Katastrophe mit Ansage

Martina Frei /  In Gaza sollen 640’000 Kinder gegen Polio geimpft werden. Gestern Sonntag waren es nach Angaben der BBC erst knapp 80’000.

Seit Wochen berichten Medien über die geplante Impfaktion: «Vorbereitung für Impfungen im Gazastreifen läuft auf Hochtouren» («SRF»). «Impfstoff gegen Polio kommt im Gazastreifen an» («spiegel.de»). «Feuerpausen für Polio-Impfungen im Gazastreifen» («ARD»). Die Nachrichten kommen daher wie Erfolgsmeldungen, aber in Wahrheit sind sie Bankrotterklärungen.

Den Nährboden für Polio-Ausbrüche bilden dicht zusammengepferchte, geschwächte, nicht geimpfte Menschen, verschmutztes Trinkwasser und desolate hygienische Bedingungen – so wie jetzt in Gaza.

«Ich habe keine Worte, um zu beschreiben, was wir hier Tag für Tag sehen», sagte eine Mitarbeiterin des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA. «Es gibt hier keine Menschlichkeit mehr. Wenn man mit den Menschen redet, sagen sie einem nur, dass sie auf den Tod warten.» Tausende Familien in Gaza seien täglich gezwungen, an einen anderen Ort zu flüchten. Für alle möglichen Viren, Krätzemilben, Amöben und Bakterien herrschen in Gaza «beste» Bedingungen, um weiterverschleppt zu werden. 

Zwölfmal habe sie bisher ihren Aufenthaltsort wechseln müssen, weil immer wieder Evakuierungsbefehle kamen, berichtet die 21-jährige Journalistin Rita Baroud auf der Website «The New Humanitarian». Seit Beginn des Kriegs habe sie zwölf Kilo abgenommen.

Kinder haben weder genug noch das richtige Essen

Laut der UN-Hilfsorganisation UNRWA sind nur etwa sechs Prozent der Kinder im Süden des Gazastreifens und nur ein Prozent der Kinder im Norden ausreichend ernährt. Neugeborene sind untergewichtig. Ihre Mütter haben Mühe, Milch zu produzieren, um sie zu stillen. 

Das «British Medical Journal» (BMJ) berichtet von 90 Prozent mangelernährter Kinder in Gaza. Seit Monaten blockiere Israel immer wieder Hilfstransporte.

Siebenmal so viele Menschen pro Fläche wie in Zürich

Zwei Drittel der früher rund 2,38 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen zählenden Bevölkerung Gazas leben nun auf einer Fläche von 69 Quadratkilometern, weniger als einem Fünftel der Fläche des Gaza-Streifens. Das macht rund 35’000 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: Im Schweizer Mittelland sind es über 400 Menschen pro Quadratkilometer, in Zürich etwa 5000 pro Quadratkilometer

Selbst auf dem Friedhof stehen am Flüchtlingsort Deir al-Balah mittlerweile Zelte.

Knapp fünf Liter Wasser pro Tag in Gaza – 140 Liter in der Schweiz

4,74 Liter Wasser hat gemäss «Oxfam» durchschnittlich jeder Mensch in Gaza pro Tag. Das ist weniger als eine WC-Spülung. Zum Vergleich: In Schweizer Haushalten liegt der tägliche Trinkwasserverbrauch pro Kopf bei rund 140 Litern, in Israel beträgt der Pro-Kopf-Verbrauch laut «Oxfam» 247 Liter täglich. «Oxfam» ist ein Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen.

Im Moment herrschen in Gaza tagsüber Temperaturen über 30 Grad. Die Zelte der Flüchtlinge würden zu Treibhäusern, warnte ein Mitarbeiter von «ActionAid Palestine» im «British Medical Journal».

Israels «Wasserkrieg»

Das von israelischen und palästinensischen Journalisten gemeinsam verfasste Magazin «+972», benannt nach der Telefonvorwahl Israels, listete die Zerstörungen durch das israelische Militär auf: 194 zerstörte Brunnen zur Wassergewinnung, des weiteren 40 zerstörte grosse Wasserreservoire, 55 zerstörte Abwasserpumpstationen, 76 zerstörte kommunale Entsalzungsanlagen, vier zerstörte Kläranlagen sowie neun Ersatzteillager und zwei Labors zur Prüfung der Wasserqualität – Stand Juni 2024. 

Seither gingen die Bombardements und Sprengungen weiter, wie dieses Video zeigt, in dem israelische Soldaten ein Wasserreservoir in die Luft jagen. 

Laut «Oxfam» ist die Wasserversorgung in Gaza um 94 Prozent eingebrochen. Israel habe Wasseranlagen «systematisch zerstört», Hilfe absichtlich behindert und die Wasserzufuhr beschnitten. Im Bericht «Wasser-Kriegs-Verbrechen» belegt Oxfam die Vorwürfe.

Ausserdem blockierte die israelische Regierung laut dem «Council on Foreign Relations» die Einfuhr dringend benötigter Chlorid-Tabletten, um Wasser zu desinfizieren.

Ein WC für über 4000 Personen

«Médecins sans Frontières» (MSF) machte bereits im Februar auf die Durchfallerkrankungen durch verschmutztes Trinkwasser aufmerksam. «Die Auswirkungen sind schlimmer für Kinder, die ein schwächeres Immunsystem als Erwachsene haben und Krankheiten und Allergien stärker ausgesetzt sind», zitierte MSF eine Mitarbeiterin. «In letzter Zeit haben wir auch beobachtet, dass Kinder an Hautausschlägen leiden, weil es kein sauberes Wasser zum Baden oder Waschen gibt.»

Fehlendes Trinkwasser ist das Eine, die herumwabernde Kloake das Andere. Am Flüchtlingsort Al-Mawasi teilen sich laut «Oxfam» im Durchschnitt 4130 Personen ein Klo. 

Dreckwasser umspüle die Zelte, Abfallberge türmten sich. Wegen Treibstoffmangel können weder die Wasser-Entsalzungsanlagen noch die Kläranlagen, die Abfallbeseitigung (oder auch Kühlschränke zum Lagern von Impfstoffen) betrieben werden wie sonst. 

Fast alle Kleinkinder mit Durchfall

«Mindestens 90 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind von einer oder mehreren Infektionskrankheiten betroffen, und 70 Prozent leiden an Durchfall», berichteten die Vereinten Nationen schon Anfang März 2024 und prangerten Israels «Aushungerungs-Kampagne» an.

Vom 7. Oktober 2023 bis zum 7. Juli 2024 kam es in Gaza zu 990’000 Atemwegsinfekten, 574’000 Fällen von akutem wässrigem Durchfall, 107’000 Fällen von Gelbsucht, 12’000 Fällen von blutigem Durchfall – doch die wahre Anzahl sei «wahrscheinlich viel höher». Das schreibt das «BMJ» mit Verweis auf die WHO.

«Meine Kinder klagen täglich über Bauchschmerzen, Fieber, Hautausschläge und andere Gesundheitsprobleme. Wenn unsere Kinder nicht von den Raketen getötet werden, werden sie an diesen seltsamen Krankheiten sterben, die durch die Umweltverschmutzung und den Mangel an sanitären Einrichtungen entstehen», zitiert «+972» eine Mutter von drei Kindern in Gaza. 

Keine Seife, kein WC-Papier, keine Monatsbinden

Ein Vater berichtet, sein Sohn habe eine Hautinfektion und müsste eigentlich täglich gewaschen werden. «Aber Reinigungsprodukte sind sehr teuer. Ein Stück Seife kostete früher nur einen Dollar, jetzt wird es für vier Dollar verkauft.» Essen und Wasser müsste abgekocht werden, aber «der Mangel an Gas zum Kochen ist ein grosses Problem». 

Ein Mediensprecher der UN-Hilfsorganisation UNRWA sprach gegenüber dem Magazin «+972» von 1000 Hepatitis-Erkrankungen pro Woche. Seit dem 7. Oktober registrierte die UNRWA fast 40’000 Fälle von Hepatitis A. Diese ansteckende Leberentzündung wird durch Wasser oder Lebensmittel übertragen, die mit Fäkalien verunreinigt sind.

«Israel hat 70 Prozent aller Abwasserpumpen und 100 Prozent aller Kläranlagen sowie die wichtigsten Laboratorien zur Untersuchung der Wasserqualität in Gaza zerstört und die Einfuhr von Oxfam-Wasseruntersuchungsgeräten eingeschränkt», berichtet «Oxfam».

