Viel häufiger operiert – Patienten fahrlässig gefährdet?

Urs P. Gasche /  Im Kanton Bern werden Rückenbeschwerden ungleich häufiger operiert als in anderen Regionen. Den Nutzen klärt niemand ab.

Orthopäden im Kanton Bern sind bei verschiedenen Rückenoperationen seit vielen Jahren Schweizer Meister. Bei Rückenbeschwerden operieren sie viel schneller und viel häufiger als ihre Kollegen und Kolleginnen in fast allen anderen Kantonen. Und das bereits seit vielen Jahren.

Das hat nicht etwa damit zu tun, dass sich viele Freiburger oder Solothurner im Kanton Bern operieren lassen. Denn das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) erfasst die Zahlen nach dem Wohnort der Patientinnen und Patienten.

Das hat auch nichts damit zu tun, dass die Bevölkerung im Kanton Bern etwa durchschnittlich älter wäre. Die Statistik ist nach Alter und Geschlecht standardisiert. Dadurch werden alters- und geschlechtsspezifische Effekte ausgeschaltet, so dass zeitliche und örtliche Vergleiche (z.B. zwischen ländlichen und städtischen Regionen) korrekt sind. 

Pro 100’000 Einwohner setzen Chirurgen im Kanton Bern stark überdurchschnittlich viele Bandscheibenprothesen ein, versteifen viel häufiger die Wirbelsäule und spritzen sogar fast zehnmal häufiger Zement in einen Wirbelkörper als die Chirurgen in den Kantonen Basel-Stadt, Luzern und Thurgau.

Es drängt sich die Frage auf: Sind die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Bern «überversorgt»? Das heisst: Werden sie häufig ohne Nutzen, aber mit Risiken operiert? Oder sind die Einwohnerinnen und Einwohner anderer Kantone «unterversorgt» – mit entsprechenden gesundheitlichen Nachteilen?

Diesen Fragen geht erstaunlicherweise niemand nach. Der Nutzen oder der Schaden derart vieler Operationen bleibt im Dunkeln. Pierre Alain Schnegg, Gesundheitsdirekter des Kantons Bern, räumt gegenüber Infosperber ein, dass seine Gesundheitsdirektion noch nie eine wissenschaftliche Untersuchung veranlasste, um herauszufinden, ob die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Bern besser versorgt sind als die Einwohnerinnen und Einwohner der restlichen Schweiz, oder ob sie vielmehr häufig ohne Nutzen operiert wurden.

Operationshäufigkeiten nach Kantonen pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner

Folgende Grafiken hat das Obsan auf seiner Webseite veröffentlicht. Sie belegen, dass die Orthopäden im Kanton Bern «rückenverrückt» sind.

Zementspritzen in einen Wirbelkörper (Vertebroplastie)

Vertebroplastie X
Orthopäden im Kanton Bern spritzen Einwohnern des Kantons Bern mehr als doppelt so häufig Zement in einen Wirbelkörper (Vertebroplastie) als Orthopäden den Einwohnern der restlichen Schweiz. Sogar dreimal so häufig wie den Zürcherinnen und Zürchern.

Bereits im Jahr 2013 wurden den Bernerinnen und Bernern mehr Versteifungen mit Zement gemacht als Einwohnern der meisten anderen Kantone (jeweils pro 100’000 Personen mit Wohnsitz in den betreffenden Kantonen).

Einsetzen einer Bandscheiben-Prothese (Diskusprothese)

Bandscheibenprothese
Eine Bandscheibenprothese (Ersatzimplantat im Zwischenwirbelraum) wird den Bernerinnen und Bernern viel häufiger eingesetzt als Einwohnern in den Kantonen St. Gallen und Waadt.
Bandscheibe Diskkusprothese 2013
.

Bereits im Jahr 2013 wurden Bernerinnen und Bernern viel mehr Bandscheibenprothesen (Diskusprothesen) implantiert als den Einwohnern der restlichen Schweiz, mit Ausnahme der Einwohner der Kantone Luzern, Ob- und Nidwalden. Auch 20 Prozent häufiger als den Bündnerinnen und Bündnern, obwohl in der Grafik im gleichen Farbsegment (jeweils pro 100’000 Personen mit Wohnsitz in den betreffenden Kantonen).

Versteifung der Wirbelsäule (Spondylodese)

Versteifung Wirbelsäule X
Bernerinnen und Bernern wird eine Wirbelsäule 30 Prozent häufiger versteift (Spondylodese) als Einwohnern in den Kantonen Zürich, St. Gallen und Wallis und sogar 20x häufiger als Waadtländern. Nur im Kanton Luzern war die Rate gleich hoch wie im Kanton Bern. Die anderen dunkel gefärbten Kantone hatten eine leicht niedrigere Rate.
Versteifung 2013

Bereits im Jahr 2013 wurden im Kanton Bern viel mehr Wirbelsäulen versteift (Spondylodese) als im Rest der Schweiz, mit Ausnahme des Kantons Uri (jeweils pro 100’000 Personen mit Wohnsitz in den betreffenden Kantonen).

Erweiterung der Wirbelsäule (Dekompression am Spinalkanal)

Erweiterung des Wirbelkanals
Einwohnern des Kantons Bern wird der Wirbelkanal fast 30% häufiger erweitert als den Einwohnern im Kanton Zürich (Dekompression am Spinalkanal), 40% häufiger als den Einwohnern im Kanton Luzern und mehr als 60% häufiger als den Einwohnern im Kanton Waadt. Nur bei Einwohnern in den Kantonen Wallis und Thurgau wird diese Operation noch häufiger durchgeführt als im Kanton Bern.
Erweiterung des Wirbelkanals 2013

Bereits im Jahr 2013 wurden im Kanton Bern viel mehr Wirbelkanäle erweitert (Dekompression am Spinalkanal) als im Rest der Schweiz, mit Ausnahme des Kantons Uri (jeweils pro 100’000 Personen mit Wohnsitz in den betreffenden Kantonen).

Kanton Bern auch bei anderen Eingriffen sehr operationsfreudig

Bei der Zahl der Rückenoperationen liegen die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Bern fast immer an der Spitze. Auch bei vielen anderen Operationen liegen sie ganz vorne:

  • Bernerinnen und Berner erhalten etwa elf Prozent häufiger ein erstmaliges künstliches Hüftgelenk als die Einwohner der umliegenden Kantone.
  • Ein erstmaliges künstliches Kniegelenk setzen Orthopäden Bernerinnen und Bernern häufiger ein als Orthopäden dies bei Einwohnern anderer Kantone und – ausser namentlich im Bündnerland.
  • Die Gebärmutter wird Bernerinnen überdurchschnittlich häufig entfernt. 
  • Ärzte machen bei Bernerinnen und Bernern auch überdurchschnittlich häufig eine Darmspiegelung.

Ob die Bernerinnen und Berner damit besser versorgt oder vielmehr zu ihrem Nachteil überversorgt sind, wird nicht abgeklärt.

Stellungnahme der Berner Gesundheitsdirektion

Infosperber hat dem Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg zwei Fragen gestellt. Die Antworten stammen von seinem Kommunikationsbeauftragten.

Frage: Hat die Gesundheitsdirektion des Kantons Bern je eine wissenschaftliche Untersuchung veranlasst, um herauszufinden, ob die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Bern häufig ohne Nutzen operiert worden sind? 

Antwort: Nein

Frage: Falls nicht: Was sagen Sie zum Vorwurf, dass es fahrlässig sei, diese Frage nicht abzuklären? Bernerinnen und Berner könnten häufig ohne Nutzen operiert worden sein und nur die gesundheitlichen Risiken von Operationen tragen.

Antwort (teilweise zusammengefasst): Die Gesundheitsdirektion hält die statistische Standardisierung der Raten für fragwürdig: «Aus unserer Sicht lässt sich daher mit dem Versorgungsatlas (Obsan) die Frage nach einer Überversorgung nicht beantworten.» Auf nationaler Ebene gebe es «keine anerkannte Definition für den Begriff der Überversorgung».
Und weiter: «Um die Fragen nach der zweckmässigen Indikation und Versorgung zu stellen, müssten auch sozialethische Fragen beantwortet werden, was allgemein schwierig ist. Das heisst beispielsweise: ‹Ist eine Bypassoperation bei einer/einem 90-jährigen PatientIn sinnvoll?›, ‹Soll der Hüftgelenkersatz bei einer/einem 80-jährigen chronisch kranken PatientIn durchgeführt werden?›, ‹Soll die Kataraktoperation bei einer/einem 85-jährigen alleinstehenden PatientIn ambulant oder stationär durchgeführt werden?›, usw.»

Nach Ansicht der Berner Gesundheitsdirektion handeln Berner Chirurgen sozialethisch eben anders als Chirurgen in den meisten anderen Kantonen – selbst wenn es um die – in der Antwort nicht erwähnten – operativen Eingriffe am Rücken geht.

Mehr Orthopäden als in fast allen anderen Kantonen

Was Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg nicht ausrichten liess: Im Kanton Bern operieren pro 100’000 Einwohner deutlich mehr Orthopäden als in fast allen anderen Kantonen: Rund 50 Prozent mehr als im Kanton Waadt, fast 40 Prozent mehr als in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt und sogar über 60 Prozent mehr als im Kanton Genf. In allen diesen Kantonen gibt es ein Universitäts- oder ein grosses Kantonsspital.

Der einzige Ausreisser neben dem Kanton Bern ist der Kanton St. Gallen, der für Orthopäden pro 100’000 Einwohner sogar 14 Prozent mehr Berufsausübungsbewilligungen erteilt hat. (Siehe Erläuterung in der Fussnote1.)

Spital- und Gesundheitsdirektoren sehen es gerne, wenn Orthopäden häufig operieren. Denn diese Operationen erzielen mit den heutigen Fallpauschalen einen höheren «Deckungsgrad» als andere Operationen. In Zeiten von Spitaldefiziten sind Spitäler finanziell nicht daran interessiert, den Nutzen von überdurchschnittlich häufigen orthopädischen Operationen näher zu prüfen.

Stefan Boes, Professor für Gesundheitsökonomie und Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin an der Universität Luzern, stellt fest: «Leider fehlen für den Kanton Bern aber auch schweizweit wissenschaftliche Analysen, woraus man verlässlich auf eine Überversorgung oder Unterversorgung schliessen könnte.»

Fazit: Bernerinnen und Berner werden besonders am Rücken seit vielen Jahren viel häufiger operiert als Einwohner der restlichen Schweiz. Ob dies zu ihrem Nutzen oder Schaden passiert, klärt die Berner Gesundheitsdirektion nicht ab. Man kann dies als fahrlässig bezeichnen.

Switzerland: «not available»

Heinz Locher xx
Heinz Locher

Ein Kommentar von Gesundheitsökonom Heinz Locher

«Switzerland: not available» war während vieler Jahre der «running Gag» internationaler Tagungen. Nun liegen gute Rohdaten vor – geändert hat sich kaum etwas.

Wer interessiert sich schon für geografische oder medizinische Variationen des Leistungsgeschehens und deren Ursachen. Handelt es sich um Phänomene der Unter- oder der Überversorgung, bedingt durch grössere Ansprüche wohlhabender urbaner Bevölkerungsgruppen? Liegen Health Technology Assessments (HTA’s) vor? Keine Ahnung, aber auch kein Interesse. 

Das Bundesparlament befasst sich in einem Anfall von legislatorischer Übersprunghandlung viel lieber mit dem optimalen Zeitpunkt für die Bekanntgabe der Dienstpläne an das Spitalpersonal. 

Die Versorgungsforschung verbleibt nach einem kurzen Aufbäumen (NFP 74) im Mauerblümchendasein. Es fehlen Akzente bei der Verbesserung der Indikationsqualitäten: Das Swiss Medical Board (und damit breitflächige HTA’s) wurde abgewürgt, die Qualitätsberichterstattung neu aufgelegt. Interessiert es eigentlich die Medizinischen Fakultäten, das Weiterbildungsinstitut (SIWS) und die Fachgesellschaften nicht, wie ihre Mitglieder, Absolventinnen und Absolventen arbeiten und welche Rückkoppelungen sich für die Lehrpläne ergeben? Welche Schlussfolgerungen ziehen die Gesundheitsdirektionen für die Spitalplanung (Mindestmengen) und die Qualitätssicherung?

Welches sind die Ursachen für diese Missstände und Fehl- (bzw. Nicht-)leistungen? Zwei Stichworte genügen: Vermeiden von Transparenz. Verteidigen des Status quo. Der Titel lautet neu: «Switzerland, not interested at all.»

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FUSSNOTE zur Zahl der Orthopäden
1 Niemand in der Schweiz weiss genau, wieviele Orthopäden in den Kantonen aktiv ihren Beruf ausüben. Im gesundheitsstatistischen Entwicklungsland Schweiz gibt es keine Statistik darüber.
Die Schweizerische Orthopädische Gesellschaft hat nur Zahlen ihrer Mitglieder. Längst nicht alle Orthopäden sind Mitglied dieses Interessenverbandes. Bei der FMH sind keine Zahlen darüber erhältlich, beim Bundesamt für Gesundheit schon gar nicht.
Die Kantone geben an, wie vielen Orthopäden sie die Bewilligung zur Berufsausübung erteilt haben. Ein Problem: Orthopädische Oberärzte und Assistenzärzte in den Spitälern sind nicht dabei, weil diese keine Berufsausübungsbewilligung brauchen. Ein weiteres Problem: Die Kantonsbehörden wissen nicht mit Sicherheit, wie viele der Orthopäden mit Bewilligung ihren Beruf überhaupt noch ausüben und wie viele seit der Bewilligung in andere Kantone gezogen sind.
Infosperber ging bei den erwähnten Zahlen davon aus, dass der Anteil der Weggezogenen oder nicht mehr Berufsausübenden in den verglichenen Kantonen die gleiche Grössenordnung hat. Und alle diese Kantone verfügen über ein Universitäts- oder grosses Kantonsspital, in denen nicht erfasste Ober- und Assistenzärzte arbeiten.
Wegen fehlender genauer Statistik kann nur die Grössenordnung der Orthopäden-Dichte verglichen werden. Die Unterschiede sind jedoch signifikant.


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(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Suizidgedanken bei Behandlung mit «Fett weg»-Medikament

Martina Frei /  Personen mit Depressionen oder Angststörungen sollten mit «Fett weg»-Pillen aufpassen. Schweizer Studie empfiehlt Warnhinweis.

Im Januar 2024 kam die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zum vorläufigen Schluss, dass die «Fett weg»-Wirkstoffe nach bisherigem Stand des Wissens nicht zu Suizidgedanken oder -handlungen führen würden. Ein kleines Risiko sei dennoch möglich, man verfolge das Ganze weiter. 

Ebenso die Europäische Arzneimittelbehörde EMA: Sie kam im April 2024 zum Fazit, dass die «Fett weg»-Medikamente nicht der Grund für Suizidgedanken oder -handlungen seien. Anlass für ihre Bestandsaufnahme waren etwa 150 Meldungen über Suizidgedanken oder selbst-schädigendes Verhalten bei Personen, die möglicherweise im Zusammenhang mit den Wirkstoffen Dulaglutid, Exenatid, Liraglutid, Lixisenatid oder Semaglutid standen. Diese Medikamente werden unter der Bezeichnung GLP-1-Imitatoren zusammengefasst.

Überdurchschnittlich viele Meldungen bei «Ozempic», «Rybelsus» und «Wegovy»

Doch nun melden Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Ärztezeitschrift «Jama Network Open» Bedenken an: Sie fanden in der WHO-Datenbank ein Warnsignal. Mit über 36 Millionen Einträgen ist dies die grösste derartige Datenbank weltweit. 140 Länder schicken Verdachtsmeldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen dort hin.

Von den rund 30’000 Verdachtsmeldungen zum Wirkstoff Semaglutid berichteten 107 von Suizidgedanken, Suizidversuch, selbstschädigendem Verhalten oder Ähnlichem. Massgebend für das Warnsignal war nicht die (kleine) Anzahl, sondern ob solche Meldungen überproportional oft vorkamen.

Die Wissenschaftler verwendeten zwei etablierte Methoden, um Warnsignale bei Medikamenten zu erkennen. Entscheidend dabei ist, ob bestimmte Verdachtsmeldungen bei einem bestimmten Medikament deutlich häufiger sind als im sonstigen Durchschnitt bei allen anderen Medikamenten. Dies traf beim Wirkstoff Semaglutid zu.

Semaglutid ist enthalten in den Arzneimitteln «Ozempic» und «Rybelsus» (beide zugelassen gegen Diabetes) sowie in «Wegovy» (zugelassen zur Gewichtsreduktion bei starkem Übergewicht).

Für den ähnlichen Wirkstoff Liraglutid fand das Team hingegen kein Warnsignal. 