Seife, Shampoo, WC-Papier, Monatsbinden – seit zwei Monaten seien solche Produkte wegen der von Israel verhängten Blockade kaum noch erhältlich, sagt die Journalistin und Aktivistin Maha Hussaini in einem Video auf der Website «The New Humanitarian» und fügt an: «Wir erwarten eine weitere Lebensmittel-Krise.»

Viel zu wenig medizinische Zentren

«Das Gesundheitssystem ist auf den Knien», schreibt ein Mitarbeiter von «ActionAid Palestine» im «British Medical Journal». Die wenigen verbliebenen Spitäler platzten aus allen Nähten. Das «Al-Aqsa Hospital» beispielsweise würde fünfmal so viele Kranke versorgen wie früher, viele davon lebensgefährlich verletzt. Laut dem Spitaldirektor war das Spital zuletzt für rund eine Million Flüchtlinge zuständig. Der Treibstoffmangel betrifft auch die Spitäler und die lebensrettenden Maschinen dort.

Ende August berichtete die Nachrichtenagentur «AP», dass nun auch das zu den wenigen verbliebenen Spitälern zählende «Al-Aqsa Hospital» geräumt werden musste, denn Israels Militär hatte in der Nähe «Bodenoperationen» angekündigt und die Bevölkerung dort zur Evakuierung aufgefordert. 

Aus Furcht, auch das Spital könne zur Zielscheibe werden, seien Patienten und Mitarbeitende geflohen, berichtet «+972». Mindestens jede 50. Person, die im Gesundheitswesen arbeitete, sei bereits getötet worden – durchschnittlich zwei Gesundheitsfachleute pro Tag, prangerte «Medical Aid for Palestinians» an. 

Israel erteile oft auch keine Erlaubnis, um Ärzte nach Gaza zu entsenden, sagte ein anderer Mitarbeiter dieser Hilfsorganisation gegenüber «The Lancet». Zuletzt habe dies einen Narkosearzt betroffen, «der nicht einmal Araber ist, und wie immer wird kein Grund genannt».

In Rafah haben laut der WHO 90’000 Menschen überhaupt keinen Zugang mehr zu Gesundheitseinrichtungen.  

90’000 Menschen ohne Arzt, Ärztin

Rund 90’000 Verletzte wurden laut dem «British Medical Journal» bisher gezählt.

Den palästinensischen Behörden zufolge wurden seit dem 7. Oktober 2023 über 40’000 Menschen in Gaza getötet. Israelische Behörden haben die palästinensischen Schätzungen im Frühling bestritten

Doch eine Gruppe von US-Pflegekräften und Ärzten, die in Gaza halfen, hält die offiziellen Angaben für untertrieben. Laut «The Lancet» schrieben sie in einem Brief an US-Präsident Biden, dass bisher wahrscheinlich über 92’000 Menschen in diesem Konflikt gestorben seien, mehr als doppelt so viele, wie das palästinische Gesundheitsministerium zählte.

Auch der weltweit bekannte kanadische Wissenschaftler Salim Yusuf hält die offiziellen Zahlen wahrscheinlich für eine Unterschätzung, schrieb er in «The Lancet». Auf einen «direkten» Tod durch die Kampfhandlungen würden erfahrungsgemäss 3 bis 15 «indirekte» Todesfälle durch Krankheiten kommen. Konservativ geschätzt, ergebe das 186’000 oder mehr verstorbene Palästinenserinnen und Palästinenser, fast acht Prozent der früheren Bevölkerung.

Mehr als 17’000 Kinder müssen für sich selbst sorgen

Mehr als 10’000 Tote sollen den Vereinten Nationen zufolge noch unter den Trümmern liegen. Schon im Mai waren 30 Prozent der Toten nicht identifiziert.

Die Hilfsorganisation «Save the Children» schrieb – Stand Juni – von mindestens 17’000 Kindern, die in Gaza auf sich allein gestellt seien, und vermutlich 4000, die unter Trümmern begraben liegen. Andere Kinder seien zwangsweise verschleppt oder gefoltert worden. «Schätzungsweise über 20’000 Kinder sind verloren gegangen, verschwunden, inhaftiert, begraben unter den Trümmern oder in Massengräbern.»

Der Polio-Ausbruch war erwartbar und wäre zu vermeiden gewesen

Vor dem Gaza-Krieg waren je nach Quelle 95 bis 99 Prozent der dortigen Bevölkerung gegen Polio geimpft. Nun sind es noch rund 86 oder 89 Prozent, berichten «The Lancet» und die «Polio Global Eradication Initiative». Von den etwa 50’000 Kindern, die seit Beginn des Gaza-Kriegs geboren wurden, seien vermutlich gar keine geimpft worden.

Im Juli wurden Impf-Polioviren in sechs Abwasserproben aus Gaza entdeckt, die am 23. Juni entnommen worden waren. Diese Viren ähneln Viren, die in der zweiten Jahreshälfte in Ägypten gefunden wurden. Der «Polio Global Eradication Initiative» zufolge könnten sie bereits seit September 2023 in Gaza zirkulieren. 

Stichwort Polio

Das Polio-Virus vermehrt sich im Darm, wird in der Regel mehrere Wochen lang mit dem Stuhlgang ausgeschieden und kann so auch übertragen werden.

Über 95 Prozent der Polio- Infizierten zeigen keine oder nur leichte Symptome, ähnlich einer Erkältung oder Durchfall. Weniger als ein Prozent bekommen Lähmungen, meist an einem Bein. Die Lähmungen können sich ausbreiten und bis zur tödlichen Atemlähmung führen. Manche Patienten erholen sich wieder, andere bleiben lebenslang behindert.

Die Schluckimpfung ist wirksam und scheint überdies einen günstigen Effekt auf die Immunabwehr zu haben. Weil sie preiswert ist, wird sie oft in ärmeren Ländern eingesetzt. Diese sogenannte «Lebendvakzine» besteht aus abgeschwächten Polio-Impfviren, die sich für einige Zeit im Darm der Geimpften vermehren und währenddessen auch mit dem Stuhlgang ausgeschieden werden. Das Immunsystem im Darm wird durch die Impfung aktiviert und der geimpfte Mensch ist fortan immun gegen Polio. 

Unter bestimmten Umständen können die abgeschwächten Polio-Impfviren jedoch mutieren und zu Krankheitserregern werden. Solche mutierten Viren führen bei ungefähr zwei bis vier von einer Million Geimpften zu einer Polio-Erkrankung, die sich genauso äussert wie die Kinderlähmung durch «wild vorkommende» Viren. Wer vollständig gegen Polio geimpft ist, hat von solchen mutierten Impfviren hingegen nichts zu befürchten. Zirkulieren diese aber längere Zeit in einer Bevölkerung, die nicht immun ist gegen Polio, kann es zu Ausbrüchen kommen. Dies ist nun in Gaza eingetreten.

In westlichen Ländern wird anstelle der Schluckimpfung ein Polio-Impfstoff gespritzt. Er umgeht das Problem der «Impf-Polio», hat aber andere Nachteile (Infosperber berichtete)

Erste Polio-Lähmung seit 25 Jahren

Nach dem Fund bot Israel rasch allen seinen Soldatinnen und Soldaten die Polio-Impfung an – aber nicht der Bevölkerung von Gaza. Es seien mehrere Wochen vergangen, bis Israel den Transport des Polio-Impfstoffs erlaubt habe, berichtet «+972». 

Mittlerweile gab es drei Verdachtsfälle von Kinderlähmung in Gaza. Am 16. August teilte das Palästinensische Gesundheitsministerium mit, dass bei einem zehn Monate alten, nie geimpften  Baby eine Polio-Erkrankung festgestellt worden sei. Der WHO-Direktor bestätigte den Befund am 23. August. Es ist der erste Fall nach 25 Polio-freien Jahren in Gaza.

Zwei Impfrunden im Abstand von vier Wochen geplant

«Um es klar zu sagen: Die ultimative Impfung gegen Polio ist Frieden und ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand. In jedem Fall aber ist eine Polio-Pause ein Muss», forderte der WHO-Generaldirektor.

An drei Tagen sollen nun jeweils zwischen 6 und 15 Uhr insgesamt 640’000 Kinder in Gaza geimpft werden – falls sich alle an die Waffenruhe halten. 

Geplant sind zwei Impfrunden im Abstand von vier Wochen. Die ständig wechselnden Aufenthaltsorte der Flüchtlinge, die allein umherirrenden Kinder und vieles mehr erschweren die Impfkampagne. 

Jedes Kind soll zwei Tropfen der Schluckimpfung erhalten. Es sind zwei Tropfen auf einen heissen Stein inmitten von Tränen, Blut, Kloake. Hepatitis, Durchfallerreger, Kakerlaken, Krätzemilben und anderes mehr zirkulieren weiter. Auch das wäre zu verhindern gewesen.

Polio in Gaza kann auch israelische Kinder gefährden

Der Polio-Ausbruch in Gaza könnte auf israelische Kinder übergreifen, gibt die Medizinprofessorin Annie Sparrow in einem Artikel bei «Foreign Policy» zu Bedenken. Auch Sparrow vermutet, dass die kürzlich entdeckten Impf-Polio-Viren wohl schon Monate unbemerkt in Gaza zirkulieren. 

In Israel seien mindestens 175’000 Kinder nicht oder unvollständig geimpft, schreibt Sparrow. Es sind vor allem Kinder von ultra-orthodoxen Juden, welche Impfungen ablehnen. 

Die israelische Regierung habe nun einen «Anreiz», um Feuerpausen in Gaza zuzustimmen, so die Medizinprofessorin. Denn Israels Premierminister Netanyahu sei auf die ultra-orthodoxen Juden angewiesen und der einzige Weg, um sie zu schützen, sei, Polio in Gaza unter Kontrolle zu bringen. Die Impfkampagne in Gaza dient also auch dem Schutz ungeimpfter israelischer Kinder.


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Nestlé desinfiziert «natürliches» Wasser seit den 1990er-Jahren

Daniela Gschweng /  Der Skandal um mit illegalen Methoden behandeltes Nestlé-Mineralwasser weitet sich nochmals aus.

Natürliches Mineralwasser kommt klar und kühl aus den Tiefen der Erde und muss kaum behandelt werden, denn es ist von «ursprünglicher Reinheit». So steht es im Gesetz. Erlaubt sind nur wenige Methoden.

UV-Licht und Aktivkohlefilter gehören nicht dazu. Genau diese hat Nestlé aber verwendet. Das zeigten Recherchen der französischen Zeitung «Le Monde» im Januar. Betroffen waren die Marken Perrier, Vittel, Hépar und Contrex.

Nestlé redete sich mit «Sorge um Konsumenten» heraus

Die Qualität von Mineralwässern wäre eben nicht immer gleich, rechtfertigte sich der Konzern. Aus Sorge um die Gesundheit der Konsument:innen werde das Wasser behandelt.  

Als Nächstes kam durch Recherchen von «Le Temps» zu Tage, dass Nestlé auch beim Minieralwasser Henniez in der Schweiz Aktivkohlefilter verwendet hatte. Inzwischen habe man die verbotene Praxis aber wieder eingestellt, teilte das Unternehmen mit (Infosperber berichtete).

Foodwatch: «Jahrzehntelanger, systematischer Betrug»

Nun stellt sich heraus, dass der Verstoss kein isoliertes Vorkommnis war. Die Europäische Kommission bestätigte am 24. Juli, dass Nestlé seit den 1990er-Jahren französisches «Mineralwasser» mit verbotenen Methoden filtert.

Der Betrug sei «beispiellos», schreibt das französische Medium «Mediapart». Es gehe um drei Milliarden Euro und einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren.

Nestlé habe seit den 1990er-Jahren mit verbotenen Methoden gereinigtes Wasser als «natürliches Mineralwasser» verkauft, fasst die Konsumentenorganisation Foodwatch auf Deutsch zusammen. Falls sich das wirklich so zugetragen habe, handle es sich um «jahrzehntelangen, systematischen Betrug», sagt Ingrid Kragl von Foodwatch Frankreich.

Die beiden verbotenen Methoden

UV-Licht wird verwendet, um Viren und Bakterien in Wasser, Luft und auf Oberflächen abzutöten. UV-Strahlung wird deshalb zur Wasserdesinfektion oder auch in Spitälern eingesetzt. So werden etwa Operationssäle mit ultravioletter Strahlung desinfiziert. Für Menschen ist die verwendete UV-C-Strahlung schädlich. Sie kann die Haut beschädigen und zu Bindehautentzündungen am Auge oder bei längerer Bestrahlung sogar zu Erblindung führen.

Aktivkohlefilter wiederum können unerwünschte Chemikalien wie PFAS und Pestizide aus dem Wasser filtern. Für Wasser von «ursprünglicher Reinheit» sollte beides nicht nötig sein. Sonst könnte man auch Leitungswasser als «Mineralwasser» verkaufen.

Prüfbericht: Kontrollstrukturen mangelhaft

Der Bericht rügte aber auch die französischen Behörden. Das existierende amtliche Kontrollsystem sei nicht «darauf ausgelegt, Betrug in der Branche der natürlichen Mineralwässer und Quellwässer aufzudecken». So könnten «nicht konforme und potenziell betrügerische Produkte auf den Markt gelangen».

Werde ein Verstoss festgestellt, hapere es zudem bei den Folgemassnahmen, die sicherstellen sollten, dass Unternehmen die verbotene Praxis nicht fortführen, keine daraus entstandenen Produkte auf den Markt bringen und nicht konforme Produkte vom Markt nehmen.

Die Reinheit von Mineralwasser wird also nicht richtig kontrolliert, und wenn dennoch ein Verstoss entdeckt wird, hat er kaum Folgen. Dazu passt, dass die französische Regierung bereits 2021 von Nestlé informiert worden sein soll. Diese Information sei laut Foodwatch aber weder an die Europäische Kommission noch an andere EU-Mitgliedsstaaten weitergegeben worden.

Ein Skandal wie in Frankreich könne sich aber ganz leicht auch in Deutschland ereignen, schätzt Foodwatch, das Nestlé Waters und Sources Alma im Februar verklagt hat. Auch dort fehle es an Personal, die Struktur der Behörden sei äusserst anfällig für Interessenkonflikte, die Kommunikation träge. Es gebe auch kein Transparenzgebot, kritisiert Foodwatch.

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Syrien: Assad legt keinen Wert auf Rückkehr von Flüchtlingen

Gudrun Harrer /  Der Krieg in Syrien gilt als «eingefroren». Doch Gewalt und Not sind allgegenwärtig. Wer nur irgendwie kann, verlässt das Land.

Nach dem tödlichen Messerattentat in Solingen, verübt von einem Syrer und reklamiert vom «Islamischen Staat», ist die Frage akut geworden, ob man unerwünschte Asylwerber ins Kriegsland Syrien abschieben kann. Die Debatte, die durch den Aufstieg der Rechtsradikalen in Europa umso dringlicher wird, schliesst an eine andere an, die im Juli nicht zuletzt vom österreichischen Aussenministerium angestossen wurde: Ist es nicht Zeit, die Beziehungen zum Regime von Bashar al-Assad, das 13 Jahre nach Beginn des Aufstands fest im Sattel sitzt, zu verbessern?

Dazu gibt es in der EU einen Vorstoss von Griechenland, Kroatien, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Zypern und eben Österreich. Die Eröffnung eines Dialogs mit Damaskus wäre Voraussetzung für mögliche Abschiebungen, denn dafür braucht man Kooperationsbereitschaft auf der anderen Seite. Aber es gibt noch einen Aspekt: Die wirtschaftliche und soziale Lage in Syrien ist so schlecht, dass nur Wiederaufbau und Stabilisierung des schwer zerstörten Landes verhindern können, dass in Zukunft noch mehr Menschen flüchten. Wer nur irgendwie kann, verlässt Syrien.

Assad hält sich heraus

Eher unerwartet ist dabei, dass die derzeitige grosse Nahostkrise Assad aussenpolitisch eher hilft. Das Assad-Regime ist alter Partner der Islamischen Republik Iran und eigentlich ein fixer Bestandteil der iranischen «Achse des Widerstands». Wegen der iranischen und der Hisbollah-Präsenz wird Syrien häufig von Israel aus der Luft angegriffen. Aber momentan verfolgt Assad eine klare Disengagement-Strategie, eine Abkoppelung. Er tut auch so, als ob ihn der Golan nichts anginge, der einer der Schauplätze der Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel ist.

Assad will nicht in einen Krieg zwischen Israel und der «Achse» hineingezogen werden – und auch sein Protektor Russland will das nicht. Ihm würde die EU mit Normalisierungsschritten einen Erfolg gönnen. Das gehört zur Abwägung der Interessen dazu.