Vorsicht bei Narkosen

Die GLP-1-Imitatoren bewirken, dass sich der Magen langsamer entleert als sonst. Das kann dazu führen, dass bei einer Narkose noch Essensreste im Magen sind, obwohl der oder die Patientin vorher extra nichts gegessen hat. Kommt es infolge der Narkose zum Erbrechen, können die Essensreste und Magensäure in die Lunge gelangen, weil die Schutzreflexe während der Narkose ausser Kraft gesetzt sind (Infosperber berichtete). Diese Komplikation geht mit einer hohen Sterblichkeit einher. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA rät nun, einen entsprechenden Warnhinweis in der Packungsbeilage anzubringen.

Nach dem Absetzen verschwanden die Symptome oft

Verglichen mit dem Durchschnitt der anderen Medikamente gab es bei Behandlung mit Semaglutid signifikant mehr Meldungen, dass die Patienten Suizidgedanken hegten. Diese verschwanden bei mehr als 60 Prozent derjenigen wieder, die das Medikament absetzten – kein Beweis, aber ein Hinweis, dass dies etwas mit dem Arzneimittel zu tun haben kann. 

Bei Semaglutid seien die Suizidgedanken als potenzielle Nebenwirkung wahrscheinlich selten. Dieses Risiko würde das Nutzen-Schaden-Verhältnis des Medikaments nicht verändern, vermuten Georgios Schoretsanitis von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und seine Ko-Autoren. Sie weisen aber darauf hin, dass etliche Verdachtsmeldungen Personen betrafen, die den Wirkstoff wahrscheinlich «off-label» erhielten, also für einen Zweck, für den er nicht zugelassen ist. 

Jeder Zehnte besorgte sich das Mittel über Internet

Semaglutid wurde in den letzten Jahren massiv beworben, sowohl vom Hersteller als auch über Social Media und andere Kanäle. Wegen des verbreiteten «off-label»-Gebrauchs kam es zu Lieferengpässen (Infosperber berichtete).

Gemäss einer Umfrage der «Kaiser Family Foundation» (KFF) unter etwa 1500 Personen in den USA besorgten sich zehn Prozent der Befragten das Mittel übers Internet, weitere zehn Prozent bekamen es von einem Schönheits- oder Wellnesszentrum.

Problematische Kombination mit Beruhigungsmitteln und Antidepressiva

Auffallend war in der Studie von Schoretsanitis und seinen KollegInnen die Zunahme der Verdachtsmeldungen über Suizidgedanken, Suizidversuch, selbst-schädigendes Verhalten oder Ähnliches bei Behandlung mit Semaglutid: Im Jahr 2022 betrafen solche Verdachtsmeldungen erst 0,16 Prozent aller Meldungen zu diesem Wirkstoff, ein Jahr später waren es bereits 0,97 Prozent.

Besonders betroffen waren Personen, die zusätzlich zu Semaglutid auch ein Antidepressivum oder ein angstlösendes Beruhigungsmittel (sogenanntes Benzodiazepin) erhielten. Bei einer solchen Kombination war die Wahrscheinlichkeit, dass bei Behandlung mit Semaglutid Suizidgedanken auftraten und gemeldet wurden, rund viermal höher als bei Ko-Medikation mit anderen Medikamenten. 

Studienautoren raten zu einem Warnhinweis

Ihre Studie beweise keinen ursächlichen Zusammenhang, betont der Studienleiter Georgios Schoretsanitis auf Anfrage. «Aufgrund dieses Ergebnisses schlagen wir aber vor, dass Ärzte, die Semaglutid verschreiben, die psychiatrische Vorgeschichte und den psychischen Zustand der Patienten vor Beginn der Behandlung beurteilen sollten. Bei Patienten mit psychischen Störungen oder mit früheren Suizidgedanken oder Suizidversuchen sollten die Ärzte vorsichtig sein und den psychischen Zustand während der Einnahme von Semaglutid regelmässig überwachen.» 

«Wir sind der Ansicht, dass in der Packungsbeilage von Semaglutid ein Warnhinweis für die Anwendung bei psychisch labilen Patienten oder solchen mit psychiatrischen Störungen aufgenommen werden könnte», schreiben die Studienautoren. An den Zulassungsstudien für Semaglutid durften bewusst keine Personen teilnehmen, die früher an einer Depression litten. 

In einem begleitenden Kommentar zur Studie warnen auch zwei nicht an der Studie beteiligte Ärzte: Bis Genaueres bekannt sei, sollten GLP-1-Imitatoren Personen, die schon einmal an einer Depression litten oder die schon einen Suizidversuch unternommen haben, nur mit grosser Vorsicht verschrieben werden. Bei Patientinnen und Patienten, die während der Behandlung mit einem solchen Medikament plötzlich depressive Symptome bekämen, sollten die behandelnden Ärzte überlegen, das «Fett weg»-Medikament abzusetzen.

Auf psychische Veränderungen achten

Kurz nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von Georgios Schoretsanitis und seinen Kollegen erschienen zwei weitere Studien zum Thema in der Fachzeitschrift «Jama Internal Medicine». Keine davon kläre jedoch eindeutig die Frage, ob Semaglutid und seine chemisch verwandten Wirkstoffe bereits bestehende psychische Probleme verschlimmern würden, finden zwei Kommentatoren. Wachsam zu bleiben und die psychische Gesundheit der mit solchen Medikamenten behandelten Patienten fortlaufend zu überwachen, sei daher «unerlässlich».

Eine dieser beiden Studien analysierte mehrere Hersteller-gesponserte Studien mit rund 3700 Teilnehmenden im Hinblick auf Depressionen oder Suizidgedanken. Sie lieferte keinen Hinweis, dass Semaglutid diese begünstige. Von den neun Studienautoren geben acht Interessenkonflikte an, die den Hersteller von Semaglutid, Novo Nordisk, betreffen. Mehrere arbeiten für diese Pharmafirma. Eingeschlossen waren in dieser Studie nur Personen, die Dosen von jeweils 2,4 Milligramm bekamen. Die Daten von etwa 400 Personen, die nur 1 Milligramm-Dosen erhielten, wurden hingegen nicht einbezogen. Zum Vergleich: Die mittlere Dosis in der Schweizer Studie, die ein Warnsignal fand, betrug 0,5 Milligramm.

Die zweite Studie stammt aus Schweden und Dänemark. Sie untersuchte, ob Personen, die (meist gegen Diabetes) neu Semaglutid oder einen verwandten Wirkstoff (sogenannte GLP-1-Imitatoren) erhielten, öfter Suizid begingen als Menschen, die ein anderes Diabetes-Medikament bekamen. Etwa ein Drittel aller Studienteilnehmenden war früher schon mit Antidepressiva behandelt worden. Die Wissenschaftler (mehrheitlich ohne Interessenkonflikte zu Novo Nordisk) weisen darauf hin, dass GLP-1-Imitatoren die Blut-Hirn-Schranke überwinden und so ins Gehirn gelangen können. Sie fanden jedoch keinen Hinweis, dass diese Wirkstoffgruppe das Risiko für Suizide oder selbst-schädigendes Verhalten erhöhe. Die Schweizer Studie fand dieses Signal nur für Semaglutid, aber nicht für den GLP-1-Imitator Liraglutid.

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Venezuela: Maduro mauert und setzt auf Repression

Romeo Rey /  Eine umstrittene Wahl, ein Staat in der Dauerkrise und die Gefahr der globalen Schuldenbombe: Unsere Medienschau zu Lateinamerika.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Ein ständiger Schwerpunkt in unserem Medienspiegel zum Geschehen auf dem Subkontinent betrifft die Glaubwürdigkeit der demokratischen Strukturen. Deshalb befassen wir uns noch einmal ausführlich mit den Präsidentschaftswahlen in Venezuela, deren Korrektheit vor allem die bürgerlich-konservative Seite anzweifelt (Infosperber berichtete). Dazu sechs Beiträge zu diesem Urnengang aus verschiedensten Medien:

Bereits vor dem Wahltag publizierte «amerika21» die Analyse eines venezolanischen Soziologen. Bei seiner Einschätzung der Problematik berücksichtigt er sowohl wahltechnische wie auch politisch-historische Aspekte.

Wenige Tage nach dem Urnengang erschien im «IPG-Journal» ein Feature, in dem «fünf Lehren» zum besseren Verständnis der völlig verfahrenen Situation gezogen werden.

Die lokale Zeitung «El Diario» meldete gleichentags, einer der zehn Kandidaten habe sich geweigert, den Sieg von Nicolas Maduro zu anerkennen. Er verlange vom Obersten Wahlgericht, die Akten sämtlicher Urnen öffentlich bekanntzumachen.

Aus russischer Sicht schilderte «RT Canal International» das Wahlgeschehen. Dabei wurden die Bemühungen der Präsidenten von Kolumbien, Mexiko und Brasilien um eine Schlichtung der Krise hervorgehoben und verlangt, dass sich die Organisation Amerikanischer Staaten, die in direkter Abhängigkeit von Washington stehe, jeglicher Einflussnahme enthalten solle.

Einige Tage danach erschien im «Schweizer Standpunkt» eine umfassende Analyse, die erhebliche Diskrepanzen zwischen US-amerikanischen Politikern und Beobachtern dieser Wahlen feststellte.

Eine ebenso beachtenswerte Darstellung des Geschehens im parteiunabhängigen deutschen «Overton-Magazin», erörtert die Notwendigkeit von international überwachten Neuwahlen in Venezuela.

Argentinien: Armut dramatisch gestiegen

Auch die Entwicklung in Argentinien gilt es im Auge zu behalten. Staatspräsident Javier Milei feuert aus allen Rohren gegen jede Opposition, die seine ultraliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik für eine noch grössere Katastrophe halten als das, was ihm populistische und konservative Politiker als Erbe hinterlassen haben. In einer Rede, die er kürzlich vor versammelten Unternehmern in Rosario hielt, schmiss er alle Gegner zur Linken, Rechten und zögernden Mitte in einen Topf und warf ihnen – darunter auch vielen Anwesenden – unter Benutzung von massivem Gossenvokabular vor, sie blockierten sein wichtigstes Reformprojekt, die sogenannte Ley Omnibus, seit Monaten im Parlament.

Die gemässigt linksgerichtete lokale Tageszeitung «Página 12» unternahm jüngst den Versuch, acht Monate nach dem Regierungswechsel eine Zwischenbilanz in Sachen Wirtschafts- und Finanzpolitik unter Milei zu erstellen. Man kam dabei zum Schluss, dass nur in einem von zehn zentralen Aspekten, nämlich in der Führung des Bundeshaushalts, positive Ergebnisse zu erkennen seien. In zwei weiteren Punkten stehe das Warnlicht auf gelb, in den sieben übrigen auf rot. Die soziale Realität sei für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung kaum jemals so dramatisch gewesen wie jetzt.

In diesen Fragen lohnt sich ein vergleichender Blick auf das Nachbarland Brasilien. Die dortige alternative Nachrichtenplattform «Jornal GGN» hat ebenfalls statistische Daten aus amtlichen Quellen zusammengetragen, die nach zwanzig Monaten linksreformistischer Regierung unter Führung von Präsident Luiz Inácio da Silva ein entschieden günstigeres Bild ergeben als im dereinst wohlhabenden, nunmehr arg heruntergekommenen Argentinien.

Überschwängliche Zuversicht ist aber auch in Brasilien nicht angebracht – wie in den anderen Ländern Lateinamerikas. Die in grossunternehmerischen Kreisen wie eine Bibel gelesene Zeitschrift «Foreign Affairs» sieht schwarze Wolken am Horizont aufziehen. Wegen der erneut masslosen Verschuldung vieler Staaten müsse man südlich und nördlich des Äquators, im Osten des Globus wie auch im Westen früher oder später mit folgenschweren Zusammenbrüchen rechnen. Wie schon zu Beginn der 1980er Jahre in Lateinamerika, drohe die Schuldenbombe in der weniger entwickelten Welt hochzugehen. Dabei ist der Schuldenberg inzwischen nirgendwo rascher gewachsen, als in den USA selbst, wie «Wall Street On Parade» eindrücklich dokumentiert.

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Cover_Rey_Lateinamerika
Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

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Grüne und Grünliberale spannen zusammen

Christian Kravogel präsidiert die Grünliberalen in Emmen. (Bild: zvg)

Um im Einwohnerrat mehr Gewicht zu bekommen, vereinen die Grünen und die noch junge GLP in Emmen ihre Kräfte.

In der Legislaturperiode 2024-2028 des Einwohnerrates Emmen treten die Grünen und die Grünliberalen (GLP) gemeinsam als Fraktion auf. Das schreiben die Parteien in einer gemeinsamen Medienmitteilung.

Die bereits von 2020 bis 2021 bestehende Zusammenarbeit der beiden Parteien werde damit erneut aufgenommen. Ziel der Kooperation ist es, die bisherigen gemeinsamen Anliegen weiter zu stärken und den grünen und grünliberalen Themen in der Gemeinde Emmen mehr Gewicht zu verleihen.

Gegründet hat sich die GLP Emmen erst Ende 2023, weil sie in der Gemeinde Emmen stärker vertreten sein will und um Einwohnern die «grünliberale Philosophie» näher bringen, wie es damals in einer Medienmitteilung hiess. Präsident der Ortspartei ist Christian Kravogel (zentralplus berichtete).

Verwendete Quellen

  • Medienmitteilung Grüne und GLP

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Kinderlähmung in Gaza: Eine Katastrophe mit Ansage

Martina Frei /  In Gaza sollen 640’000 Kinder gegen Polio geimpft werden. Gestern Sonntag waren es nach Angaben der BBC erst knapp 80’000.

Seit Wochen berichten Medien über die geplante Impfaktion: «Vorbereitung für Impfungen im Gazastreifen läuft auf Hochtouren» («SRF»). «Impfstoff gegen Polio kommt im Gazastreifen an» («spiegel.de»). «Feuerpausen für Polio-Impfungen im Gazastreifen» («ARD»). Die Nachrichten kommen daher wie Erfolgsmeldungen, aber in Wahrheit sind sie Bankrotterklärungen.

Den Nährboden für Polio-Ausbrüche bilden dicht zusammengepferchte, geschwächte, nicht geimpfte Menschen, verschmutztes Trinkwasser und desolate hygienische Bedingungen – so wie jetzt in Gaza.

«Ich habe keine Worte, um zu beschreiben, was wir hier Tag für Tag sehen», sagte eine Mitarbeiterin des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA. «Es gibt hier keine Menschlichkeit mehr. Wenn man mit den Menschen redet, sagen sie einem nur, dass sie auf den Tod warten.» Tausende Familien in Gaza seien täglich gezwungen, an einen anderen Ort zu flüchten. Für alle möglichen Viren, Krätzemilben, Amöben und Bakterien herrschen in Gaza «beste» Bedingungen, um weiterverschleppt zu werden. 

Zwölfmal habe sie bisher ihren Aufenthaltsort wechseln müssen, weil immer wieder Evakuierungsbefehle kamen, berichtet die 21-jährige Journalistin Rita Baroud auf der Website «The New Humanitarian». Seit Beginn des Kriegs habe sie zwölf Kilo abgenommen.

Kinder haben weder genug noch das richtige Essen

Laut der UN-Hilfsorganisation UNRWA sind nur etwa sechs Prozent der Kinder im Süden des Gazastreifens und nur ein Prozent der Kinder im Norden ausreichend ernährt. Neugeborene sind untergewichtig. Ihre Mütter haben Mühe, Milch zu produzieren, um sie zu stillen. 

Das «British Medical Journal» (BMJ) berichtet von 90 Prozent mangelernährter Kinder in Gaza. Seit Monaten blockiere Israel immer wieder Hilfstransporte.

Siebenmal so viele Menschen pro Fläche wie in Zürich

Zwei Drittel der früher rund 2,38 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen zählenden Bevölkerung Gazas leben nun auf einer Fläche von 69 Quadratkilometern, weniger als einem Fünftel der Fläche des Gaza-Streifens. Das macht rund 35’000 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: Im Schweizer Mittelland sind es über 400 Menschen pro Quadratkilometer, in Zürich etwa 5000 pro Quadratkilometer

Selbst auf dem Friedhof stehen am Flüchtlingsort Deir al-Balah mittlerweile Zelte.

Knapp fünf Liter Wasser pro Tag in Gaza – 140 Liter in der Schweiz

4,74 Liter Wasser hat gemäss «Oxfam» durchschnittlich jeder Mensch in Gaza pro Tag. Das ist weniger als eine WC-Spülung. Zum Vergleich: In Schweizer Haushalten liegt der tägliche Trinkwasserverbrauch pro Kopf bei rund 140 Litern, in Israel beträgt der Pro-Kopf-Verbrauch laut «Oxfam» 247 Liter täglich. «Oxfam» ist ein Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen.

Im Moment herrschen in Gaza tagsüber Temperaturen über 30 Grad. Die Zelte der Flüchtlinge würden zu Treibhäusern, warnte ein Mitarbeiter von «ActionAid Palestine» im «British Medical Journal».

Israels «Wasserkrieg»

Das von israelischen und palästinensischen Journalisten gemeinsam verfasste Magazin «+972», benannt nach der Telefonvorwahl Israels, listete die Zerstörungen durch das israelische Militär auf: 194 zerstörte Brunnen zur Wassergewinnung, des weiteren 40 zerstörte grosse Wasserreservoire, 55 zerstörte Abwasserpumpstationen, 76 zerstörte kommunale Entsalzungsanlagen, vier zerstörte Kläranlagen sowie neun Ersatzteillager und zwei Labors zur Prüfung der Wasserqualität – Stand Juni 2024. 

Seither gingen die Bombardements und Sprengungen weiter, wie dieses Video zeigt, in dem israelische Soldaten ein Wasserreservoir in die Luft jagen. 

Laut «Oxfam» ist die Wasserversorgung in Gaza um 94 Prozent eingebrochen. Israel habe Wasseranlagen «systematisch zerstört», Hilfe absichtlich behindert und die Wasserzufuhr beschnitten. Im Bericht «Wasser-Kriegs-Verbrechen» belegt Oxfam die Vorwürfe.

Ausserdem blockierte die israelische Regierung laut dem «Council on Foreign Relations» die Einfuhr dringend benötigter Chlorid-Tabletten, um Wasser zu desinfizieren.

Ein WC für über 4000 Personen

«Médecins sans Frontières» (MSF) machte bereits im Februar auf die Durchfallerkrankungen durch verschmutztes Trinkwasser aufmerksam. «Die Auswirkungen sind schlimmer für Kinder, die ein schwächeres Immunsystem als Erwachsene haben und Krankheiten und Allergien stärker ausgesetzt sind», zitierte MSF eine Mitarbeiterin. «In letzter Zeit haben wir auch beobachtet, dass Kinder an Hautausschlägen leiden, weil es kein sauberes Wasser zum Baden oder Waschen gibt.»

Fehlendes Trinkwasser ist das Eine, die herumwabernde Kloake das Andere. Am Flüchtlingsort Al-Mawasi teilen sich laut «Oxfam» im Durchschnitt 4130 Personen ein Klo. 

Dreckwasser umspüle die Zelte, Abfallberge türmten sich. Wegen Treibstoffmangel können weder die Wasser-Entsalzungsanlagen noch die Kläranlagen, die Abfallbeseitigung (oder auch Kühlschränke zum Lagern von Impfstoffen) betrieben werden wie sonst. 

Fast alle Kleinkinder mit Durchfall

«Mindestens 90 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind von einer oder mehreren Infektionskrankheiten betroffen, und 70 Prozent leiden an Durchfall», berichteten die Vereinten Nationen schon Anfang März 2024 und prangerten Israels «Aushungerungs-Kampagne» an.

Vom 7. Oktober 2023 bis zum 7. Juli 2024 kam es in Gaza zu 990’000 Atemwegsinfekten, 574’000 Fällen von akutem wässrigem Durchfall, 107’000 Fällen von Gelbsucht, 12’000 Fällen von blutigem Durchfall – doch die wahre Anzahl sei «wahrscheinlich viel höher». Das schreibt das «BMJ» mit Verweis auf die WHO.

«Meine Kinder klagen täglich über Bauchschmerzen, Fieber, Hautausschläge und andere Gesundheitsprobleme. Wenn unsere Kinder nicht von den Raketen getötet werden, werden sie an diesen seltsamen Krankheiten sterben, die durch die Umweltverschmutzung und den Mangel an sanitären Einrichtungen entstehen», zitiert «+972» eine Mutter von drei Kindern in Gaza. 

Keine Seife, kein WC-Papier, keine Monatsbinden

Ein Vater berichtet, sein Sohn habe eine Hautinfektion und müsste eigentlich täglich gewaschen werden. «Aber Reinigungsprodukte sind sehr teuer. Ein Stück Seife kostete früher nur einen Dollar, jetzt wird es für vier Dollar verkauft.» Essen und Wasser müsste abgekocht werden, aber «der Mangel an Gas zum Kochen ist ein grosses Problem». 

Ein Mediensprecher der UN-Hilfsorganisation UNRWA sprach gegenüber dem Magazin «+972» von 1000 Hepatitis-Erkrankungen pro Woche. Seit dem 7. Oktober registrierte die UNRWA fast 40’000 Fälle von Hepatitis A. Diese ansteckende Leberentzündung wird durch Wasser oder Lebensmittel übertragen, die mit Fäkalien verunreinigt sind.

«Israel hat 70 Prozent aller Abwasserpumpen und 100 Prozent aller Kläranlagen sowie die wichtigsten Laboratorien zur Untersuchung der Wasserqualität in Gaza zerstört und die Einfuhr von Oxfam-Wasseruntersuchungsgeräten eingeschränkt», berichtet «Oxfam».

Seife, Shampoo, WC-Papier, Monatsbinden – seit zwei Monaten seien solche Produkte wegen der von Israel verhängten Blockade kaum noch erhältlich, sagt die Journalistin und Aktivistin Maha Hussaini in einem Video auf der Website «The New Humanitarian» und fügt an: «Wir erwarten eine weitere Lebensmittel-Krise.»

Viel zu wenig medizinische Zentren

«Das Gesundheitssystem ist auf den Knien», schreibt ein Mitarbeiter von «ActionAid Palestine» im «British Medical Journal». Die wenigen verbliebenen Spitäler platzten aus allen Nähten. Das «Al-Aqsa Hospital» beispielsweise würde fünfmal so viele Kranke versorgen wie früher, viele davon lebensgefährlich verletzt. Laut dem Spitaldirektor war das Spital zuletzt für rund eine Million Flüchtlinge zuständig. Der Treibstoffmangel betrifft auch die Spitäler und die lebensrettenden Maschinen dort.

Ende August berichtete die Nachrichtenagentur «AP», dass nun auch das zu den wenigen verbliebenen Spitälern zählende «Al-Aqsa Hospital» geräumt werden musste, denn Israels Militär hatte in der Nähe «Bodenoperationen» angekündigt und die Bevölkerung dort zur Evakuierung aufgefordert. 

Aus Furcht, auch das Spital könne zur Zielscheibe werden, seien Patienten und Mitarbeitende geflohen, berichtet «+972». Mindestens jede 50. Person, die im Gesundheitswesen arbeitete, sei bereits getötet worden – durchschnittlich zwei Gesundheitsfachleute pro Tag, prangerte «Medical Aid for Palestinians» an. 

Israel erteile oft auch keine Erlaubnis, um Ärzte nach Gaza zu entsenden, sagte ein anderer Mitarbeiter dieser Hilfsorganisation gegenüber «The Lancet». Zuletzt habe dies einen Narkosearzt betroffen, «der nicht einmal Araber ist, und wie immer wird kein Grund genannt».

In Rafah haben laut der WHO 90’000 Menschen überhaupt keinen Zugang mehr zu Gesundheitseinrichtungen.  

90’000 Menschen ohne Arzt, Ärztin

Rund 90’000 Verletzte wurden laut dem «British Medical Journal» bisher gezählt.

Den palästinensischen Behörden zufolge wurden seit dem 7. Oktober 2023 über 40’000 Menschen in Gaza getötet. Israelische Behörden haben die palästinensischen Schätzungen im Frühling bestritten

Doch eine Gruppe von US-Pflegekräften und Ärzten, die in Gaza halfen, hält die offiziellen Angaben für untertrieben. Laut «The Lancet» schrieben sie in einem Brief an US-Präsident Biden, dass bisher wahrscheinlich über 92’000 Menschen in diesem Konflikt gestorben seien, mehr als doppelt so viele, wie das palästinische Gesundheitsministerium zählte.

Auch der weltweit bekannte kanadische Wissenschaftler Salim Yusuf hält die offiziellen Zahlen wahrscheinlich für eine Unterschätzung, schrieb er in «The Lancet». Auf einen «direkten» Tod durch die Kampfhandlungen würden erfahrungsgemäss 3 bis 15 «indirekte» Todesfälle durch Krankheiten kommen. Konservativ geschätzt, ergebe das 186’000 oder mehr verstorbene Palästinenserinnen und Palästinenser, fast acht Prozent der früheren Bevölkerung.

Mehr als 17’000 Kinder müssen für sich selbst sorgen

Mehr als 10’000 Tote sollen den Vereinten Nationen zufolge noch unter den Trümmern liegen. Schon im Mai waren 30 Prozent der Toten nicht identifiziert.

Die Hilfsorganisation «Save the Children» schrieb – Stand Juni – von mindestens 17’000 Kindern, die in Gaza auf sich allein gestellt seien, und vermutlich 4000, die unter Trümmern begraben liegen. Andere Kinder seien zwangsweise verschleppt oder gefoltert worden. «Schätzungsweise über 20’000 Kinder sind verloren gegangen, verschwunden, inhaftiert, begraben unter den Trümmern oder in Massengräbern.»

Der Polio-Ausbruch war erwartbar und wäre zu vermeiden gewesen

Vor dem Gaza-Krieg waren je nach Quelle 95 bis 99 Prozent der dortigen Bevölkerung gegen Polio geimpft. Nun sind es noch rund 86 oder 89 Prozent, berichten «The Lancet» und die «Polio Global Eradication Initiative». Von den etwa 50’000 Kindern, die seit Beginn des Gaza-Kriegs geboren wurden, seien vermutlich gar keine geimpft worden.

Im Juli wurden Impf-Polioviren in sechs Abwasserproben aus Gaza entdeckt, die am 23. Juni entnommen worden waren. Diese Viren ähneln Viren, die in der zweiten Jahreshälfte in Ägypten gefunden wurden. Der «Polio Global Eradication Initiative» zufolge könnten sie bereits seit September 2023 in Gaza zirkulieren. 

Stichwort Polio

Das Polio-Virus vermehrt sich im Darm, wird in der Regel mehrere Wochen lang mit dem Stuhlgang ausgeschieden und kann so auch übertragen werden.

Über 95 Prozent der Polio- Infizierten zeigen keine oder nur leichte Symptome, ähnlich einer Erkältung oder Durchfall. Weniger als ein Prozent bekommen Lähmungen, meist an einem Bein. Die Lähmungen können sich ausbreiten und bis zur tödlichen Atemlähmung führen. Manche Patienten erholen sich wieder, andere bleiben lebenslang behindert.

Die Schluckimpfung ist wirksam und scheint überdies einen günstigen Effekt auf die Immunabwehr zu haben. Weil sie preiswert ist, wird sie oft in ärmeren Ländern eingesetzt. Diese sogenannte «Lebendvakzine» besteht aus abgeschwächten Polio-Impfviren, die sich für einige Zeit im Darm der Geimpften vermehren und währenddessen auch mit dem Stuhlgang ausgeschieden werden. Das Immunsystem im Darm wird durch die Impfung aktiviert und der geimpfte Mensch ist fortan immun gegen Polio. 

Unter bestimmten Umständen können die abgeschwächten Polio-Impfviren jedoch mutieren und zu Krankheitserregern werden. Solche mutierten Viren führen bei ungefähr zwei bis vier von einer Million Geimpften zu einer Polio-Erkrankung, die sich genauso äussert wie die Kinderlähmung durch «wild vorkommende» Viren. Wer vollständig gegen Polio geimpft ist, hat von solchen mutierten Impfviren hingegen nichts zu befürchten. Zirkulieren diese aber längere Zeit in einer Bevölkerung, die nicht immun ist gegen Polio, kann es zu Ausbrüchen kommen. Dies ist nun in Gaza eingetreten.

In westlichen Ländern wird anstelle der Schluckimpfung ein Polio-Impfstoff gespritzt. Er umgeht das Problem der «Impf-Polio», hat aber andere Nachteile (Infosperber berichtete)

Erste Polio-Lähmung seit 25 Jahren

Nach dem Fund bot Israel rasch allen seinen Soldatinnen und Soldaten die Polio-Impfung an – aber nicht der Bevölkerung von Gaza. Es seien mehrere Wochen vergangen, bis Israel den Transport des Polio-Impfstoffs erlaubt habe, berichtet «+972». 

Mittlerweile gab es drei Verdachtsfälle von Kinderlähmung in Gaza. Am 16. August teilte das Palästinensische Gesundheitsministerium mit, dass bei einem zehn Monate alten, nie geimpften  Baby eine Polio-Erkrankung festgestellt worden sei. Der WHO-Direktor bestätigte den Befund am 23. August. Es ist der erste Fall nach 25 Polio-freien Jahren in Gaza.

Zwei Impfrunden im Abstand von vier Wochen geplant

«Um es klar zu sagen: Die ultimative Impfung gegen Polio ist Frieden und ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand. In jedem Fall aber ist eine Polio-Pause ein Muss», forderte der WHO-Generaldirektor.

An drei Tagen sollen nun jeweils zwischen 6 und 15 Uhr insgesamt 640’000 Kinder in Gaza geimpft werden – falls sich alle an die Waffenruhe halten. 

Geplant sind zwei Impfrunden im Abstand von vier Wochen. Die ständig wechselnden Aufenthaltsorte der Flüchtlinge, die allein umherirrenden Kinder und vieles mehr erschweren die Impfkampagne. 

Jedes Kind soll zwei Tropfen der Schluckimpfung erhalten. Es sind zwei Tropfen auf einen heissen Stein inmitten von Tränen, Blut, Kloake. Hepatitis, Durchfallerreger, Kakerlaken, Krätzemilben und anderes mehr zirkulieren weiter. Auch das wäre zu verhindern gewesen.

Polio in Gaza kann auch israelische Kinder gefährden

Der Polio-Ausbruch in Gaza könnte auf israelische Kinder übergreifen, gibt die Medizinprofessorin Annie Sparrow in einem Artikel bei «Foreign Policy» zu Bedenken. Auch Sparrow vermutet, dass die kürzlich entdeckten Impf-Polio-Viren wohl schon Monate unbemerkt in Gaza zirkulieren. 

In Israel seien mindestens 175’000 Kinder nicht oder unvollständig geimpft, schreibt Sparrow. Es sind vor allem Kinder von ultra-orthodoxen Juden, welche Impfungen ablehnen. 

Die israelische Regierung habe nun einen «Anreiz», um Feuerpausen in Gaza zuzustimmen, so die Medizinprofessorin. Denn Israels Premierminister Netanyahu sei auf die ultra-orthodoxen Juden angewiesen und der einzige Weg, um sie zu schützen, sei, Polio in Gaza unter Kontrolle zu bringen. Die Impfkampagne in Gaza dient also auch dem Schutz ungeimpfter israelischer Kinder.


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Nestlé desinfiziert «natürliches» Wasser seit den 1990er-Jahren

Daniela Gschweng /  Der Skandal um mit illegalen Methoden behandeltes Nestlé-Mineralwasser weitet sich nochmals aus.

Natürliches Mineralwasser kommt klar und kühl aus den Tiefen der Erde und muss kaum behandelt werden, denn es ist von «ursprünglicher Reinheit». So steht es im Gesetz. Erlaubt sind nur wenige Methoden.

UV-Licht und Aktivkohlefilter gehören nicht dazu. Genau diese hat Nestlé aber verwendet. Das zeigten Recherchen der französischen Zeitung «Le Monde» im Januar. Betroffen waren die Marken Perrier, Vittel, Hépar und Contrex.

Nestlé redete sich mit «Sorge um Konsumenten» heraus

Die Qualität von Mineralwässern wäre eben nicht immer gleich, rechtfertigte sich der Konzern. Aus Sorge um die Gesundheit der Konsument:innen werde das Wasser behandelt.  

Als Nächstes kam durch Recherchen von «Le Temps» zu Tage, dass Nestlé auch beim Minieralwasser Henniez in der Schweiz Aktivkohlefilter verwendet hatte. Inzwischen habe man die verbotene Praxis aber wieder eingestellt, teilte das Unternehmen mit (Infosperber berichtete).

Foodwatch: «Jahrzehntelanger, systematischer Betrug»

Nun stellt sich heraus, dass der Verstoss kein isoliertes Vorkommnis war. Die Europäische Kommission bestätigte am 24. Juli, dass Nestlé seit den 1990er-Jahren französisches «Mineralwasser» mit verbotenen Methoden filtert.

Der Betrug sei «beispiellos», schreibt das französische Medium «Mediapart». Es gehe um drei Milliarden Euro und einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren.

Nestlé habe seit den 1990er-Jahren mit verbotenen Methoden gereinigtes Wasser als «natürliches Mineralwasser» verkauft, fasst die Konsumentenorganisation Foodwatch auf Deutsch zusammen. Falls sich das wirklich so zugetragen habe, handle es sich um «jahrzehntelangen, systematischen Betrug», sagt Ingrid Kragl von Foodwatch Frankreich.