Für Assads Zurückhaltung gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass die arabischen Golfstaaten die Beziehungen zu Assad normalisieren – das führen auch normalisierungswillige Europäer ins Treffen. Das will er nicht riskieren, indem er sich einmal mehr Teheran verschreibt. Dazu kommt das schlechte Verhältnis Assads zur Hamas, die er früher sogar in Damaskus beherbergte, die sich jedoch beim Aufstand 2011 gegen ihn wandte. Und so mies es den Menschen in Syrien geht: Im Vergleich mit dem Libanon und seiner Hisbollah steht jetzt Syrien beinahe als stabile Alternative da.

Verfolgung zu erwarten

Gleichzeitig versichern humanitäre und Menschenrechts-Organisationen, die etwas mit Syrien zu tun haben, dass dies kein Land ist, in das man Flüchtlinge zurückschicken kann. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR wird Syrien nicht für «sicher» erklären. Und Assad will bestimmt niemanden zurücknehmen, schon gar nicht Regimegegner. Sie hätten weiter Verfolgung zu erwarten.

Schon 2012 hat das Regime damit begonnen, sich das Vermögen der Flüchtlinge einzuverleiben: per Dekret und durch ein Antiterrorismusgesetz, dessen man sich gegen alle Oppositionellen bedienen kann. 2023 folgte ein Gesetz, das es dem Staat erlaubt, eingezogene Vermögen, auch Immobilien, zu managen; der Profit fliesst in die eigenen Kassen. Was den Flüchtlingen gehört hat, wird auf Regimegünstlinge umverteilt. Die engere Familie Assad hat Besitz von der syrischen Wirtschaft ergriffen. Dazu hat es durchaus auch interne Clankämpfe gegeben.

Währenddessen ist die Not vieler Menschen überwältigend. Die Hilfsorganisationen sind in Syrien stark unterfinanziert. Wieder geht eine Generation von Kindern verloren: Laut Schätzungen besucht nur die Hälfte von ihnen Schulen. Lehrer müssen sich teilweise selbst das Benzin finanzieren, um in die Schulen zu fahren – nicht alle können das.

Gewalt im ganzen Land

Aber gibt es in Syrien noch einen Krieg? Oft wird er als «eingefroren» bezeichnet. Lageberichte zeichnen ein Bild der ständigen Gewalt an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Akteuren. Aber es gibt praktisch keinen Tag ohne Todesopfer.

Karte
Wer kontrolliert welche Gebiete in Syrien? Übersichtskarte Stand März 2023

Da sind die sogenannten Unruhegebiete, wie Daraa im Süden, wo Regime- oder regimefreundliche Kräfte gegen Rebellen vorgehen und umgekehrt. Nicht jede Gewalt hat politische Ursachen, es spielt auch Drogenkriminalität, der Schmuggel mit der Aufputschdroge Captagon nach Jordanien, hinein. Auch jordanische Sicherheitskräfte greifen an der Grenze ein.

Im Nordosten gibt es vermehrt Auseinandersetzungen zwischen den von den USA gestützten SDF (Syrian Democratic Forces) und dem Regime oder auch «regimefreundlichen tribalen Kräften», also arabischen Stämmen, die gegen die kurdische Dominanz sind. Dazu kommen türkische Angriffe auf die PKK-nahen kurdischen Milizen, die stärkste Gruppe in den SDF. Im Nordwesten mischen von der Türkei gehaltene syrische Milizen mit. Eine «Unruheprovinz» ist auch das Drusengebiet in Suwayda. Drusische Milizen wehren sich gegen Islamisten, aber vermehrt auch gegen das Regime.

Die Aktivitäten des «Islamischen Staats», vor allem im Gebiet um Palmyra in Zentralsyrien, sind im Steigen begriffen. Erst am 25. August etwa wurden elf syrische Soldaten einer Patrouille tot aufgefunden, manche davon geköpft. Umgekehrt macht das Regime Jagd auf den IS und verschont dabei auch unbeteiligte Zivilisten nicht.

Das Gebiet von Idlib dominiert unter türkischer Ägide die Terrororganisation HTS. Idlib – auch die Bevölkerung, die nichts mit dem HTS zu tun hat – leidet unter Luftangriffen des Regimes und Russlands. Die HTS kämpft jedoch auch gegen den IS, sie selbst hat ihre Wurzeln in Al-Kaida. Nicht alle, die gegen Assad kämpfen, gehören zu den Guten. Das macht ihn aber nicht besser.

Dieser Artikel ist zuerst im «Standard» erschienen.


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Keine. Gudrun Harrer ist leitende Redakteurin des österreichischen «Standard» und unterrichtet Moderne Geschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Wien.
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«Wenn es so weitergeht, werde ich noch Unterschriften-Sammler!»

Herrmann /  Die Genfer Bio-Winzer leiden unter dem schlechten Wetter.


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Der Bundesrat – Neinsager vom Dienst

Marco Diener /  Sagt der Bundesrat zu einer Volksinitiative auch mal Ja? Nein!

Eigentlich ist es egal, ob SRG-Initiative, Kita-Initiative oder Umweltverantwortungs-Initiative: Wenn der Bundesrat eine Volksinitiative berät, dann sagt er am Schluss Nein.

Infosperber hat sämtliche Botschaften zu Volksinitiativen, die der Bundesrat in den letzten zehn Jahren zuhanden des Parlaments verabschiedet hat, angesehen. Es sind beinahe 50. Ohne Ausnahme hat sie der Bundesrat abgelehnt. Ganz so, als ob jede Volksinitiative unvernünftig wäre. Sogar die Formulierung ist immer gleich:

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Immer das Gleiche: Der Bundesrat empfiehlt, «die Initiative abzulehnen».

Nur manchmal, wenn der Bundesrat fürchtet, die Initiative könnte vom Volk angenommen werden, dann lehnt er die Volksinitiative zwar ab, unterbreitet dem Parlament aber einen Gegenvorschlag, über den dann das Volk abstimmen soll.

Aber eben: Normalerweise ist sich der Bundesrat seiner Sache so sicher, dass er die Volksinitiative ablehnt, ohne einen Gegenvorschlag zu erarbeiten. Erstaunlich ist allerdings, mit welchem Aufwand er sein Nein jeweils begründet. Bei der Kita-Initiative verfasste er – oder besser gesagt: verfassten die Angestellten der Bundeskanzlei und des Bundesamts für Sozialversicherungen – eine Begründung, die 130’000 Zeichen lang ist.

Bei der Steuergerechtigkeits-Initiative, zu welcher der Bundesrat einen Gegenvorschlag erarbeitet hat, sind es sogar 260’000 Zeichen. Umgerechnet auf Normseiten sind das 144 Seiten.

Übrigens: Letztmals hat der Bundesrat 2013 eine Initiative befürwortet – diejenige zur Abschaffung der «Heiratsstrafe». Allerdings pfiff ihn das Parlament sogleich zurück. Schliesslich empfahlen sowohl Bundesrat als auch Parlament dem Volk die Initiative zur Ablehnung. Genau gleich lief es 2007 beim «Verbandsbeschwerderecht».

Wer wissen will, wann Bundesrat und Parlament dem Volk letztmals Initiativen zur Annahme empfohlen haben, muss weit zurückblättern: Es waren 2002 die Initiative zum «Uno-Beitritt» und 1992 die Initiative für einen «Arbeitsfreien Bundesfeiertag».

Erst 26 Initiativen angenommen

Das Schweizer Volk hat seit 1893 über insgesamt 233 Volksinitiativen abgestimmt. Davon hat es bloss deren 26 angenommen. Das sind gerade mal 11,6 Prozent.

Auffallend: Mehr als die Hälfte dieser Volksinitiativen hat das Volk allein in diesem Jahrtausend angenommen (deren 14). Das hat aber nichts damit zu tun, dass das Volk seither besonders aufmüpfig geworden wäre, sondern damit, dass seit der Jahrtausendwende besonders viele Initiativen vors Volk gekommen sind (deren 106).

Und noch ein Kuriosum: Von 1949 bis 1982 hat das Volk während gut 33 Jahren keine einzige Initiative angenommen.


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Impfstoffe: Zweifel am richtigen Einsatz

Steliana Huhulescu /  Armut und Ungleichheit zu bekämpfen wäre wichtiger als Kinder gegen alles Mögliche zu impfen, argumentiert eine Expertin.

Zehntausende Kinder in Gaza bezahlen mit ihrem Leben für die kriegerischen Ambitionen Erwachsener, die ihre elementaren Pflichten sträflich vernachlässigen. Mehrere Hunderttausend Menschen in Gaza leben unter unvorstellbaren Bedingungen, nur die wenigsten (1 bis 6 Prozent) sind ausreichend ernährt, und die kärglichen Wasserrationen entsprechen schon lange nicht mehr den Mindesthygieneanforderungen. Wen wundert es, dass unter diesen Umständen Seuchen wie Polio ausbrechen? Die «Verantwortlichen» fanden keine bessere Lösung als eine vorübergehende Feuerpause, um die Kinder gegen Polio zu impfen. Doch wie sinnvoll können solche Massnahmen sein? 

Der «Kampf» gegen Mikroorganismen begann zu einer Zeit, als man noch nicht einmal wusste, dass sie existieren. Der erste «totale Sieg» kam nach einem fast zweihundertjährigen Krieg (1796 bis 1979) mit dem Pockenvirus und blieb – vorerst – der einzige. Die Pocken haben den Ruf, die erste Krankheit zu sein, welche die Menschheit mit der unschätzbaren Hilfe von Impfungen ausgerottet hat. Die Tatsache, dass das Virus nicht zurückgekehrt ist, führt dazu, dass wir seine Ausrottung dokumentieren, obwohl es auch andere Erreger gibt, die nicht zurückkamen, wie etwa das gefürchtete H1N1-Grippevirus, das ebenfalls viele Opfer forderte und nach dem Massaker von 1918 spurlos und ohne Impfung verschwand. 

Zur Person

Steliana Huhulescu
Steliana Huhulescu

Die Autorin dieses Artikels, Steliana Huhulescu, ist Fachärztin für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin und war langjährige Abteilungsleiterin bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), Leiterin der Nationalen Österreichischen Referenzzentralen für Listeriose, Cholera, Diphtherie-Labor und Gonokokken, stellvertretende Leiterin der Nationalen Österreichischen Referenzzentrale für Clostridium difficile und langjährige Leiterin des binationalen Konsiliarlabors für Listerien Deutschland/Österreich. In dieser Zeit hat sie diverse Fachartikel mitverfasst. Seit Mai 2020 ist die gebürtige Rumänin in Rente, beschäftigt sich aber weiterhin mit medizinischen Themen.

Bis vor kurzem unterrichtete sie laut eigenem Bekunden «mit Leidenschaft» Hygiene, Mikrobiologie, Infektionskrankheiten, Immunologie und Impfstoffe. «Allerdings haben die in der Covid-19-Pandemie getroffenen Massnahmen und die neuen mRNA-Impfstoffe meine Begeisterung gedämpft und liessen mich fragen, ob alles, was ich mit grosser Überzeugung vorgetragen habe, der Wahrheit entspricht. Normalerweise empfahl ich Impfungen wärmstens – wenn auch nicht jedem allerlei Impfstoffe –, und ich war zuversichtlich, dass ich das Richtige tat», sagt sie rückblickend. Der Umgang mit diesem Thema in der Pandemie habe sie jedoch nachdenklich gemacht und zu weiteren Recherchen gebracht. Ihr Fazit: «Ich denke, es ist an der Zeit, zumindest eine Überarbeitung des Immunologie-Kapitels in medizinischen Lehrbüchern zu veranlassen.»

Das Ziel mehrmals verfehlt

Warum konnte die Wissenschaft trotz bemerkenswerten Fortschritten der Liste der Impf-Ausrottungen nichts mehr hinzufügen? Hohe Foren haben immer wieder gesagt, dass es nicht mehr lange dauere, und die Menschheit werde auf die Ausrottung einiger von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheiten stolz sein. Eine dieser Krankheiten ist Polio (Kinderlähmung), eine andere sind die Masern. 

Mehrmals verkündete die WHO, wir seien dem Ziel sehr nahe, doch es kam immer etwas dazwischen, das alles durchkreuzte: Mal irgendwo ein Konflikt, mal einige Bevölkerungsgruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen liessen. Die Frage des Impfstoffs an sich wurde jedoch nie angesprochen.

Wieso war ein derart durchschlagender Erfolg bei den Pocken möglich und warum konnten wir ihn nicht reproduzieren? Was, wenn dieser Sieg nur reiner Zufall, das Naturwerk oder das Ergebnis mehrerer Umstände wäre? Wie kann man einen Triumph wiederholen, ohne genau zu wissen, wie man dorthin gelangt ist? 

Verbesserte Lebensbedingungen trugen wichtigen Teil bei

Es heisst, dass die Pockenausrottung zwei Jahrhunderte erforderte (obwohl die WHO ihren Ausrottungsplan erst 1967 verstärkte). Parallel zum Pockenimpfstoff gab es auch andere, die sich gegen die grossen Seuchen der Menschheit richteten – Cholera, Pest, Anthrax, Typhus, Keuchhusten, Tetanus, Diphtherie oder Tuberkulose –, deren Ergebnisse jedoch nicht immer den Erwartungen entsprachen. Mit Ausnahme von Diphtherie und Tetanus hält das (partielle) Versagen anderer Impfstoffe bis heute an. 

Glücklicherweise wurden inzwischen die Antibiotika entdeckt, was den vorübergehenden Verzicht auf antibakterielle Impfungen ermöglichte. Gegen die Viren hingegen wurden die Impfkampagnen weitergeführt, aber mit welchen Ergebnissen? Es gibt Berichte über spektakuläre Rettungen von Millionen von Leben, aber … inwieweit haben die Impfstoffe dazu beigetragen und in welchem ​​Ausmass andere Faktoren, die parallel verliefen (etwa die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Hygiene, was eine Stärkung der Immunität und eine Verbesserung der Volksgesundheit bedeutete)? Es ist zwar schwierig, eine Korrelation in eine Kausalität umzuwandeln, aber dies gilt auch für Impfstoffe.

Impfungen setzten zeitgleich mit dem «Wirtschaftswunder» ein

Mit Ausnahme der Diphtherie wurden die Impfungen erst nach dem Zweiten Weltkrieg in grossem Umfang eingesetzt, praktisch parallel zum «Wirtschaftswunder». Es wird gesagt, dass die Masern keine harmlose Kinderkrankheit sind, da es zu einer vorübergehenden Immunschwäche kommt, was schwere Komplikationen nach sich zieht. Die Aussage stimmt nur zur Hälfte, da diese Risiken eher für «Drittweltländer» gelten, in denen die Letalität 3 bis 5 Prozent beträgt. In der «anderen» Welt sprechen wir von 1 bis 3 Todesfällen pro 10’000 Erkrankungen. Impfbefürworter präsentieren beeindruckende Grafiken über spektakuläre Senkung der Sterblichkeit (um 99 Prozent), aber … das ist die Schlussfolgerung, wenn man mit der Lupe und nur einen schmalen Ausschnitt betrachtet. 

Aus der Ferne und über den gesamten Zeitraum (1900 bis 1963) erkundet, fällt etwas anderes auf: Als der Masernimpfstoff auf den Markt kam (in den 60er/70er Jahren), lag die Letalität ohnehin nahe bei Null. Auch ohne den Impfstoff war die Sterblichkeitsrate um 98,5 Prozent gesunken! Die den Impfstoffen zugeschriebene 99-prozentige Reduktion (einige behaupten sogar, dass der Impfstoff den Abwärtstrend der Sterblichkeitskurve künstlich verlängert hätte) bezieht sich also auf die verbleibenden 2 Prozent. (Ausserdem erlangen mindestens 10 Prozent der Geimpften keine Immunität und erkranken dennoch, was bedeutet, dass der Impfstoff kein Allheilmittel ist.) 

Masernimpfung schützt in Afrika schlechter als im Westen

Diese Situation ist in den meisten Industrieländern und bei vielen Erkrankungen anzutreffen. In Afrika ist der Rückgang (sofern vorhanden) viel bescheidener und beträgt nur 30 Prozent. Womöglich gibt es verschiedene Ursachen für die schlechtere Wirksamkeit: die Nichteinhaltung der Kühlkette für die Impfstoffe, das niedrigere Impfalter oder die höhere Exposition den Erregern gegenüber, was einer erhöhten Dosis gleichkommt. Hinzu kommt, dass ein schwaches Immunsystem einen Selektionsdruck auf den Erreger ausübt und ihn so zu Flucht-Mutationen «zwingt».