Die beiden verbotenen Methoden

UV-Licht wird verwendet, um Viren und Bakterien in Wasser, Luft und auf Oberflächen abzutöten. UV-Strahlung wird deshalb zur Wasserdesinfektion oder auch in Spitälern eingesetzt. So werden etwa Operationssäle mit ultravioletter Strahlung desinfiziert. Für Menschen ist die verwendete UV-C-Strahlung schädlich. Sie kann die Haut beschädigen und zu Bindehautentzündungen am Auge oder bei längerer Bestrahlung sogar zu Erblindung führen.

Aktivkohlefilter wiederum können unerwünschte Chemikalien wie PFAS und Pestizide aus dem Wasser filtern. Für Wasser von «ursprünglicher Reinheit» sollte beides nicht nötig sein. Sonst könnte man auch Leitungswasser als «Mineralwasser» verkaufen.

Prüfbericht: Kontrollstrukturen mangelhaft

Der Bericht rügte aber auch die französischen Behörden. Das existierende amtliche Kontrollsystem sei nicht «darauf ausgelegt, Betrug in der Branche der natürlichen Mineralwässer und Quellwässer aufzudecken». So könnten «nicht konforme und potenziell betrügerische Produkte auf den Markt gelangen».

Werde ein Verstoss festgestellt, hapere es zudem bei den Folgemassnahmen, die sicherstellen sollten, dass Unternehmen die verbotene Praxis nicht fortführen, keine daraus entstandenen Produkte auf den Markt bringen und nicht konforme Produkte vom Markt nehmen.

Die Reinheit von Mineralwasser wird also nicht richtig kontrolliert, und wenn dennoch ein Verstoss entdeckt wird, hat er kaum Folgen. Dazu passt, dass die französische Regierung bereits 2021 von Nestlé informiert worden sein soll. Diese Information sei laut Foodwatch aber weder an die Europäische Kommission noch an andere EU-Mitgliedsstaaten weitergegeben worden.

Ein Skandal wie in Frankreich könne sich aber ganz leicht auch in Deutschland ereignen, schätzt Foodwatch, das Nestlé Waters und Sources Alma im Februar verklagt hat. Auch dort fehle es an Personal, die Struktur der Behörden sei äusserst anfällig für Interessenkonflikte, die Kommunikation träge. Es gebe auch kein Transparenzgebot, kritisiert Foodwatch.

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Syrien: Assad legt keinen Wert auf Rückkehr von Flüchtlingen

Gudrun Harrer /  Der Krieg in Syrien gilt als «eingefroren». Doch Gewalt und Not sind allgegenwärtig. Wer nur irgendwie kann, verlässt das Land.

Nach dem tödlichen Messerattentat in Solingen, verübt von einem Syrer und reklamiert vom «Islamischen Staat», ist die Frage akut geworden, ob man unerwünschte Asylwerber ins Kriegsland Syrien abschieben kann. Die Debatte, die durch den Aufstieg der Rechtsradikalen in Europa umso dringlicher wird, schliesst an eine andere an, die im Juli nicht zuletzt vom österreichischen Aussenministerium angestossen wurde: Ist es nicht Zeit, die Beziehungen zum Regime von Bashar al-Assad, das 13 Jahre nach Beginn des Aufstands fest im Sattel sitzt, zu verbessern?

Dazu gibt es in der EU einen Vorstoss von Griechenland, Kroatien, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Zypern und eben Österreich. Die Eröffnung eines Dialogs mit Damaskus wäre Voraussetzung für mögliche Abschiebungen, denn dafür braucht man Kooperationsbereitschaft auf der anderen Seite. Aber es gibt noch einen Aspekt: Die wirtschaftliche und soziale Lage in Syrien ist so schlecht, dass nur Wiederaufbau und Stabilisierung des schwer zerstörten Landes verhindern können, dass in Zukunft noch mehr Menschen flüchten. Wer nur irgendwie kann, verlässt Syrien.

Assad hält sich heraus

Eher unerwartet ist dabei, dass die derzeitige grosse Nahostkrise Assad aussenpolitisch eher hilft. Das Assad-Regime ist alter Partner der Islamischen Republik Iran und eigentlich ein fixer Bestandteil der iranischen «Achse des Widerstands». Wegen der iranischen und der Hisbollah-Präsenz wird Syrien häufig von Israel aus der Luft angegriffen. Aber momentan verfolgt Assad eine klare Disengagement-Strategie, eine Abkoppelung. Er tut auch so, als ob ihn der Golan nichts anginge, der einer der Schauplätze der Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel ist.

Assad will nicht in einen Krieg zwischen Israel und der «Achse» hineingezogen werden – und auch sein Protektor Russland will das nicht. Ihm würde die EU mit Normalisierungsschritten einen Erfolg gönnen. Das gehört zur Abwägung der Interessen dazu.

Für Assads Zurückhaltung gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass die arabischen Golfstaaten die Beziehungen zu Assad normalisieren – das führen auch normalisierungswillige Europäer ins Treffen. Das will er nicht riskieren, indem er sich einmal mehr Teheran verschreibt. Dazu kommt das schlechte Verhältnis Assads zur Hamas, die er früher sogar in Damaskus beherbergte, die sich jedoch beim Aufstand 2011 gegen ihn wandte. Und so mies es den Menschen in Syrien geht: Im Vergleich mit dem Libanon und seiner Hisbollah steht jetzt Syrien beinahe als stabile Alternative da.

Verfolgung zu erwarten

Gleichzeitig versichern humanitäre und Menschenrechts-Organisationen, die etwas mit Syrien zu tun haben, dass dies kein Land ist, in das man Flüchtlinge zurückschicken kann. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR wird Syrien nicht für «sicher» erklären. Und Assad will bestimmt niemanden zurücknehmen, schon gar nicht Regimegegner. Sie hätten weiter Verfolgung zu erwarten.

Schon 2012 hat das Regime damit begonnen, sich das Vermögen der Flüchtlinge einzuverleiben: per Dekret und durch ein Antiterrorismusgesetz, dessen man sich gegen alle Oppositionellen bedienen kann. 2023 folgte ein Gesetz, das es dem Staat erlaubt, eingezogene Vermögen, auch Immobilien, zu managen; der Profit fliesst in die eigenen Kassen. Was den Flüchtlingen gehört hat, wird auf Regimegünstlinge umverteilt. Die engere Familie Assad hat Besitz von der syrischen Wirtschaft ergriffen. Dazu hat es durchaus auch interne Clankämpfe gegeben.

Währenddessen ist die Not vieler Menschen überwältigend. Die Hilfsorganisationen sind in Syrien stark unterfinanziert. Wieder geht eine Generation von Kindern verloren: Laut Schätzungen besucht nur die Hälfte von ihnen Schulen. Lehrer müssen sich teilweise selbst das Benzin finanzieren, um in die Schulen zu fahren – nicht alle können das.

Gewalt im ganzen Land

Aber gibt es in Syrien noch einen Krieg? Oft wird er als «eingefroren» bezeichnet. Lageberichte zeichnen ein Bild der ständigen Gewalt an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Akteuren. Aber es gibt praktisch keinen Tag ohne Todesopfer.

Karte
Wer kontrolliert welche Gebiete in Syrien? Übersichtskarte Stand März 2023

Da sind die sogenannten Unruhegebiete, wie Daraa im Süden, wo Regime- oder regimefreundliche Kräfte gegen Rebellen vorgehen und umgekehrt. Nicht jede Gewalt hat politische Ursachen, es spielt auch Drogenkriminalität, der Schmuggel mit der Aufputschdroge Captagon nach Jordanien, hinein. Auch jordanische Sicherheitskräfte greifen an der Grenze ein.

Im Nordosten gibt es vermehrt Auseinandersetzungen zwischen den von den USA gestützten SDF (Syrian Democratic Forces) und dem Regime oder auch «regimefreundlichen tribalen Kräften», also arabischen Stämmen, die gegen die kurdische Dominanz sind. Dazu kommen türkische Angriffe auf die PKK-nahen kurdischen Milizen, die stärkste Gruppe in den SDF. Im Nordwesten mischen von der Türkei gehaltene syrische Milizen mit. Eine «Unruheprovinz» ist auch das Drusengebiet in Suwayda. Drusische Milizen wehren sich gegen Islamisten, aber vermehrt auch gegen das Regime.

Die Aktivitäten des «Islamischen Staats», vor allem im Gebiet um Palmyra in Zentralsyrien, sind im Steigen begriffen. Erst am 25. August etwa wurden elf syrische Soldaten einer Patrouille tot aufgefunden, manche davon geköpft. Umgekehrt macht das Regime Jagd auf den IS und verschont dabei auch unbeteiligte Zivilisten nicht.

Das Gebiet von Idlib dominiert unter türkischer Ägide die Terrororganisation HTS. Idlib – auch die Bevölkerung, die nichts mit dem HTS zu tun hat – leidet unter Luftangriffen des Regimes und Russlands. Die HTS kämpft jedoch auch gegen den IS, sie selbst hat ihre Wurzeln in Al-Kaida. Nicht alle, die gegen Assad kämpfen, gehören zu den Guten. Das macht ihn aber nicht besser.

Dieser Artikel ist zuerst im «Standard» erschienen.


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Keine. Gudrun Harrer ist leitende Redakteurin des österreichischen «Standard» und unterrichtet Moderne Geschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Wien.
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«Wenn es so weitergeht, werde ich noch Unterschriften-Sammler!»

Herrmann /  Die Genfer Bio-Winzer leiden unter dem schlechten Wetter.


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Der Bundesrat – Neinsager vom Dienst

Marco Diener /  Sagt der Bundesrat zu einer Volksinitiative auch mal Ja? Nein!

Eigentlich ist es egal, ob SRG-Initiative, Kita-Initiative oder Umweltverantwortungs-Initiative: Wenn der Bundesrat eine Volksinitiative berät, dann sagt er am Schluss Nein.

Infosperber hat sämtliche Botschaften zu Volksinitiativen, die der Bundesrat in den letzten zehn Jahren zuhanden des Parlaments verabschiedet hat, angesehen. Es sind beinahe 50. Ohne Ausnahme hat sie der Bundesrat abgelehnt. Ganz so, als ob jede Volksinitiative unvernünftig wäre. Sogar die Formulierung ist immer gleich:

Screenshot 2024-09-10 at 14-31-38 default BBl 2022 1485 - BBl-2022-1485-DE.pdf
Immer das Gleiche: Der Bundesrat empfiehlt, «die Initiative abzulehnen».

Nur manchmal, wenn der Bundesrat fürchtet, die Initiative könnte vom Volk angenommen werden, dann lehnt er die Volksinitiative zwar ab, unterbreitet dem Parlament aber einen Gegenvorschlag, über den dann das Volk abstimmen soll.

Aber eben: Normalerweise ist sich der Bundesrat seiner Sache so sicher, dass er die Volksinitiative ablehnt, ohne einen Gegenvorschlag zu erarbeiten. Erstaunlich ist allerdings, mit welchem Aufwand er sein Nein jeweils begründet. Bei der Kita-Initiative verfasste er – oder besser gesagt: verfassten die Angestellten der Bundeskanzlei und des Bundesamts für Sozialversicherungen – eine Begründung, die 130’000 Zeichen lang ist.

Bei der Steuergerechtigkeits-Initiative, zu welcher der Bundesrat einen Gegenvorschlag erarbeitet hat, sind es sogar 260’000 Zeichen. Umgerechnet auf Normseiten sind das 144 Seiten.

Übrigens: Letztmals hat der Bundesrat 2013 eine Initiative befürwortet – diejenige zur Abschaffung der «Heiratsstrafe». Allerdings pfiff ihn das Parlament sogleich zurück. Schliesslich empfahlen sowohl Bundesrat als auch Parlament dem Volk die Initiative zur Ablehnung. Genau gleich lief es 2007 beim «Verbandsbeschwerderecht».

Wer wissen will, wann Bundesrat und Parlament dem Volk letztmals Initiativen zur Annahme empfohlen haben, muss weit zurückblättern: Es waren 2002 die Initiative zum «Uno-Beitritt» und 1992 die Initiative für einen «Arbeitsfreien Bundesfeiertag».

Erst 26 Initiativen angenommen

Das Schweizer Volk hat seit 1893 über insgesamt 233 Volksinitiativen abgestimmt. Davon hat es bloss deren 26 angenommen. Das sind gerade mal 11,6 Prozent.

Auffallend: Mehr als die Hälfte dieser Volksinitiativen hat das Volk allein in diesem Jahrtausend angenommen (deren 14). Das hat aber nichts damit zu tun, dass das Volk seither besonders aufmüpfig geworden wäre, sondern damit, dass seit der Jahrtausendwende besonders viele Initiativen vors Volk gekommen sind (deren 106).

Und noch ein Kuriosum: Von 1949 bis 1982 hat das Volk während gut 33 Jahren keine einzige Initiative angenommen.


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Impfstoffe: Zweifel am richtigen Einsatz

Steliana Huhulescu /  Armut und Ungleichheit zu bekämpfen wäre wichtiger als Kinder gegen alles Mögliche zu impfen, argumentiert eine Expertin.

Zehntausende Kinder in Gaza bezahlen mit ihrem Leben für die kriegerischen Ambitionen Erwachsener, die ihre elementaren Pflichten sträflich vernachlässigen. Mehrere Hunderttausend Menschen in Gaza leben unter unvorstellbaren Bedingungen, nur die wenigsten (1 bis 6 Prozent) sind ausreichend ernährt, und die kärglichen Wasserrationen entsprechen schon lange nicht mehr den Mindesthygieneanforderungen. Wen wundert es, dass unter diesen Umständen Seuchen wie Polio ausbrechen? Die «Verantwortlichen» fanden keine bessere Lösung als eine vorübergehende Feuerpause, um die Kinder gegen Polio zu impfen. Doch wie sinnvoll können solche Massnahmen sein? 

Der «Kampf» gegen Mikroorganismen begann zu einer Zeit, als man noch nicht einmal wusste, dass sie existieren. Der erste «totale Sieg» kam nach einem fast zweihundertjährigen Krieg (1796 bis 1979) mit dem Pockenvirus und blieb – vorerst – der einzige. Die Pocken haben den Ruf, die erste Krankheit zu sein, welche die Menschheit mit der unschätzbaren Hilfe von Impfungen ausgerottet hat. Die Tatsache, dass das Virus nicht zurückgekehrt ist, führt dazu, dass wir seine Ausrottung dokumentieren, obwohl es auch andere Erreger gibt, die nicht zurückkamen, wie etwa das gefürchtete H1N1-Grippevirus, das ebenfalls viele Opfer forderte und nach dem Massaker von 1918 spurlos und ohne Impfung verschwand. 

Zur Person

Steliana Huhulescu
Steliana Huhulescu

Die Autorin dieses Artikels, Steliana Huhulescu, ist Fachärztin für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin und war langjährige Abteilungsleiterin bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), Leiterin der Nationalen Österreichischen Referenzzentralen für Listeriose, Cholera, Diphtherie-Labor und Gonokokken, stellvertretende Leiterin der Nationalen Österreichischen Referenzzentrale für Clostridium difficile und langjährige Leiterin des binationalen Konsiliarlabors für Listerien Deutschland/Österreich. In dieser Zeit hat sie diverse Fachartikel mitverfasst. Seit Mai 2020 ist die gebürtige Rumänin in Rente, beschäftigt sich aber weiterhin mit medizinischen Themen.

Bis vor kurzem unterrichtete sie laut eigenem Bekunden «mit Leidenschaft» Hygiene, Mikrobiologie, Infektionskrankheiten, Immunologie und Impfstoffe. «Allerdings haben die in der Covid-19-Pandemie getroffenen Massnahmen und die neuen mRNA-Impfstoffe meine Begeisterung gedämpft und liessen mich fragen, ob alles, was ich mit grosser Überzeugung vorgetragen habe, der Wahrheit entspricht. Normalerweise empfahl ich Impfungen wärmstens – wenn auch nicht jedem allerlei Impfstoffe –, und ich war zuversichtlich, dass ich das Richtige tat», sagt sie rückblickend. Der Umgang mit diesem Thema in der Pandemie habe sie jedoch nachdenklich gemacht und zu weiteren Recherchen gebracht. Ihr Fazit: «Ich denke, es ist an der Zeit, zumindest eine Überarbeitung des Immunologie-Kapitels in medizinischen Lehrbüchern zu veranlassen.»

Das Ziel mehrmals verfehlt

Warum konnte die Wissenschaft trotz bemerkenswerten Fortschritten der Liste der Impf-Ausrottungen nichts mehr hinzufügen? Hohe Foren haben immer wieder gesagt, dass es nicht mehr lange dauere, und die Menschheit werde auf die Ausrottung einiger von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheiten stolz sein. Eine dieser Krankheiten ist Polio (Kinderlähmung), eine andere sind die Masern. 

Mehrmals verkündete die WHO, wir seien dem Ziel sehr nahe, doch es kam immer etwas dazwischen, das alles durchkreuzte: Mal irgendwo ein Konflikt, mal einige Bevölkerungsgruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen liessen. Die Frage des Impfstoffs an sich wurde jedoch nie angesprochen.

Wieso war ein derart durchschlagender Erfolg bei den Pocken möglich und warum konnten wir ihn nicht reproduzieren? Was, wenn dieser Sieg nur reiner Zufall, das Naturwerk oder das Ergebnis mehrerer Umstände wäre? Wie kann man einen Triumph wiederholen, ohne genau zu wissen, wie man dorthin gelangt ist? 

Verbesserte Lebensbedingungen trugen wichtigen Teil bei

Es heisst, dass die Pockenausrottung zwei Jahrhunderte erforderte (obwohl die WHO ihren Ausrottungsplan erst 1967 verstärkte). Parallel zum Pockenimpfstoff gab es auch andere, die sich gegen die grossen Seuchen der Menschheit richteten – Cholera, Pest, Anthrax, Typhus, Keuchhusten, Tetanus, Diphtherie oder Tuberkulose –, deren Ergebnisse jedoch nicht immer den Erwartungen entsprachen. Mit Ausnahme von Diphtherie und Tetanus hält das (partielle) Versagen anderer Impfstoffe bis heute an. 

Glücklicherweise wurden inzwischen die Antibiotika entdeckt, was den vorübergehenden Verzicht auf antibakterielle Impfungen ermöglichte. Gegen die Viren hingegen wurden die Impfkampagnen weitergeführt, aber mit welchen Ergebnissen? Es gibt Berichte über spektakuläre Rettungen von Millionen von Leben, aber … inwieweit haben die Impfstoffe dazu beigetragen und in welchem ​​Ausmass andere Faktoren, die parallel verliefen (etwa die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Hygiene, was eine Stärkung der Immunität und eine Verbesserung der Volksgesundheit bedeutete)? Es ist zwar schwierig, eine Korrelation in eine Kausalität umzuwandeln, aber dies gilt auch für Impfstoffe.

Impfungen setzten zeitgleich mit dem «Wirtschaftswunder» ein

Mit Ausnahme der Diphtherie wurden die Impfungen erst nach dem Zweiten Weltkrieg in grossem Umfang eingesetzt, praktisch parallel zum «Wirtschaftswunder». Es wird gesagt, dass die Masern keine harmlose Kinderkrankheit sind, da es zu einer vorübergehenden Immunschwäche kommt, was schwere Komplikationen nach sich zieht. Die Aussage stimmt nur zur Hälfte, da diese Risiken eher für «Drittweltländer» gelten, in denen die Letalität 3 bis 5 Prozent beträgt. In der «anderen» Welt sprechen wir von 1 bis 3 Todesfällen pro 10’000 Erkrankungen. Impfbefürworter präsentieren beeindruckende Grafiken über spektakuläre Senkung der Sterblichkeit (um 99 Prozent), aber … das ist die Schlussfolgerung, wenn man mit der Lupe und nur einen schmalen Ausschnitt betrachtet. 

Aus der Ferne und über den gesamten Zeitraum (1900 bis 1963) erkundet, fällt etwas anderes auf: Als der Masernimpfstoff auf den Markt kam (in den 60er/70er Jahren), lag die Letalität ohnehin nahe bei Null. Auch ohne den Impfstoff war die Sterblichkeitsrate um 98,5 Prozent gesunken! Die den Impfstoffen zugeschriebene 99-prozentige Reduktion (einige behaupten sogar, dass der Impfstoff den Abwärtstrend der Sterblichkeitskurve künstlich verlängert hätte) bezieht sich also auf die verbleibenden 2 Prozent. (Ausserdem erlangen mindestens 10 Prozent der Geimpften keine Immunität und erkranken dennoch, was bedeutet, dass der Impfstoff kein Allheilmittel ist.) 

Masernimpfung schützt in Afrika schlechter als im Westen

Diese Situation ist in den meisten Industrieländern und bei vielen Erkrankungen anzutreffen. In Afrika ist der Rückgang (sofern vorhanden) viel bescheidener und beträgt nur 30 Prozent. Womöglich gibt es verschiedene Ursachen für die schlechtere Wirksamkeit: die Nichteinhaltung der Kühlkette für die Impfstoffe, das niedrigere Impfalter oder die höhere Exposition den Erregern gegenüber, was einer erhöhten Dosis gleichkommt. Hinzu kommt, dass ein schwaches Immunsystem einen Selektionsdruck auf den Erreger ausübt und ihn so zu Flucht-Mutationen «zwingt».

Das von Experten vorgeschlagene Impfpaket deckt seltene und sehr seltene Erkrankungen in Industrieländern ab, mit Häufigkeiten zwischen 1:100’000 und 1:10’000’000 und einer Sterblichkeit von unter 2 pro Million. So werden mehrere Millionen Impfungen mehrere Jahre hintereinander benötigt, um einen Tod zu verhindern. (Vorausgesetzt, es sind die Impfstoffe, die es tun!) 

USA impfen am meisten – und haben die höchste Kindersterblichkeitsrate

Für andere Kinderkrankheiten wie etwa EHEC [eine bestimmte Art von Coli-Bakterien – Anm. d. Red.], Hirnhautentzündung oder Tuberkulose, die vor allem bei Kindern mit einem schwereren Verlauf und einer höheren Letalität einhergehen, gibt es keine (wirksamen) Impfungen. Diese Krankheiten scheinen keinen Wettbewerb zwischen Impfherstellern zu entfachen, wie es bei Covid-19 der Fall war. Warum wohl? 

Apropos Todesfälle bei Kindern: Laut Statistik in der EU, im Herzen der Zivilisation, sterben die Kinder ab einem Jahr am häufigsten bei Verkehrsunfällen, durch Ertrinken oder Verbrennen. In den USA sind es die Schusswaffen, und anderswo sind es Infektionskrankheiten, Drogen, Kriege und Hunger. 

In Ländern, die intensiv impfen, ist die Kindersterblichkeitsrate gemäss einer Studie in der Fachzeitschrift «Human & Experimental Toxicology» höher als in Ländern mit niedrigeren Impfraten. Ein solches Beispiel liefern die USA, das Land mit der höchsten Impfrate weltweit: 26 Dosen vor dem ersten Geburtstag! Man sollte meinen, die Kindersterblichkeitsrate – ein hervorragendes Mass für das sozioökonomische Gesundheitswohl – sei deutlich niedriger. Tatsächlich belegen die USA aber den letzten Platz unter den 34 in die Studie einbezogenen Ländern (mit Impfraten von 90 bis 99 Prozent).

Impfdosen vs. Säuglingssterblichkeit
Die Anzahl der für Babys empfohlenen Impfdosen in einem Land (waagrechte Skala unten) und die Säuglingssterblichkeit (Todesfälle / 1000, senkrechte Skala links) korrelieren: Je mehr Impfdosen, desto höher die Säuglingssterblichkeit. Ein ursächlicher Zusammenhang ist damit nicht bewiesen.

Der Preis der Pockenimpfung

Darüber hinaus wurde eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der Anzahl der Impfdosen und der Rate plötzlicher ungeklärter Todesfälle bei Säuglingen (SIDS) festgestellt. Man kann kaum an Zufälle glauben, wenn 58 Prozent der plötzlichen Todesfälle innerhalb der ersten drei Tage und 78 Prozent innerhalb einer Woche nach der Impfung auftreten. Die Studie mit dieser makabren Entdeckung stammt aus dem Jahr 2011 und wurde heftig kritisiert. Die Autoren replizierten sie 2019 mit aktualisierten Daten aus 46 vergleichbaren Staaten und die zitierte Korrelation … blieb bestehen. Die Experten stellten zwei Hypothesen für dieses Paradoxon auf: Einerseits die biochemische Toxizität (Zusatz- und Konservierungsstoffe, Adjuvantien, Stabilisatoren, Antibiotika, Inaktivatoren usw.) und andererseits die synergistische Toxizität (durch gleichzeitige oder unmittelbar aufeinanderfolgende Impfungen) oder die additive Toxizität (durch Überimpfung). 

Wer diese Ergebnisse anzweifelt, kann einen weiteren Blick riskieren und wird das gleiche Phänomen beim berühmtesten aller Impfstoffe bemerken: dem Pockenimpfstoff. Die Zahl der durch den Impfstoff verursachten Todesfälle liegt nicht weit unter der Zahl der durch das Virus verursachten. Zwar hat die Impfung viele vor der Erblindung gerettet, brachte aber eine neue Pathologie mit: schwere Komplikationen wie Impf-Hirnhautentzündung, Impf-Hirnentzündung oder Impf-Myokarditis (Herzmuskelentzündung). Ein ziemlich hoher Preis!

Die richtige Wahl der Eintrittspforte

Um zu verstehen, warum die Eliminierung anderer Krankheiten nicht funktioniert, sollten wir vielleicht zunächst verstehen, wie es bei den Pocken «funktioniert» hat. War es die Massenimpfung? Ging die Seuche sowieso ihrem Ende entgegen? Wurde das Virus selbst – ein Dinosaurier unter den Viren, etwa so gross wie ein Bakterium – «faul» und war nicht mehr in der Lage, so häufig zu mutieren? Oder war es die Tatsache, dass die Menschen lernten, die Hygieneregeln einzuhalten und sich dadurch ihre Lebensbedingungen und das Wohlbefinden verbesserten? 

Vielleicht ignorieren wir einige Grundregeln. Womöglich ist es nicht egal, welche Art von Impfstoffen wir auf welchem ​​Weg in den Körper einschleusen. Manchmal sind es lebende (abgeschwächte), manchmal tote (inaktivierte), und manchmal nur Fragmente der jeweiligen Erreger oder ihre inaktivierten Giftstoffe. Würden wir sie lebend einführen – zum Beispiel die Polio-Schluckimpfung–, wäre die Wirkung zwar besser, aber wir würden riskieren, dass es zu Poliofällen kommt. Die Kinderlähmung ist eine Schmierinfektion, und unter prekären Hygienebedingungen könnte sich das Impfvirus leicht verbreiten. 

Die beste Immunabwehr entsteht durch das Durchstehen der Krankheit. Wenn wir trotzdem impfen müssen, wäre es ideal, die Erkrankung selbst nachzuahmen. Das heisst: Wenn die Krankheit über den Verdauungstrakt übertragen wird, ist der Weg über den Mund sinnvoller als die Spritze. Wenn der Erreger die Atemwege «bevorzugt», können wir nur schwer durch die Injektion eine Immunität hervorrufen. Der Tuberkulosebazillus hat es uns in vollem Umfang gezeigt. Gegen Tuberkulose-Lungenerkrankungen bietet die Tuberkulose-Impfung (BCG-Impfung genannt) keinen Schutz, allenfalls gegen ihre Komplikationen wie Blutvergiftung oder Meningitis. Das Impfen ohne Rücksicht auf die Eintrittspforte gleicht dem bis an die Zähne bewaffneten Warten auf einen Einbrecher, aber stets am Hintereingang, während er ausnahmslos durch die Vordertür oder durchs Fenster eindringt und nicht die Absicht hat, je anders vorzugehen.

Mehr Hygiene und bessere Lebensbedingungen sind effektiver

Impfstoffe sind nutzlos, wenn die Erkrankungen mild und selten sind. Wenn es drei Erkrankungsfälle pro Hunderttausend und einen Todesfall alle vier Jahre gibt, ist es einfach, die «Wirkung» zu beweisen! In armen Ländern ist die Wirkung nicht so spektakulär, weil ein Impfstoff das Immunsystem nicht in dem Mass stärkt wie ein menschenwürdiges Leben, der Zugang zu Trinkwasser und hochwertiger Nahrung. Die Cholera kann nicht durch Impfungen bekämpft werden, solange Menschen mit Fäkalien verunreinigtes Wasser aus Flüssen und Seen trinken müssen. Eine Impfung ohne diese Verbesserungen ist so, als würde man ein abgemagertes, hungerndes Tier auspeitschen und von ihm verlangen, aussergewöhnlich gute Leistungen zu erbringen. 

Anstatt wahllos gegen alles zu impfen, was wir unter dem Mikroskop sehen, sollten wir uns besser auf die Prävention wirklich gefährlicher Krankheiten konzentrieren, die Millionen von Menschenleben fordern, wie Malaria oder Tuberkulose. Man kann nicht auf einem Müllberg sitzen oder bis zum Hals in der Kanalisation stecken und sich alles Neue injizieren, was die Pharmaindustrie produziert. Das Saubermachen wäre viel effektiver.

Kinder vor den häufigeren Gefahren schützen

Deshalb gilt auch hier: Weniger ist mehr! Weniger und besser sortierte Impfstoffe und mehr Prävention durch Hygiene, Aufklärung und einen gesunden Lebensstil. Der Rest ist die Aufgabe des Immunsystems. Es hat keinen Sinn, uns gegen sehr seltene Krankheiten mit minimaler Sterblichkeit zu «immunisieren», aber es ergibt Sinn, die Kinder besser zu beaufsichtigen und sie vor echten Gefahren zu schützen. Nachlässigkeit und Unwissenheit der Erwachsenen einerseits und Armut und Ungleichheit andererseits gehören zu den Hauptursachen für schwere Erkrankungen oder Todesfälle, und diese müssen wir bekämpfen. Leider (oder zum Glück?!) gibt es keine Impfstoffe dagegen! 


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Weiterführende Informationen

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Warum «Vorsorge-Steffi» vehement gegen die BVG-Reform ist

«Vorsorge-Steffi» will insbesondere Frauen motivieren, sich um ihre Finanzen im Alter zu kümmern. (Bild: ida)

In einer Woche stimmt die Schweiz über die umstrittene BVG-Reform ab. Befürworter sprechen von notwendiger Anpassung, Kritikerinnen warnen vor Rentenkürzungen. Die Zugerin Stephanie Köllinger erklärt, warum sie die 2. Säule gar abschaffen möchte.

Am 22. September stimmt die Schweiz über die BVG-Reform ab. Also eine Änderung des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG). Die Vorlage ist so kompliziert wie der Name des Gesetzes selbst. Sogar Politikerwissenschaftlerinnen können nicht wirklich sagen, wer die Gewinner und wer die Verliererinnen sind. Die Zugerin Stephanie Köllinger, die in den sozialen Medien als «Vorsorge-Steffi» bekannt ist, bringt Licht ins Dunkel.

zentralplus: Wer die Abstimmungsunterlagen zur BVG-Reform liest, dem brummt schnell der Kopf. Warum ist sie nötig?

Stephanie Köllinger: Ob es diese braucht, ist eine Frage der Perspektive. Wir werden immer älter und beziehen für eine längere Zeit eine Rente. Es kommt aktuell häufig vor, dass Seniorinnen in Form einer Rente mehr Geld aus der Pensionskasse beziehen, als sie ursprünglich einbezahlt haben. Daher findet bei vielen Pensionskassen eine nicht vorhergesehene Quersubventionierung von Jung zu Alt statt. Der Kernpunkt der Reform ist daher die Senkung des Umwandlungssatzes, was zu tieferen Renten führt. Je nach Situation bedeutet dies, dass man mehrere Tausend Franken weniger Rente pro Jahr bekommt.

zentralplus: Der Bund hat dafür Ausgleichsmassnahmen erarbeitet, unter anderem auch die Rentenzuschläge.

Köllinger: Jedoch würden unglaublich viele Personen einen Rentenzuschlag erhalten, die gar nicht von einer Rentenkürzung betroffen wären. Das ist aus meiner Sicht ein grosses No-Go dieser BVG-Reform. Pensionskassen sagen, sie müssten sparen – würden dann jedoch mehrere Milliarden Franken in Form von Rentenzuschlägen über Jahrzehnte hinweg verschenken. Je nach Pensionskasse kann es sein, dass Erwerbstätige diese sinnlosen Milliarden mitfinanzieren müssen.