Das von Experten vorgeschlagene Impfpaket deckt seltene und sehr seltene Erkrankungen in Industrieländern ab, mit Häufigkeiten zwischen 1:100’000 und 1:10’000’000 und einer Sterblichkeit von unter 2 pro Million. So werden mehrere Millionen Impfungen mehrere Jahre hintereinander benötigt, um einen Tod zu verhindern. (Vorausgesetzt, es sind die Impfstoffe, die es tun!) 

USA impfen am meisten – und haben die höchste Kindersterblichkeitsrate

Für andere Kinderkrankheiten wie etwa EHEC [eine bestimmte Art von Coli-Bakterien – Anm. d. Red.], Hirnhautentzündung oder Tuberkulose, die vor allem bei Kindern mit einem schwereren Verlauf und einer höheren Letalität einhergehen, gibt es keine (wirksamen) Impfungen. Diese Krankheiten scheinen keinen Wettbewerb zwischen Impfherstellern zu entfachen, wie es bei Covid-19 der Fall war. Warum wohl? 

Apropos Todesfälle bei Kindern: Laut Statistik in der EU, im Herzen der Zivilisation, sterben die Kinder ab einem Jahr am häufigsten bei Verkehrsunfällen, durch Ertrinken oder Verbrennen. In den USA sind es die Schusswaffen, und anderswo sind es Infektionskrankheiten, Drogen, Kriege und Hunger. 

In Ländern, die intensiv impfen, ist die Kindersterblichkeitsrate gemäss einer Studie in der Fachzeitschrift «Human & Experimental Toxicology» höher als in Ländern mit niedrigeren Impfraten. Ein solches Beispiel liefern die USA, das Land mit der höchsten Impfrate weltweit: 26 Dosen vor dem ersten Geburtstag! Man sollte meinen, die Kindersterblichkeitsrate – ein hervorragendes Mass für das sozioökonomische Gesundheitswohl – sei deutlich niedriger. Tatsächlich belegen die USA aber den letzten Platz unter den 34 in die Studie einbezogenen Ländern (mit Impfraten von 90 bis 99 Prozent).

Impfdosen vs. Säuglingssterblichkeit
Die Anzahl der für Babys empfohlenen Impfdosen in einem Land (waagrechte Skala unten) und die Säuglingssterblichkeit (Todesfälle / 1000, senkrechte Skala links) korrelieren: Je mehr Impfdosen, desto höher die Säuglingssterblichkeit. Ein ursächlicher Zusammenhang ist damit nicht bewiesen.

Der Preis der Pockenimpfung

Darüber hinaus wurde eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der Anzahl der Impfdosen und der Rate plötzlicher ungeklärter Todesfälle bei Säuglingen (SIDS) festgestellt. Man kann kaum an Zufälle glauben, wenn 58 Prozent der plötzlichen Todesfälle innerhalb der ersten drei Tage und 78 Prozent innerhalb einer Woche nach der Impfung auftreten. Die Studie mit dieser makabren Entdeckung stammt aus dem Jahr 2011 und wurde heftig kritisiert. Die Autoren replizierten sie 2019 mit aktualisierten Daten aus 46 vergleichbaren Staaten und die zitierte Korrelation … blieb bestehen. Die Experten stellten zwei Hypothesen für dieses Paradoxon auf: Einerseits die biochemische Toxizität (Zusatz- und Konservierungsstoffe, Adjuvantien, Stabilisatoren, Antibiotika, Inaktivatoren usw.) und andererseits die synergistische Toxizität (durch gleichzeitige oder unmittelbar aufeinanderfolgende Impfungen) oder die additive Toxizität (durch Überimpfung). 

Wer diese Ergebnisse anzweifelt, kann einen weiteren Blick riskieren und wird das gleiche Phänomen beim berühmtesten aller Impfstoffe bemerken: dem Pockenimpfstoff. Die Zahl der durch den Impfstoff verursachten Todesfälle liegt nicht weit unter der Zahl der durch das Virus verursachten. Zwar hat die Impfung viele vor der Erblindung gerettet, brachte aber eine neue Pathologie mit: schwere Komplikationen wie Impf-Hirnhautentzündung, Impf-Hirnentzündung oder Impf-Myokarditis (Herzmuskelentzündung). Ein ziemlich hoher Preis!

Die richtige Wahl der Eintrittspforte

Um zu verstehen, warum die Eliminierung anderer Krankheiten nicht funktioniert, sollten wir vielleicht zunächst verstehen, wie es bei den Pocken «funktioniert» hat. War es die Massenimpfung? Ging die Seuche sowieso ihrem Ende entgegen? Wurde das Virus selbst – ein Dinosaurier unter den Viren, etwa so gross wie ein Bakterium – «faul» und war nicht mehr in der Lage, so häufig zu mutieren? Oder war es die Tatsache, dass die Menschen lernten, die Hygieneregeln einzuhalten und sich dadurch ihre Lebensbedingungen und das Wohlbefinden verbesserten? 

Vielleicht ignorieren wir einige Grundregeln. Womöglich ist es nicht egal, welche Art von Impfstoffen wir auf welchem ​​Weg in den Körper einschleusen. Manchmal sind es lebende (abgeschwächte), manchmal tote (inaktivierte), und manchmal nur Fragmente der jeweiligen Erreger oder ihre inaktivierten Giftstoffe. Würden wir sie lebend einführen – zum Beispiel die Polio-Schluckimpfung–, wäre die Wirkung zwar besser, aber wir würden riskieren, dass es zu Poliofällen kommt. Die Kinderlähmung ist eine Schmierinfektion, und unter prekären Hygienebedingungen könnte sich das Impfvirus leicht verbreiten. 

Die beste Immunabwehr entsteht durch das Durchstehen der Krankheit. Wenn wir trotzdem impfen müssen, wäre es ideal, die Erkrankung selbst nachzuahmen. Das heisst: Wenn die Krankheit über den Verdauungstrakt übertragen wird, ist der Weg über den Mund sinnvoller als die Spritze. Wenn der Erreger die Atemwege «bevorzugt», können wir nur schwer durch die Injektion eine Immunität hervorrufen. Der Tuberkulosebazillus hat es uns in vollem Umfang gezeigt. Gegen Tuberkulose-Lungenerkrankungen bietet die Tuberkulose-Impfung (BCG-Impfung genannt) keinen Schutz, allenfalls gegen ihre Komplikationen wie Blutvergiftung oder Meningitis. Das Impfen ohne Rücksicht auf die Eintrittspforte gleicht dem bis an die Zähne bewaffneten Warten auf einen Einbrecher, aber stets am Hintereingang, während er ausnahmslos durch die Vordertür oder durchs Fenster eindringt und nicht die Absicht hat, je anders vorzugehen.

Mehr Hygiene und bessere Lebensbedingungen sind effektiver

Impfstoffe sind nutzlos, wenn die Erkrankungen mild und selten sind. Wenn es drei Erkrankungsfälle pro Hunderttausend und einen Todesfall alle vier Jahre gibt, ist es einfach, die «Wirkung» zu beweisen! In armen Ländern ist die Wirkung nicht so spektakulär, weil ein Impfstoff das Immunsystem nicht in dem Mass stärkt wie ein menschenwürdiges Leben, der Zugang zu Trinkwasser und hochwertiger Nahrung. Die Cholera kann nicht durch Impfungen bekämpft werden, solange Menschen mit Fäkalien verunreinigtes Wasser aus Flüssen und Seen trinken müssen. Eine Impfung ohne diese Verbesserungen ist so, als würde man ein abgemagertes, hungerndes Tier auspeitschen und von ihm verlangen, aussergewöhnlich gute Leistungen zu erbringen. 

Anstatt wahllos gegen alles zu impfen, was wir unter dem Mikroskop sehen, sollten wir uns besser auf die Prävention wirklich gefährlicher Krankheiten konzentrieren, die Millionen von Menschenleben fordern, wie Malaria oder Tuberkulose. Man kann nicht auf einem Müllberg sitzen oder bis zum Hals in der Kanalisation stecken und sich alles Neue injizieren, was die Pharmaindustrie produziert. Das Saubermachen wäre viel effektiver.