Darum gehts bei der BVG-Reform

Wichtig vorab zu wissen: Es geht nur um den obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge. Bei der BVG-Reform stehen fünf Punkte an:

  • Die Senkung des Umwandlungssatzes: Dieser bestimmt, wie viel jemand monatlich von seiner angesparten Rente erhält. Er soll von 6,8 auf 6 Prozent sinken. Auf 100’000 Franken Kapital gäbe es somit nur noch 6000 statt wie bisher 6800 Franken Rente pro Jahr. Dies ist die einschneidendste Massnahme, denn sie hätte Rentenkürzungen zur Folge.
  • Die Senkung der Eintrittsschwelle: Das führt dazu, dass mehr Personen in der Pensionskasse versichert sind. Heute liegt die Eintrittsschwelle bei 22’050 Franken, jetzt soll sie auf 19’845 Franken gesenkt werden. So wären Teilzeitarbeiter schneller in der Pensionskasse versichert.
  • Die Senkung des Koordinationsabzugs: Bis anhin wurde vom Bruttolohn der Koordinationsabzug abgezogen, etwas mehr als 25’000 Franken. Anhand des verbleibenden Betrags wurde der Beitrag in die Pensionskasse berechnet. Dieser fixe Abzug würde mit der BVG-Reform auf 20 Prozent des Bruttolohns reduziert werden. Das bedeutet, dass wir alle mehr in den obligatorischen Teil der Pensionskasse einzahlen würden. Diese Regel gilt für Löhne bis zum aktuellen BVG-Maximallohn von 88’200 Franken. Lohnanteile über diesem Betrag sind gar nicht im BVG versichert. 
  • Die Anpassung des Beitragssatzes: Dies führt dazu, dass ältere Arbeitnehmende nicht mehr so massiv teurer sind als jüngere. Heute wird ab 25 Jahren in der Pensionskasse gespart, der Beitragssatz wird alle zehn Jahre erhöht. Arbeitnehmer und -geber zahlen mit zunehmendem Alter also mehr in die Pensionskasse ein. Eine junge Person zwischen 25 und 34 Jahren zahlt aktuell 7 Prozent ein, eine Person zwischen 55 und 65 Jahren zahlt 18 Prozent ein. Da der Arbeitgeber die Hälfte übernimmt, haben Ältere schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt. Künftig soll es nur noch zwei Beitragssätze geben.
  • Lebenslange Rentenzuschläge für Personen, die in den nächsten 15 Jahren nach Inkrafttreten der BVG-Reform pensioniert werden und weniger als 441’000 Franken in ihrer Pensionskasse angespart haben.

zentralplus: Wer würde denn von der BVG-Reform profitieren?

Köllinger: Es ist schwer zu sagen, wer von der Reform wirklich profitieren und wer verlieren würde. Nicht einmal die Pensionskassen können Auskunft darüber geben, wie sich die individuelle Situation von Versicherten bei einem Ja verändern würde. Und sobald man die Arbeitsstelle wechselt, steht man wieder vor einer vollkommen anderen Ausgangslage. Aus meiner Sicht profitiert die Finanzbranche, denn sie können noch mehr Gelder verwalten, und die Verlierer sind zu einem Grossteil die Versicherten, denn sie bezahlen mehr Geld ein und erhalten weniger zurück.

zentralplus: Dann sehen auch Sie die BVG-Reform als «Bschiss» an?

Köllinger: Ja. Mittlerweile ist es bei mir ein deutliches Nein – doch es dauerte bis zu dieser Meinung. Zu Beginn dachte auch ich: Hey, durch die BVG-Reform wären mehr Leute in der Pensionskasse versichert, gerade Teilzeitarbeitende und somit Frauen. Erst als ich mich vertieft mit der Vorlage auseinandergesetzt habe, habe ich realisiert, dass ich mit vielem nicht einverstanden bin.

Das sagen die Befürworter

Bundesrat und Parlament sind für die Reform, damit die künftigen Renten der obligatorischen beruflichen Vorsorge «ausreichend und langfristig» finanziert seien. Durch die Reform würde die Altersvorsorge von Personen mit tiefen Einkommen verbessert – viele davon Frauen. Dank der Reform würden viele von ihnen eine höhere Rente aus der 2. Säule erhalten. Andere erhalten überhaupt erstmals Zugang zu einer Pensionskasse. Pensionskassen, die nur das Minimum bieten, bekämen eine «solidere finanzielle Basis».

FDP, GLP, Mitte und SVP haben die Ja-Parolen beschlossen, Grüne und SP sind dagegen.

zentralplus: Wie kam es zum Kurswechsel?

Köllinger: Die Befürworter der BVG-Reform sagen, durch die BVG-Reform sind mehr Leute versichert. Ich gehe einen Schritt zurück und frage mich: Ist das überhaupt gut, wenn man in der Pensionskasse versichert ist? Und was bedeutet dies?

zentralplus: Die 2. Säule hat zusammen mit der 1. Säule den Hauptzweck, Seniorinnen im Ruhestand ein angemessenes Einkommen zu sichern. Warum sollte es schlecht sein, in der Pensionskasse versichert zu sein?

«Wir brauchen keine Pensionskasse, die für uns Geld anlegt – das können wir selbst machen.»


Köllinger: Der einzige Vorteil ist die Tatsache, dass ein Arbeitgeber auch noch Beiträge einzahlt. Doch das Geld verliert laufend an Wert. Zum einen wegen der Inflation. Pro Jahr wird das Leben in der Schweiz durchschnittlich zwei Prozent teurer. Dadurch verliert das Geld in der Pensionskasse sowieso schon an Wert, weil es zu tief verzinst wird. Der Mindestzinssatz für das Obligatorium beträgt 1,25 Prozent. Die Inflation wie gesagt rund 2 Prozent. Das Geld verliert also jedes Jahr an Wert – und das über 40 Jahre hinweg. Nun sollen auch noch die Renten gekürzt werden. Das sind traurige Zukunftsaussichten. Ich stelle das ganze System infrage.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Köllinger: Wir brauchen keine Pensionskasse, die für uns Geld anlegt – das können wir selbst machen. Denn Pensionskassen machen nämlich genau das: Sie nehmen unser Geld und legen es an der Börse an. Wir bekommen von Gesetzes wegen nur einen kleinen Teil in Form eines Mindestzinses von 1,25 Prozent zurück, obwohl die Erträge an der Börse viel höher sind. In der Schweiz gibt es 1400 Pensionskassen. Diese müssen Löhne und Provisionen bezahlen, müssen für Büroräume, Vermögensverwaltungskosten und Marketing aufkommen. Dies zu unterhalten, ist extrem teuer. Steht eine Versicherung hinter der Pensionskasse, dürfen sie zehn Prozent unserer Erträge behalten. Die dürfen uns legal in die Taschen langen und sich bedienen. Und niemand checkt das, weil sich die Pensionskassen hinter einem komplizierten Gesetzeskonstrukt mit Fachwörtern wie Koordinationsabzug, Umwandlungssatz usw. verstecken.

Arbeitete fünf Jahre lang als Sozialarbeiterin und Fachperson für Altersfragen bei Pro Senectute: Stephanie Köllinger. (Bild: ida)

zentralplus: Welche Lösung würden Sie stattdessen begrüssen?

Köllinger: Ein alternatives System wäre ein 2- anstelle eines 3-Säulen-Systems, bei dem man die Pensionskasse streicht. Also ein System, dass aus AHV und einer Art Säule 3a besteht. Bei letzterer müsste es einen Sparzwang geben. Die Bevölkerung dürfte aber auch freiwillig mehr einbezahlen, und auch Arbeitgeber müssten sich beteiligen. Mir würde eine Lösung wie in Norwegen vorschweben: Norwegen gründete 2006 einen staatlichen Pensionsfonds, mit dem das Land weltweit anlegt. Dieser wirft Rekordgewinne ab. Der Bund könnte einen solchen staatlichen Pensionsfonds bereitstellen – einer, der tiefe Gebühren hat, transparent ist und die Rendite zu 100 Prozent an die Versicherten zurückgibt.

zentralplus: Die 2. Säule abschaffen – das wäre ein extrem radikaler Schritt.

Köllinger: Ja, ich bin selbst auch ein wenig erschrocken. Manchmal muss man radikale Ideen haben, die vielleicht ein wenig anecken. Aber solche Ideen regen auch eine Diskussion an. So viele Leute vertrauen dem Staat blind. Gerade junge Menschen denken: Das Geld reicht dann schon im Alter, der Staat schaut dann schon.

zentralplus: Sagten Sie nicht eben, Sie wünschen sich einen staatlichen Pensionsfonds?

Köllinger: Was ich mir wünsche, ist finanzielle Bildung an den Schulen. Aber weil wir das bis heute nicht haben und nicht jeder weiss, wie Investieren geht – obwohl das heute so einfach ist wie noch nie –, fände ich die Idee eines Pensionsfonds nicht schlecht. Das ist aus meiner Sicht immer noch besser als 1400 Pensionskassen, die kaum beaufsichtigt werden und hohe Kosten generieren. Es sollte im Interesse des Bundes liegen, Altersarmut effizient zu verhindern, denn Altersarmut generiert hohe Folgekosten in Form von Ergänzungsleistungen. Mit den aktuellen Aussichten von sinkenden Renten werden die Kosten für Ergänzungsleistungen in Zukunft explodieren, und da diese durch Steuern finanziert werden, dürften diese wiederum steigen.

«Bei meiner Arbeit bei Pro Senectute wurde ich täglich mit dem Thema Altersarmut konfrontiert.»


zentralplus: Sie arbeiteten als Sozialarbeiterin und Fachperson für Altersfragen bei Pro Senectute. Wie real ist die Sorge, in der reichen Schweiz zu wenig Geld im Alter zu haben?

Köllinger: Leider sehr real. Bei meiner Arbeit wurde ich täglich mit dem Thema Altersarmut konfrontiert. Gemäss Bundesamt für Statistik liegt die durchschnittliche Altersrente aus AHV und Pensionskasse für eine Frau bei 3030 Franken pro Monat. Bei Männern bei rund 4400 Franken. Wer kann sich im Alter schon allein mit 3000 Franken finanzieren? Durch die Klienten – viele Frauen – habe ich gesehen, was es bedeutet, im Alter arm zu sein. Viele Rentnerinnen sagten: «Hätte ich doch nur gewusst, dass ich fürs Alter vorsorgen muss.»

zentralplus: Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Köllinger: Mitleid, aber auch viel Wut. Wut über unser System und dass so wenige Menschen Wissen über Finanzen besitzen. In der Schule lernen wir nichts über Geld, das Ausfüllen von Steuererklärungen, wo wir Prämienverbilligungen beantragen können oder wie wir Geld investieren. Aber es motivierte mich auch.

zentralplus: Wozu?

Köllinger: Mich um meine eigene Altersvorsorge zu kümmern und dieses Wissen zu teilen. Ich begann zu recherchieren und sprach in meinem Freundeskreis darüber. Bei vielen Jungen ist Altersvorsorge kein Thema. Ich hätte am liebsten alle wachgerüttelt: Kümmere dich um deine Vorsorge, sonst landet auch ihr in der Altersarmut! Es ist unglaublich wichtig, selbst vorzusorgen – denn wenn man pensioniert ist, hat man keine Hebel mehr. Man kann sich nicht einfach weiterbilden oder das Pensum erhöhen. Du hast so viel Geld, wie du vorbereitet hast. Das ist tragisch: Wer zu wenig hat, muss 20 bis 30 Jahre lang mit Geldsorgen leben. Das ist sehr frustrierend.

zentralplus: Was raten Sie?

Köllinger: Es gibt viele verschiedene Hebel. Das Wichtigste ist, Geld zu investieren. Das ist die Strategie, um im Alter genügend Geld zu haben. Eine gute Möglichkeit ist, das Geld breit diversifiziert in sogenannte ETFs mit tiefen Gebühren anzulegen. ETFs (Exchange Traded Funds) sind Fonds, die an der Börse gehandelt werden. Damit lässt sich einfach und günstig in ganze Märkte und nicht nur in einzelne Unternehmen investieren, das minimiert die Risiken. Die Rendite gehört dadurch zu 100 Prozent dir selbst, und du hast keine Pensionskasse, die einen Grossteil davon abschöpft. Die Rendite auf dem weltweiten Aktienmarkt lag in den vergangenen 100 Jahren bei circa 7 Prozent. Zur Erinnerung: Bei den Pensionskassen erhalten wir 1,25 Prozent – manchmal etwas mehr, aber an 7 Prozent kommen wir nicht ran. ETFs sind aus meiner Sicht ideal, um Geld effizient langfristig zu vermehren.

Verwendete Quellen

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Menzingen: Mehr Polizei bei Asylheimen gefordert

Einsatzkräfte der Zuger Polizei oder der Securitas sollen in Menzingen für Ruhe sorgen. (Bild: Zuger Polizei)

Die FDP-Fraktion von Menzingen will mehr Sicherheit bei Asylunterkünften – und hat konkrete Forderungen an den Regierungsrat.

Der Kanton Zug will in Menzingen eine temporäre Asylunterkunft einrichten – schon wieder. Die Regierung hat vor Kurzem mitgeteilt, dass er im ehemaligen Pflegeheim Maria vom Berg der Schwestern vom Heiligen Kreuz 100 neue Unterkunftsplätze für Asylsuchende plane. In der Bevölkerung weckt dieses Vorhaben gemischte Gefühle (zentraplus berichtete).

Wie sich zeigt, gibt das Thema auch bei der FDP-Fraktion zu reden. Vor allem hinsichtlich der Sicherheit. FDP-Kantonsrat Tom Magnusson hat names der Fraktion ein Postulat eingereicht, in der er vom Regierungsrat in der Anfangsphase von neu eröffneten Asylunterkünften mehr Sicherheitskräfte verlangt, damit sich die Bewohner sicherer fühlen.

Wirkung dank Uniform

Denn gerade in der Startphase sei das aufnehmende Quartier sensibel, schreibt Magnusson. Weil «die Menschen, welche in der Asylunterkunft platziert werden, noch nicht alle Wege, lokalen Regeln und Besonderheiten» kennen. Es sei daher angezeigt, mit einer «deutlichen Präsenz von Sicherheitspersonal allen Beteiligten aufzuzeigen, dass ein geordnetes Zusammenleben» eingefordert werde. Das Sicherheitspersonal soll uniformiert und ausgerüstet sein, um dieser «Show of Force» Nachdruck zu verleihen.

Einzusetzen sei dieses zusätzliche Sicherheitspersonal vor allem bei «neuen oder stark vergrösserte Asylunterkünften» und während der Anfangsphase der ersten 12 bis 18 Monate. Diese Sicherheitskräfte – gemeint seien dabei «keine Gelbwesten», sondern Personen in Uniform wie etwa Einsatzkräfte der Zuger Polizei oder von einer privaten Sicherheitsfirma wie der Securitas – sollen im Umfeld der Unterkunft stationiert sein. Die entstehenden Kosten soll der Kanton vollumfänglich übernehmen. Erst nach Ablauf dieser Anfangsphase solle sich die Gemeinde anteilsmässig daran beteiligen.

Weitere Massnahmen sind gefordert

Die FDP fordert im Postulat ausserdem, dass der Regierungsrat weitere Massnahmen prüft, um die Sicherheit rund um Asylunterkünfte zu erhöhen. Neben dem Einsatz von zusätzlichem Sicherheitspersonal werden weitere Vorschläge gemacht, wie etwa die Verlegung von Personen in andere Unterkünfte, die Streichung finanzieller Unterstützung oder die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit.

Sollte es für einzelne Massnahmen gesetzliche Anpassungen benötigen, soll der Regierungsrat eine entsprechende Vorlage im Kantonsrat einbringen. Zudem wird betont, dass der Austausch zwischen den beteiligten Stellen wie der Sicherheitsdirektion, der Zuger Polizei und privaten Organisationen gestärkt werden soll, um Verstösse schnell zu identifizieren und entsprechende Massnahmen zu ergreifen.

Verwendete Quellen

  • Postulat 2024-9 der FDP-Fraktion

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Eine Klimakonferenz im Zwangsfrieden

Amalia van Gent /  Aserbaidschans Herrscher inszeniert sich vor der COP-29 als Friedensstifter. Doch er hält den Konflikt mit Armenien am Köcheln.

Die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen (COP-29) in diesem Jahr findet kommenden November in Aserbaidschan statt –paradoxerweise wie die COP 28 in Dubai also in einem Land, dessen Haupteinnahmenquelle die Förderung fossiler Energie ist.

Aserbaidschans Elite sieht darin keinen Widerspruch, sondern nur Grund für Begeisterung, für die kein Superlativ zu viel und kein Lob zu überschwänglich zu sein scheint: Aserbaidschan habe in den letzten Jahren den Internationalen Astronautenkongress, die ersten Olympischen Spiele in Europa, mehrere internationale Sportwettbewerbe und den Eurovision Song Contest beheimatet, kommentiert etwa Ayaz Museyibov vom regierungsnahen «Zentrum für Wirtschaftsreformen und Kommunikation». Damit habe das Land unter Beweis gestellt, dass es sich als Veranstaltungsort von Weltrang eigne.

«In Bezug auf Umfang und Bedeutung stellt die nächste COP-29-Klimakonferenz jedoch alle früheren Zusammenkünfte in den Schatten». Denn in Baku würden die Weichen gegen den globalen Klimawandel gestellt werden, so Ayaz Museyibov.

Politische Würdigung

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew misst der Dringlichkeit des Klimawandels weniger Bedeutung bei. Er strebt auch nicht eine Reduktion der fossilen Energie an. Ganz im Gegenteil: Er lässt mehr Erdgas aus dem Kaspischen Meer vor Bakus Ufern fördern oder aus Zentralasien und Russland weiterverkaufen. Denn es ist sein erklärtes Ziel, in absehbarer Zeit Aserbaidschan zu einer Energie-Drehscheibe zwischen Zentralasien und Europa zu verwandeln.

Von der COP-29 erhofft sich Alijew in erster Linie Gewinne politischer Natur. Seit Beginn der 1990er Jahre wird Aserbaidschan eisern von seiner Familie regiert. Wahlen sind wie in jeder Autokratie voraussehbar: Vergangenen Februar wurde Ilham Alijew etwa mit über 92 Prozent der Stimmen für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt. Justiz, Parteien und Presse unterstehen seiner strikten Kontrolle; Opposition sowie die Zivilgesellschaft werden unterdrückt. Der Europarat prangert das Regime in Baku der ungezügelten Korruption an. Laut Forschern der Menschenrechtsorganisation Freedom House übertrifft Aserbaidschan jetzt Weissrussland als Europas repressivster Staat.

Dass die COP-29 dennoch in Baku stattfindet, dürfte Ilham Alijew als persönlichen Triumph empfinden. Nächsten November wird er als Gastgeber nämlich führende Politiker aus aller Welt auf Augenhöhe begrüssen und sein Land nicht als Paria, sondern als respektables Mitglied der Weltgemeinschaft präsentieren können.

COP-29 gegen Kriegsgefangene

Ausgerechnet Armenien ermöglichte die COP-29 in Baku: Am 7. Dezember 2023 willigte die armenische Regierung ein, ihr Veto gegen Aserbaidschan als Gastgeber der UN-Klimakonferenz fallen zu lassen. Als Gegenleistung wurden 32 armenische Soldaten, die seit 2020 in Aserbaidschan gefangen gehalten wurden, freigelassen. Den Deal bezeichnete Ilham Alijew umgehend als «Geste seines guten Willens» und nannte die bevorstehende COP-29 eine «COP des Friedens».

Der Deal offenbarte vor allem die Ohnmacht Armeniens: Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien, das am 9. November 2020 in Moskau unterzeichnet wurde, sah bereits die Freilassung aller Kriegsgefangenen vor. Auch die Genfer Konvention, die nach 1864 das Kriegsrecht regelt, gebietet die Freilassung aller Geiseln und Kriegsgefangenen nach dem Ende eines bewaffneten Konflikts.

Das Regime in Baku glaubt allerdings, wie andere Kriegsherren unserer Zeit auch, sich über jedes internationale Recht hinwegsetzen zu können. So kann heute wohl niemand genau sagen, wie viele armenische Kriegsgefangene in Aserbaidschans Gefängnissen noch in Haft sind. Laut Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) sollen 303 armenische Familien ihre Söhne, Töchter und Väter vermissen. Wie viele von ihnen noch wo leben, bleibt unklar.

Die politische Führung Bergkarabachs eingesperrt

Unumstritten ist, dass Armenien seit letztem Oktober um das Schicksal von 23 weiteren Gefangenen bangen muss. Darunter befinden sich acht hochrangige und demokratisch gewählte Politiker, wie die ehemaligen Präsidenten Arkadi Ghukasyan, Bako Sahakyan und Arayik Harutyunyan; der Sprecher des Nationalen Parlaments David Ishkhanyan, oder der ehemalige Aussenminister David Babayan.

Sie wurden aus dem Flüchtlingstreck aus Bergkarabach herausgeholt in dem Moment, als das offizielle Baku öffentlich deklarierte, alle Armenier gehen zu lassen, die gehen wollten. Seither sind sie in Baku eingesperrt und werden als «Terroristen» und als Mitglieder einer illegalen Miliz vor Gericht in Ketten vorgeführt. Als Ruben Vardanyan, ein armenisch-russischer Milliardär, aus Protest gegen ihre Haftbedingungen vor kurzem einen Hungerstreik begann, soll er laut seinem Sohn gefoltert worden sein.

In der strafrechtlichen Verfolgung der 23 möchte das Regime in Baku offensichtlich ein Exempel gegen etwaige Dissidenten setzen. Es möchte ferner an Jerewan und den entsprechenden internationalen Institutionen die Botschaft vermitteln, dass Aserbaidschan den Bergkarabach-Konflikt als reine innenpolitische Angelegenheit betrachtet, in der Dritte nicht geduldet würden.

Während des Kriegs 2023 sprach Baku auch nie von einem «Krieg», sondern lediglich von einer «Operation» gegen eine Sezessionsbewegung. Das Beispiel des russischen Präsidenten Putin in der Ukraine hat im Südkaukasus augenscheinlich treue Nachahmer gefunden.

Mehr Geld für die Rüstung – weniger Geld für die bewährte Aussenpolitik

Die enthemmte Gewalt auf den Schlachtfeldern der Ukraine und Gaza, beide inzwischen Kriege ohne Aussichten auf ein baldiges Ende, haben die Politiker in Europa überfordert und überfordern auch die Politiker in Bern. Die Forderung nach einem Armeeausbau gewinnt in Bern wie in Brüssel stark an Zugkraft. Dies setzt das Budget der Regierungen unter Druck. Der Bundesrat fordert etwa eine Erhöhung des Militärbudgets von 21,7 auf 25,8 Milliarden, der Ständerat gar auf 29,8 Milliarden – woher soll das Geld kommen?

Kürzungen bei der humanitären Hilfe (in Brüssel) und bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in Bern werden bereits geplant. Die bewährte globale Aussenpolitik der Schweiz zugunsten einer militärischen Sicherheitspolitik aufzugeben, käme einem Eigentor des Parlaments gleich, sagt Werner Thut, bis vergangenen Sommer stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer EZA-Programms im Südkaukasus, im Gespräch. Zahlreiche, konfliktpräventive Projekte müssten in Armenien, Georgien, Moldawien und im Balkan gestrichen werden – mit fatalen Konsequenzen für die EZA generell und absehbar für den Frieden.

Immer wieder neue Forderungen von Seiten Aserbaidschans

Der Südkaukasus ist auch nach zwei vernichtenden Kriegen von einem wirklichen Frieden weit entfernt. Aserbaidschan stellt als Siegerpartei dem Besiegten immer wieder neue Forderungen als Vorbedingung für ein Friedensabkommen in Bezug auf die Grenzziehung, auf den Wortlaut der armenischen Verfassung oder auf den sogenannten Sangezur-Korridor. Es handelt sich im Grunde um Zwangsfrieden – um einen «Frieden» also, wie ihn der Westen in der Ukraine mit jedem Mittel verhindern will.

Ilham Alijew möchte die bevorstehende COP 29 als ein «Gipfeltreffen des Friedens» verstanden wissen. Gibt es überhaupt Aussichten für eine friedlichere Zeit im Südkaukasus?

Bringt die 23 Geiseln zurück, fordern namhafte Persönlichkeiten aus Armenien. Wie ein Frieden im Konflikt des Nahen Ostens ohne eine Freilassung israelischer Geisel undenkbar ist, so sei jede Normalisierung der Beziehungen zwischen Jerewan und Baku «ohne die unverzügliche, bedingungslose Freilassung der 23 Geiseln aus Bergkarabach unvorstellbar», schreibt etwa Hrair Balian, der seit 35 Jahren in Führungspositionen bei den Vereinten Nationen und der OSZE zuständig für Konfliktlösungen im Nahen Osten, in Afrika, auf dem Balkan, in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien tätig war.

Ähnlich wie Balian appelliert die Mehrheit der armenischen Politiker, Intellektuellen und Wissenschaftler an die Weltgemeinschaft, eine Freilassung der 23 noch vor der COP-29 zu erwirken. Weil Bakus Elite so grossen Wert auf die problemlose Durchführung der COP-29 lege, könnte das UN-Gipfeltreffen eine Chance sein.  

Mit je einer Botschaft in den drei Ländern vertreten und seit mehr als 20 Jahren mit einem regionalen Kooperationsprogramm engagiert, ist die Schweiz im Südkaukasus sehr gut vernetzt und wird als glaubwürdiger Akteur ohne geopolitische Agenda wahrgenommen. Bern könnte daher mit einer proaktiven Politik und konkreten Vorschlägen versuchen, auch diesen gefährlichen Konflikt zu deeskalieren, statt sich ausschliesslich auf die Ukraine zu konzentrieren. Einen neuen Krieg im Südkaukasus zu verhindern, würde schliesslich im ureigenen Interesse der Weltgemeinschaft und auch der Schweiz sein. Denn nach der Sprengung der Nordstream-Pipelines läuft die Energieversorgung Europas und der Schweiz über den Südkaukasus.

Eine vorprogrammierte Tragödie

Armenien und Aserbaidschan haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei grosse Kriege um die Region Berg-Karabach gefochten. Im ersten Krieg Anfang der 1990er Jahre errangen die Armenier einen entscheidenden Sieg. Sie beriefen sich auf das Recht auf Selbstbestimmung, das das Völkerrecht garantiert. Noch wähnten sie sich im Recht: Armenier machten historisch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Bergkarabachs aus. Baku behandelte sie zudem stiefmütterlich. Anfang der 1990er Jahre gründeten sie in dieser isolierten Region des Südkaukasus ihre Republik «Artsakh» und hofften bis zuletzt, ähnlich wie Kosovo, auf eine Anerkennung. Artsakh wurde von keinem Staat anerkannt. Seine 120’000 Einwohnerinnen und Einwohner konnten sich aber demokratisch selbst verwalten.

Im Juli 2020 schlug Aserbaidschan zurück. Baku berief sich dabei auf sein Recht auf territoriale Souveränität, was wie das Recht auf Selbstbestimmung ebenso vom internationalen Völkerrecht garantiert wird. Bergkarabach war nämlich von Josef Stalin Aserbaidschan zugesprochen worden. Aserbaidschan setzte gegen seinen Gegner massiv israelische und türkische Killerdrohnen ein. Diese neue Kriegsführung veränderte die Machtverhältnisse fundamental: Armenien erlitt eine vernichtende Niederlage, während Aserbaidschan nach und nach einen Grossteil seiner in den 1990er Jahren verlorenen Territorien zurückerobern konnte. Vom ehemaligen Artsakh blieb ein minimales Territorium erhalten, auf dem die Zivilbevölkerung ab Anfang 2023 von aserbaidschanischen Truppen belagert und ungeachtet des Urteils des Internationalen Gerichtshofs oder der wiederholten Appelle von Regierungen und internationalen Menschenrechtsorganisationen monatelang ausgehungert wurde. Eine Blitzoperation der Aserbaidschaner im September 2023 gipfelte schliesslich in der Vertreibung faktisch der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihrem historischen Siedlungsgebiet.

Aserbaidschans Regime ist davon überzeugt, den Konflikt von Bergkarabach mit der Gewalt der Waffen ein für alle Mal gelöst zu haben. Da könnte es sich allerdings irren. Denn auf dem Parkett der internationalen Diplomatie wird bereits die Frage nach einer Rückkehr der Karabach-Armenier in ihre Heimat behandelt.


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Nestlé und Co. heilen Krankheiten, die sie selbst verursachen

Philippe Stalder /  Nahrungsmultis machen aus Fettleibigkeit ein Geschäftsmodell – und umgehen dabei Gesetze zu medizinischen Produktangaben.

Sie schiebt den roten Einkaufswagen durch die Gänge eines US-amerikanischen Lebensmittelhändlers und wirft eine Packung Kaffee, einen Behälter mit Eiscreme sowie eine Schachtel Tiefkühlpizza hinein. 

«Was haben diese drei Produkte gemeinsam?», fragt die Einkaufs-Influencerin Joanna Mitru ihre über 500’000 Follower rhetorisch auf Instagram.

«Richtig, sie alle können ernsthafte Beschwerden verursachen.»

Als Nächstes präsentiert Mitru drei Nahrungsergänzungsmittel der Marke Wonderbelly aus einem anderen Regal – in den Geschmacksrichtungen Erdbeermilkshake, Wassermelone-Minze und fruchtiges Müsli. Angeblich sollen sie Sodbrennen und sauren Reflux lindern. 

Nun kann die Influencerin ihr Cookies-and-Cream-Eis nach der Quattro-formaggi-Tiefkühlpizza und einer Tasse Instant-Kaffee also bedenkenlos schlemmen.

Fertiggerichte für Kinder

Hinter dem Gegenmittel für Magenbeschwerden steht der Investmentfonds AF Ventures, der vom französischen Lebensmittelriesen Danone mitbegründet wurde. AF Ventures investiert gleichzeitig auch in Chips, Brezel und Fertiggerichte für Kinder. 

Gemäss ihrer Website hat Danone es sich zur Aufgabe gemacht, «die Gesundheit so vieler Menschen wie möglich durch Ernährung zu verbessern». Doch der Lebensmittelhersteller stellt auch gesüsste Joghurts für Kinder her, die nach Angaben des Diabetes-Fonds zwei Würfelzucker pro Portion enthalten. Ebenfalls Teil des Danone-Sortiments: Erdbeerjoghurt mit nur 2,6 Prozent Erdbeeranteil, dafür gespickt mit bunten, zuckerhaltigen Schokokugeln.

Der französische Lebensmittelkonzern steht mit diesem Widerspruch nicht alleine in der Nahrungsmittellandschaft. Wie das niederländische Magazin «The Investigative Desk» herausfand, investieren fünf der zehn grössten europäischen Hersteller industriell stark verarbeiteter Lebensmittel ebenfalls in Produkte, die angeblich Krankheiten bekämpfen, die durch eine ungesunde Ernährung verursacht werden können. Und profitieren damit von der vermeintlichen Lösung eines Problems, das sie selbst mitverursacht haben.

So bieten Nestlé, Mars, Danone, Unilever und Kraft-Heinz Produkte aus den Sparten Gewichtsreduzierung und medizinische Ernährung für Diabetiker sowie Behandlungen für Verdauungsprobleme an.

Ausserdem bieten sieben der zehn grössten Nahrungsmultis – Nestlé, Mars, Danone, Unilever, Pepsi-Co, General Mills und Kella-Nova – gar Nahrungsergänzungsmittel mit gesundheitsbezogenen Versprechen an. Etwa zur Vorbeugung von Alzheimer, Asthma und Krebs.

Überzuckerte und stark industriell verarbeitete Nahrungsmittel sind einer der Hauptgründe für Adipositas. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bereits heute knapp 60 Prozent der Europäer entweder übergewichtig oder sogar adipös.

Übergewichtige Menschen haben ein höheres Risiko für chronische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, bestimmte Krebsarten und Schlafapnoe. Übergewicht und Adipositas gehören nach Angaben der WHO zu den häufigsten Todesursachen in Europa mit schätzungsweise 1,2 Millionen Todesfällen pro Jahr, was etwa 13 Prozent der Gesamtsterblichkeit entspricht.

Abnehmen ohne Änderungen am Lebensstil

Seit der Jahrhundertwende und mit der Ausbreitung von Adipositas haben immer mehr Lebensmittelhersteller in den Gesundheitssektor investiert. 

Wie «The Investigative Desk» herausfand, investierten die grossen Nahrungsmultis in fast 100 Unternehmen aus dem Gesundheitssektor. Die meisten dieser Investitionen wurden während der letzten zehn Jahre getätigt.

Der grösste Investor in diese neue Strategie ist Nestlé mit rund 50 Investitionen im Gesamtwert von 2,8 Milliarden Euro. Unilever hat indes in mindestens 24 Unternehmen des so genannten «Health & Wellbeing»-Sektors investiert und verfügt über ein Portfolio im Wert von mehr als einer Milliarde Euro.

Nestlé, unter anderem ein Hersteller von Schokolade und Tiefkühlpizza, investiert in Abnehmprogramme und Mahlzeiten-Ersatzprodukte – etwa in die deutsche Schlankheitsmarke Bodymed, die Nestlé 2020 übernommen hatte.

Unilever, das Produkte wie Mayonnaise, geräucherte Würstchen und Eiscreme herstellt, ist über seine Investmentabteilung Unilever-Ventures Miteigentümer des Fettverbrennungs-Zusatzstoffherstellers Lemme. 

Das von US-Reality-Star Kourtney Kardashian gegründete Unternehmen vertreibt Pillen, die Heisshungerattacken unterdrücken und Cellulitis bekämpfen sollen. Sie sind in attraktiv gestalteten Gläsern verpackt und kosten etwa 35 Euro das Glas.

Indem sie vermeintlich schnelle Lösungen anbieten, gaukeln die Hersteller den Verbrauchern vor, dass sie einfach eine Pille oder ein Pulver kaufen können, um Gewicht zu verlieren, anstatt die notwendigen Änderungen am Lebensstil vorzunehmen.

Fragwürdige Etikettierung

Die Investitionen der Lebensmittelindustrie weisen Ähnlichkeiten mit den Strategien der Tabakhersteller auf. Die Tabakindustrie verdient ihr Geld nicht nur mit Zigaretten, sondern auch mit dem Verkauf von Medikamenten gegen Krankheiten, die durch das Rauchen verursacht oder verschlimmert werden. Wie etwa Asthma und Krebs.