Kinder vor den häufigeren Gefahren schützen

Deshalb gilt auch hier: Weniger ist mehr! Weniger und besser sortierte Impfstoffe und mehr Prävention durch Hygiene, Aufklärung und einen gesunden Lebensstil. Der Rest ist die Aufgabe des Immunsystems. Es hat keinen Sinn, uns gegen sehr seltene Krankheiten mit minimaler Sterblichkeit zu «immunisieren», aber es ergibt Sinn, die Kinder besser zu beaufsichtigen und sie vor echten Gefahren zu schützen. Nachlässigkeit und Unwissenheit der Erwachsenen einerseits und Armut und Ungleichheit andererseits gehören zu den Hauptursachen für schwere Erkrankungen oder Todesfälle, und diese müssen wir bekämpfen. Leider (oder zum Glück?!) gibt es keine Impfstoffe dagegen! 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Weiterführende Informationen

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Menzingen: Mehr Polizei bei Asylheimen gefordert

Einsatzkräfte der Zuger Polizei oder der Securitas sollen in Menzingen für Ruhe sorgen. (Bild: Zuger Polizei)

Die FDP-Fraktion von Menzingen will mehr Sicherheit bei Asylunterkünften – und hat konkrete Forderungen an den Regierungsrat.

Der Kanton Zug will in Menzingen eine temporäre Asylunterkunft einrichten – schon wieder. Die Regierung hat vor Kurzem mitgeteilt, dass er im ehemaligen Pflegeheim Maria vom Berg der Schwestern vom Heiligen Kreuz 100 neue Unterkunftsplätze für Asylsuchende plane. In der Bevölkerung weckt dieses Vorhaben gemischte Gefühle (zentraplus berichtete).

Wie sich zeigt, gibt das Thema auch bei der FDP-Fraktion zu reden. Vor allem hinsichtlich der Sicherheit. FDP-Kantonsrat Tom Magnusson hat names der Fraktion ein Postulat eingereicht, in der er vom Regierungsrat in der Anfangsphase von neu eröffneten Asylunterkünften mehr Sicherheitskräfte verlangt, damit sich die Bewohner sicherer fühlen.

Wirkung dank Uniform

Denn gerade in der Startphase sei das aufnehmende Quartier sensibel, schreibt Magnusson. Weil «die Menschen, welche in der Asylunterkunft platziert werden, noch nicht alle Wege, lokalen Regeln und Besonderheiten» kennen. Es sei daher angezeigt, mit einer «deutlichen Präsenz von Sicherheitspersonal allen Beteiligten aufzuzeigen, dass ein geordnetes Zusammenleben» eingefordert werde. Das Sicherheitspersonal soll uniformiert und ausgerüstet sein, um dieser «Show of Force» Nachdruck zu verleihen.

Einzusetzen sei dieses zusätzliche Sicherheitspersonal vor allem bei «neuen oder stark vergrösserte Asylunterkünften» und während der Anfangsphase der ersten 12 bis 18 Monate. Diese Sicherheitskräfte – gemeint seien dabei «keine Gelbwesten», sondern Personen in Uniform wie etwa Einsatzkräfte der Zuger Polizei oder von einer privaten Sicherheitsfirma wie der Securitas – sollen im Umfeld der Unterkunft stationiert sein. Die entstehenden Kosten soll der Kanton vollumfänglich übernehmen. Erst nach Ablauf dieser Anfangsphase solle sich die Gemeinde anteilsmässig daran beteiligen.

Weitere Massnahmen sind gefordert

Die FDP fordert im Postulat ausserdem, dass der Regierungsrat weitere Massnahmen prüft, um die Sicherheit rund um Asylunterkünfte zu erhöhen. Neben dem Einsatz von zusätzlichem Sicherheitspersonal werden weitere Vorschläge gemacht, wie etwa die Verlegung von Personen in andere Unterkünfte, die Streichung finanzieller Unterstützung oder die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit.

Sollte es für einzelne Massnahmen gesetzliche Anpassungen benötigen, soll der Regierungsrat eine entsprechende Vorlage im Kantonsrat einbringen. Zudem wird betont, dass der Austausch zwischen den beteiligten Stellen wie der Sicherheitsdirektion, der Zuger Polizei und privaten Organisationen gestärkt werden soll, um Verstösse schnell zu identifizieren und entsprechende Massnahmen zu ergreifen.

Verwendete Quellen

  • Postulat 2024-9 der FDP-Fraktion

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Eine Klimakonferenz im Zwangsfrieden

Amalia van Gent /  Aserbaidschans Herrscher inszeniert sich vor der COP-29 als Friedensstifter. Doch er hält den Konflikt mit Armenien am Köcheln.

Die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen (COP-29) in diesem Jahr findet kommenden November in Aserbaidschan statt –paradoxerweise wie die COP 28 in Dubai also in einem Land, dessen Haupteinnahmenquelle die Förderung fossiler Energie ist.

Aserbaidschans Elite sieht darin keinen Widerspruch, sondern nur Grund für Begeisterung, für die kein Superlativ zu viel und kein Lob zu überschwänglich zu sein scheint: Aserbaidschan habe in den letzten Jahren den Internationalen Astronautenkongress, die ersten Olympischen Spiele in Europa, mehrere internationale Sportwettbewerbe und den Eurovision Song Contest beheimatet, kommentiert etwa Ayaz Museyibov vom regierungsnahen «Zentrum für Wirtschaftsreformen und Kommunikation». Damit habe das Land unter Beweis gestellt, dass es sich als Veranstaltungsort von Weltrang eigne.

«In Bezug auf Umfang und Bedeutung stellt die nächste COP-29-Klimakonferenz jedoch alle früheren Zusammenkünfte in den Schatten». Denn in Baku würden die Weichen gegen den globalen Klimawandel gestellt werden, so Ayaz Museyibov.

Politische Würdigung

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew misst der Dringlichkeit des Klimawandels weniger Bedeutung bei. Er strebt auch nicht eine Reduktion der fossilen Energie an. Ganz im Gegenteil: Er lässt mehr Erdgas aus dem Kaspischen Meer vor Bakus Ufern fördern oder aus Zentralasien und Russland weiterverkaufen. Denn es ist sein erklärtes Ziel, in absehbarer Zeit Aserbaidschan zu einer Energie-Drehscheibe zwischen Zentralasien und Europa zu verwandeln.

Von der COP-29 erhofft sich Alijew in erster Linie Gewinne politischer Natur. Seit Beginn der 1990er Jahre wird Aserbaidschan eisern von seiner Familie regiert. Wahlen sind wie in jeder Autokratie voraussehbar: Vergangenen Februar wurde Ilham Alijew etwa mit über 92 Prozent der Stimmen für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt. Justiz, Parteien und Presse unterstehen seiner strikten Kontrolle; Opposition sowie die Zivilgesellschaft werden unterdrückt. Der Europarat prangert das Regime in Baku der ungezügelten Korruption an. Laut Forschern der Menschenrechtsorganisation Freedom House übertrifft Aserbaidschan jetzt Weissrussland als Europas repressivster Staat.

Dass die COP-29 dennoch in Baku stattfindet, dürfte Ilham Alijew als persönlichen Triumph empfinden. Nächsten November wird er als Gastgeber nämlich führende Politiker aus aller Welt auf Augenhöhe begrüssen und sein Land nicht als Paria, sondern als respektables Mitglied der Weltgemeinschaft präsentieren können.

COP-29 gegen Kriegsgefangene

Ausgerechnet Armenien ermöglichte die COP-29 in Baku: Am 7. Dezember 2023 willigte die armenische Regierung ein, ihr Veto gegen Aserbaidschan als Gastgeber der UN-Klimakonferenz fallen zu lassen. Als Gegenleistung wurden 32 armenische Soldaten, die seit 2020 in Aserbaidschan gefangen gehalten wurden, freigelassen. Den Deal bezeichnete Ilham Alijew umgehend als «Geste seines guten Willens» und nannte die bevorstehende COP-29 eine «COP des Friedens».

Der Deal offenbarte vor allem die Ohnmacht Armeniens: Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien, das am 9. November 2020 in Moskau unterzeichnet wurde, sah bereits die Freilassung aller Kriegsgefangenen vor. Auch die Genfer Konvention, die nach 1864 das Kriegsrecht regelt, gebietet die Freilassung aller Geiseln und Kriegsgefangenen nach dem Ende eines bewaffneten Konflikts.

Das Regime in Baku glaubt allerdings, wie andere Kriegsherren unserer Zeit auch, sich über jedes internationale Recht hinwegsetzen zu können. So kann heute wohl niemand genau sagen, wie viele armenische Kriegsgefangene in Aserbaidschans Gefängnissen noch in Haft sind. Laut Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) sollen 303 armenische Familien ihre Söhne, Töchter und Väter vermissen. Wie viele von ihnen noch wo leben, bleibt unklar.

Die politische Führung Bergkarabachs eingesperrt

Unumstritten ist, dass Armenien seit letztem Oktober um das Schicksal von 23 weiteren Gefangenen bangen muss. Darunter befinden sich acht hochrangige und demokratisch gewählte Politiker, wie die ehemaligen Präsidenten Arkadi Ghukasyan, Bako Sahakyan und Arayik Harutyunyan; der Sprecher des Nationalen Parlaments David Ishkhanyan, oder der ehemalige Aussenminister David Babayan.

Sie wurden aus dem Flüchtlingstreck aus Bergkarabach herausgeholt in dem Moment, als das offizielle Baku öffentlich deklarierte, alle Armenier gehen zu lassen, die gehen wollten. Seither sind sie in Baku eingesperrt und werden als «Terroristen» und als Mitglieder einer illegalen Miliz vor Gericht in Ketten vorgeführt. Als Ruben Vardanyan, ein armenisch-russischer Milliardär, aus Protest gegen ihre Haftbedingungen vor kurzem einen Hungerstreik begann, soll er laut seinem Sohn gefoltert worden sein.

In der strafrechtlichen Verfolgung der 23 möchte das Regime in Baku offensichtlich ein Exempel gegen etwaige Dissidenten setzen. Es möchte ferner an Jerewan und den entsprechenden internationalen Institutionen die Botschaft vermitteln, dass Aserbaidschan den Bergkarabach-Konflikt als reine innenpolitische Angelegenheit betrachtet, in der Dritte nicht geduldet würden.

Während des Kriegs 2023 sprach Baku auch nie von einem «Krieg», sondern lediglich von einer «Operation» gegen eine Sezessionsbewegung. Das Beispiel des russischen Präsidenten Putin in der Ukraine hat im Südkaukasus augenscheinlich treue Nachahmer gefunden.

Mehr Geld für die Rüstung – weniger Geld für die bewährte Aussenpolitik

Die enthemmte Gewalt auf den Schlachtfeldern der Ukraine und Gaza, beide inzwischen Kriege ohne Aussichten auf ein baldiges Ende, haben die Politiker in Europa überfordert und überfordern auch die Politiker in Bern. Die Forderung nach einem Armeeausbau gewinnt in Bern wie in Brüssel stark an Zugkraft. Dies setzt das Budget der Regierungen unter Druck. Der Bundesrat fordert etwa eine Erhöhung des Militärbudgets von 21,7 auf 25,8 Milliarden, der Ständerat gar auf 29,8 Milliarden – woher soll das Geld kommen?

Kürzungen bei der humanitären Hilfe (in Brüssel) und bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in Bern werden bereits geplant. Die bewährte globale Aussenpolitik der Schweiz zugunsten einer militärischen Sicherheitspolitik aufzugeben, käme einem Eigentor des Parlaments gleich, sagt Werner Thut, bis vergangenen Sommer stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer EZA-Programms im Südkaukasus, im Gespräch. Zahlreiche, konfliktpräventive Projekte müssten in Armenien, Georgien, Moldawien und im Balkan gestrichen werden – mit fatalen Konsequenzen für die EZA generell und absehbar für den Frieden.

Immer wieder neue Forderungen von Seiten Aserbaidschans

Der Südkaukasus ist auch nach zwei vernichtenden Kriegen von einem wirklichen Frieden weit entfernt. Aserbaidschan stellt als Siegerpartei dem Besiegten immer wieder neue Forderungen als Vorbedingung für ein Friedensabkommen in Bezug auf die Grenzziehung, auf den Wortlaut der armenischen Verfassung oder auf den sogenannten Sangezur-Korridor. Es handelt sich im Grunde um Zwangsfrieden – um einen «Frieden» also, wie ihn der Westen in der Ukraine mit jedem Mittel verhindern will.

Ilham Alijew möchte die bevorstehende COP 29 als ein «Gipfeltreffen des Friedens» verstanden wissen. Gibt es überhaupt Aussichten für eine friedlichere Zeit im Südkaukasus?

Bringt die 23 Geiseln zurück, fordern namhafte Persönlichkeiten aus Armenien. Wie ein Frieden im Konflikt des Nahen Ostens ohne eine Freilassung israelischer Geisel undenkbar ist, so sei jede Normalisierung der Beziehungen zwischen Jerewan und Baku «ohne die unverzügliche, bedingungslose Freilassung der 23 Geiseln aus Bergkarabach unvorstellbar», schreibt etwa Hrair Balian, der seit 35 Jahren in Führungspositionen bei den Vereinten Nationen und der OSZE zuständig für Konfliktlösungen im Nahen Osten, in Afrika, auf dem Balkan, in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien tätig war.

Ähnlich wie Balian appelliert die Mehrheit der armenischen Politiker, Intellektuellen und Wissenschaftler an die Weltgemeinschaft, eine Freilassung der 23 noch vor der COP-29 zu erwirken. Weil Bakus Elite so grossen Wert auf die problemlose Durchführung der COP-29 lege, könnte das UN-Gipfeltreffen eine Chance sein.  

Mit je einer Botschaft in den drei Ländern vertreten und seit mehr als 20 Jahren mit einem regionalen Kooperationsprogramm engagiert, ist die Schweiz im Südkaukasus sehr gut vernetzt und wird als glaubwürdiger Akteur ohne geopolitische Agenda wahrgenommen. Bern könnte daher mit einer proaktiven Politik und konkreten Vorschlägen versuchen, auch diesen gefährlichen Konflikt zu deeskalieren, statt sich ausschliesslich auf die Ukraine zu konzentrieren. Einen neuen Krieg im Südkaukasus zu verhindern, würde schliesslich im ureigenen Interesse der Weltgemeinschaft und auch der Schweiz sein. Denn nach der Sprengung der Nordstream-Pipelines läuft die Energieversorgung Europas und der Schweiz über den Südkaukasus.

Eine vorprogrammierte Tragödie

Armenien und Aserbaidschan haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei grosse Kriege um die Region Berg-Karabach gefochten. Im ersten Krieg Anfang der 1990er Jahre errangen die Armenier einen entscheidenden Sieg. Sie beriefen sich auf das Recht auf Selbstbestimmung, das das Völkerrecht garantiert. Noch wähnten sie sich im Recht: Armenier machten historisch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Bergkarabachs aus. Baku behandelte sie zudem stiefmütterlich. Anfang der 1990er Jahre gründeten sie in dieser isolierten Region des Südkaukasus ihre Republik «Artsakh» und hofften bis zuletzt, ähnlich wie Kosovo, auf eine Anerkennung. Artsakh wurde von keinem Staat anerkannt. Seine 120’000 Einwohnerinnen und Einwohner konnten sich aber demokratisch selbst verwalten.

Im Juli 2020 schlug Aserbaidschan zurück. Baku berief sich dabei auf sein Recht auf territoriale Souveränität, was wie das Recht auf Selbstbestimmung ebenso vom internationalen Völkerrecht garantiert wird. Bergkarabach war nämlich von Josef Stalin Aserbaidschan zugesprochen worden. Aserbaidschan setzte gegen seinen Gegner massiv israelische und türkische Killerdrohnen ein. Diese neue Kriegsführung veränderte die Machtverhältnisse fundamental: Armenien erlitt eine vernichtende Niederlage, während Aserbaidschan nach und nach einen Grossteil seiner in den 1990er Jahren verlorenen Territorien zurückerobern konnte. Vom ehemaligen Artsakh blieb ein minimales Territorium erhalten, auf dem die Zivilbevölkerung ab Anfang 2023 von aserbaidschanischen Truppen belagert und ungeachtet des Urteils des Internationalen Gerichtshofs oder der wiederholten Appelle von Regierungen und internationalen Menschenrechtsorganisationen monatelang ausgehungert wurde. Eine Blitzoperation der Aserbaidschaner im September 2023 gipfelte schliesslich in der Vertreibung faktisch der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihrem historischen Siedlungsgebiet.

Aserbaidschans Regime ist davon überzeugt, den Konflikt von Bergkarabach mit der Gewalt der Waffen ein für alle Mal gelöst zu haben. Da könnte es sich allerdings irren. Denn auf dem Parkett der internationalen Diplomatie wird bereits die Frage nach einer Rückkehr der Karabach-Armenier in ihre Heimat behandelt.


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