In den Presseabteilungen der Nahrungsmultis sieht man das jedoch weniger problematisch: «Wir glauben, dass eine ausgewogene Ernährung, kombiniert mit regelmässiger Bewegung, der beste Ansatz für einen gesunden Lebensstil ist. Dazu passen auch Genussmittel», sagte Anya Pieroen, Leiterin der Abteilung Corporate Communications & Affairs bei Nestlé, gegenüber der Rechercheplattform Follow the Money

Eine Sprecherin von Danone antwortete gegenüber derselben Plattform: «Unsere Mission ist es, so vielen Menschen wie möglich Gesundheit durch Lebensmittel zu bringen. Seit Jahrzehnten entwickeln wir unser Angebot in Kategorien, die mit einer täglichen gesunden Ernährung zu tun haben.»

Das EU-Recht unterscheidet zwischen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Zwar gibt es in der EU Gremien zur Bewertung von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln, doch in der Praxis erweist sich die Trennlinie zwischen den beiden Bereichen als sehr dünn.

Auch für die Schweiz hält das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) fest: «Nahrungsergänzungsmittel befinden sich oft im Graubereich zwischen Lebensmitteln und Heilmitteln. Sie dürfen keine pharmakologische Wirkung entfalten. Sie dürfen auch nicht als Arzneimittel aufgemacht oder mit Hinweisen zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beworben werden. Für eine korrekte Zuordnung eines Produktes ist immer eine Gesamtbetrachtung erforderlich.»

Wenn ein Unternehmen beispielsweise behauptet, dass ein Produkt bei der Behandlung oder Vorbeugung von Diabetes hilft, sollte dies als medizinische Angabe betrachtet werden. 

Aber die Nestlé-Tochter Bodymed sagt über ihren Frühstücksshake: «Mit einem eiweissreichen Frühstück betrügen Sie Ihren Körper, weil Ihr Blutzucker- und Insulinspiegel kaum ansteigt.»

Der Durchschnittsverbraucher könnte bei einer solchen Angabe aber einen Zusammenhang mit Diabetes herstellen.

Zahl der Gesundheitsprodukte steigt rapide an

Gemäss der niederländischen Behörde für Lebensmittel- und Verbraucherproduktsicherheit (NVWA) steigt die Zahl angeblicher Gesundheitsprodukte, die insbesondere in sozialen Medien beworben werden, rapide an.

Nestlé hatte im Jahr 2023 einen Umsatz von rund 95 Milliarden Dollar, während der Umsatz von Danone fast 28 Milliarden Dollar betrug. Derweil werden die jährlichen Gesamtkosten der Fettleibigkeit bei Erwachsenen in der EU auf 70 Milliarden Euro geschätzt – einschliesslich der Kosten für das Gesundheitswesen und die verlorene Produktivität.


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PFAS: Viele Weiden und Ackerflächen sind belastet

Daniela Gschweng /  Das Fleischverbot in St. Gallen macht deutlich: Die Schweiz hat ein massives PFAS-Problem. Und das dürfte erst der Anfang sein.

Seit August gelten PFAS-Grenzwerte für einige besonders kritische Lebensmittel. Dass fünf Betriebe im Kanton St. Gallen ihr Fleisch deshalb nicht mehr verkaufen dürfen, war ein Schock. Die Quelle der giftigen Chemikalien: mit PFAS belasteter Boden, auf dem das Vieh graste und das Futter wuchs.

Die unbequeme Wahrheit: Es gibt praktisch keinen Boden in der Schweiz, der keine PFAS (per- und polyflourierte Alkylsubstanzen) enthält. Das zeigte eine Untersuchung der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im vergangenen Jahr. Welche PFAS und wie viel davon, ist unterschiedlich. Die Forschenden untersuchten in 146 Bodenproben auf 32 verschiedene PFAS.

Verbotene PFAS in sämtlichen Schweizer Bodenproben

ZHAW PFAS in CH 2023
Konzentration der in 146 Bodenproben von der ZHAW gemessenen PFAS und ihre räumliche Verteilung

Die verbotenen Chemikalien PFOS (Perfluoroctansulfonsäure) und PFOA (Perfluoroctansäure) fanden sich in allen Proben, ob alpin oder aus dem Mittelland.

Das ist nicht ganz überraschend, wenn man weiss, dass PFAS auch im Regen vorkommen (Infosperber berichtete) und dass etwa die Hälfte der PFAS, die bei Menschen gefunden werden, aus PFOS besteht, einer Chemikalie, die seit den 1960er-Jahren vom US-Unternehmen 3M produziert wird. Nicht alle, aber einige PFAS sind reproduktionstoxisch, leberschädigend und stören das Immunsystem.

Die Daten sind alles andere als umfassend

Mindestens im Verdacht auf grössere Verschmutzung stehen Gebiete, in denen sich Industriegelände und Mülldeponien befinden oder befunden haben oder Übungsplätze, auf denen Feuerlöschschäume verwendet wurden. Dazu kommen Äcker, die mit Klärschlamm gedüngt oder mit PFAS-haltigen Pestiziden behandelt wurden.

Viele potenzielle Verschmutzungsquellen sind noch nicht bekannt. Karten von Orten mit tatsächlichen Messungen oder mutmasslich hohen PFAS-Belastungen gibt es, zum Beispiel vom «Forever Pollution Project». Umfassend sind sie nicht.

Forever Polution_Le Monde_SRF Karte Europa Schweiz
Viele PFAS wurden bisher in den Regionen Zürich, Genf und Basel sowie im weiteren Verlauf des Rheins in Deutschland gemessen. Ob das alles ist, kann niemand sagen.

Immerhin wird mit Hochdruck getestet, seit auch in der Schweiz Grenzwerte für Fleisch, Fisch, Milch und Eier gelten. Im Kanton Bern lägen 20 untersuchte Standorte nach der Fachstelle Boden im «Schweizerischen Durchschnitt», schreibt beispielsweise die «Berner Zeitung».

Abwarten hilft nicht

Längst nicht alle PFAS werden auch gefunden, denn es gibt buchstäblich Tausende davon. Aktuelle Schätzungen gehen von etwa 10’000 bis 15’000 verschiedenen Einzelsubstanzen aus. Die Analytik sucht in der Regel nach höchstens drei Dutzend Chemikalien.

Die sehr schwer abbaubaren Chemikalien im Boden loszuwerden, ist schwer bis unmöglich. Einzig Verbrennen bei hohen Temperaturen kann PFAS zerstören. Alternative Verfahren sind zwar im Test- oder Pilotstadium, aber bisher nicht grossflächig einsetzbar. Wenn es sich um kleine Mengen handelt, könnte man Problemboden in einer Deponie lagern. Verunreinigtes Grundwasser lässt sich mit Aktivkohlefiltern behandeln. Auch das ist aufwendig und kostspielig.

Also das Risiko managen – irgendwie. Was dann passieren kann, kann man in den USA sehen. Oder im deutschen Rastatt.

Die «New York Times» (NYT) veröffentlichte Ende August eine Reportage über Bauern, deren Böden mit PFAS verschmutzt sind. Zum Verhängnis wurden ihnen meist «Biosolids». So nennen die US-Amerikaner getrockneten Klärschlamm aus Haushalts- und Industrieabwässern.

Das US-Umweltministerium EPA hatte Landwirte jahrzehntelang ermutigt, ihn als Dünger auszubringen, um Deponiemüll zu vermeiden.

In einigen Fällen enthielt der getrocknete Schlamm hohe Mengen PFAS, die in Boden und Grundwasser gelangten. Betroffen seien unter anderen die Bundesstaaten Texas, Maine, Michigan, New York und Tennessee, schreibt die Zeitung. Es geht um Existenzen, Klagen und viel Geld.

Michigan: Ein Hof wird zur No-Go-Area

Einer der ersten US-Staaten, die einen Hof wegen zu hoher PFAS-Werte schlossen, war Michigan. Jason Grostic, Landwirt in dritter Generation, verlor über Nacht eine gut laufende Rinderfarm und ein Direktvermarktungssystem im Aufbau.  Das Grundstück darf nie wieder zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt werden.

Grostic füttert und pflegt weiter 150 Kühe, die vom Staat beschlagnahmt wurden und nun unverkäuflich sind. Und er steht kurz vor dem Bankrott. Was sich verkaufen liess, hat er verkauft. Er prozessiert gegen einen Autoteile-Zulieferer, der den Klärschlamm verunreinigt hat.

Maine: Verbieten, Testen, Einschränken, Kompensieren

Der Staat Maine hat eine andere Herangehensweise gewählt und Klärschlamm zur Düngung auf Feldern 2022 verboten. Ausserdem wurde damit begonnen, Agrarland systematisch auf PFAS zu testen. Betroffene Landwirte erhielten staatliche Unterstützung. Etwa 1000 von 1100 Betrieben warten laut der NYT noch auf Einstufung.

In der Schweiz gilt seit 16 Jahre ein Klärschlammverbot, in der EU ist Klärschlammdünger mit Einschränkungen zulässig. Seit der Krieg in der Ukraine zu Engpässen bei synthetischem Dünger geführt hat, ist er sogar besonders beliebt. Ziel wäre eigentlich, ihn zu verbrennen und aus der Asche Phosphor zurückzugewinnen. Das würde auch das PFAS-Problem lösen.

Verbieten schafft andere Probleme. Das Dünger-Verbot in Maine habe dazu geführt, dass der fragwürdige Schlamm nun über die Staatsgrenzen gekarrt werde, weil die Deponien ihn nicht aufnehmen könnten. Das sagt Janine Burke-Wells, Geschäftsführerin der North East Biosolids & Residuals Association, welche die Hersteller von getrocknetem Klärschlamm vertritt, gegenüber der NYT.

Behörden sollten sich darauf konzentrieren, PFAS in Konsumgütern zu verbieten oder die Industrie zu verpflichten, ihr Abwasser zu reinigen, bevor es in die Kläranlagen geleitet werde, sagt sie. Die Behörden in Maine haben einen ähnlichen Standpunkt und wollen die zukünftige PFAS-Last in Zusammenarbeit mit der fertigenden Industrie senken.

Texas: Angst, über PFAS zu sprechen

In Texas sehen einige Landwirte und -wirtinnen PFAS aus Klärschlamm auf ihrem Land als Ursache für Tod und Krankheit des Viehs an. Die gemessenen PFAS-Konzentrationen in Oberflächenwassern dort übersteigen den Trinkwassergrenzwert um das 325-fache.

Die betroffenen Landwirte verkaufen ihr Vieh nicht mehr, weil sie befürchten, damit der Gesundheit anderer zu schaden. Grenzwerte für PFAS in Lebensmittel gibt es in den USA nicht. Auch im Trinkwasser werden sie derzeit noch nicht überall erfasst.

Finanziell geht das nicht auf, auch nicht mit Extra-Jobs. Tony Coleman, einer der betroffenen Farmer, befürchtet, seine Lebensgrundlage für immer verloren zu haben. Gegen den Zulieferer Synagro, der die Verantwortung zurückweist, laufen Klagen. Es geht um Millionen. In der Nachbarschaft gehe die Angst um, sagt Coleman. Viele fürchteten sich sogar davor, über PFAS zu sprechen.

Wohin überall Klärschlamm gelangt ist, kann man nur vermuten

Wie viel Klärschlamm in den USA auf landwirtschaftliche Flächen aufgebracht wurde und wird, ist unbekannt. Es gibt kein Register. Schätzungen der Zulieferer gehen von zwei Millionen Tonnen getrocknetem Schlamm im Jahr 2018 aus, schreibt die «New York Times».  Dazu kommen noch Flächen wie Golfplätze oder Wälder, wo der verschmutzte Schlamm ebenfalls ausgebracht wurde. Zum Auffüllen stillgelegter Minen wurde er auch verwendet.

Man müsste alle diese Stellen testen. «Jeden Ort, an dem Biosolids [getrockneter Klärschlamm] ausgebracht wurden», sagt Christopher Higgins, Professor für Bau- und Umwelttechnik an der Colorado School of Mines. Sofern man sie kennt. In der Schweiz sieht es ähnlich aus. Wo genau wie viel Klärschlamm eingesetzt wurde, ist nur ungefähr bekannt.

Baden-Württemberg: PFAS im Spargelfeld

In einem süddeutschen Landstrich zwischen Karlsruhe und Offenburg (Karte) hat man das schon hinter sich und testet fleissig weiter. In Mittelbaden wurde von 2006 bis 2008 mit Abfällen aus der Papierherstellung versetzter Kompost ausgebracht, der grosse Mengen PFAS enthielt (Infosperber berichtete). Weitere Verschmutzungen gibt es weiter nördlich bei Mannheim. Papier wird mit PFAS behandelt, um es wasser- und fettabweisend zu machen.

2022 PFAS Offenburg Rastatt
In Mittelbaden sind grosse Gebiete mit PFAS verseucht. Auf einer interaktiven Karte kann man die Belastung des Grundwassers bis in die Zukunft ansehen.

Geliefert wurde der Kompost von einem lokalen Unternehmen gratis aufs Feld, viele Bauern griffen zu. Geschädigt wurden auch diejenigen, die ablehnten, denn die PFAS-Last frisst sich seither durch die Grundwasservorkommen, mit denen sie ihre Felder bewässern. Wasserversorger, Landwirte und Konsument:innen kennen das Problem nun seit mehr als zehn Jahren. Mindestens 1100 Hektar Boden und 170 Millionen Kubikmeter Grundwasser waren bis Ende 2022 mit PFAS verschmutzt. Einige Äcker sind stillgelegt, andere nicht mehr für die Lebensmittelproduktion zugelassen.

Noch immer werden deshalb Prozesse geführt. Beim letzten Urteil stand fest: Der Kompostunternehmer haftet persönlich. Ihn allein verantwortlich zu machen, gehe aber an der Sache vorbei, findet ein Kommentator des SWR.  

Am Ende bezahlt die Allgemeinheit

Auch viele andere müssten von der Papierschlamm-Verschieberei gewusst haben. Die Bauern, welche die Papierfasern im Kompost sehen konnten, die «Spender», die die giftige Fracht loshaben wollten, die Behörden, die geschlafen hätten, die Lieferfahrer. Aufbringen kann der Unternehmer die Folgekosten ohnehin nicht. Es bezahlen am Ende also die Steuerzahlenden.

Bisher aufgelaufene Kosten: mindestens 40 Millionen Euro. Wer auf verseuchtem Boden oder über verseuchtem Wasser sitzt, filtert das Wasser und bangt bei jeder Kontrolle der Ernte. Die meisten Landwirte haben sich damit abgefunden. Aufgegeben haben nur wenige. Wie auch – wer kauft schon ein PFAS-verseuchtes Grundstück? In offiziellen Statements zur Sache ist viel von Strategien und Chancen die Rede.

PFAS-Komplettverbot trifft auf Widerstand

Viele Politiker in der EU und auch in der Schweiz wollen PFAS als gesamte Stoffklasse verbieten, ausser in Anwendungen, in denen sie absolut nicht ersetzbar sind. Das würde zumindest den weiteren Zufluss der giftigen Chemikalien stoppen. Das Vorhaben trifft teilweise auf erheblichen Widerstand der fertigenden Industrie. Für viele Anwendungen gibt es Alternativen, ihre Entwicklung sei aber aufwendig, sagen Unternehmen wie VauDe, die die Umstellung schon gemacht haben. 

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Die Nato erhöht an Russlands Grenze weiter das Atomkrieg-Risiko

Urs P. Gasche /  Die Zerstörung russischer Abschussrampen würde das atomare Gleichgewicht gefährden. Deshalb droht ein russischer Erstschlag.

Russland, die Grossmacht mit den meisten Atomwaffen, wird in die Enge gedrängt. Die US-Abschussrampen für atomar bestückbare Raketen in Europa lassen Russland nur noch wenige Minuten Zeit, um auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen westlichen Erstschlag mit einem Gegenangriff gegen die USA oder gegen Europa zu reagieren. Ein russischer Gegenschlag infolge eines Fehlalarms eines Nato-Angriffs wäre nach Erkennen des Fehlalarms nicht mehr zu stoppen und würde einen atomaren Schlagabtausch auslösen.

Sollten jetzt von der Ukraine aus britische oder amerikanische Langstreckenwaffen russische Abschussrampen im Westen Russlands zerstören, wäre die russische Abschreckung namentlich in Richtung Europa stark geschwächt. Russland geriete in Gefahr, einer atomaren Bedrohung oder einem atomaren Angriff der USA, der Nato oder anderer Länder, die Atomwaffen besitzen, ausgeliefert zu sein. Es ist nicht anzunehmen, dass die russische Führung eine solche Entwicklung akzeptiert – ganz unabhängig davon, wie realistisch oder unrealistisch eine atomare Erpressung von Seiten des Westens wäre.

Um die gegenseitige Abschreckung nicht zu gefährden, hatte der Raketen-Abwehrvertrag («ABM-Vertrag») von 1972 das Stationieren solcher Raketen in Europa verboten. Doch seit die USA Ende 2001 diesen Vertrag gekündigt hatten, rüsteten beide Seiten wieder auf (siehe Infosperber vom 22.12.2021: Der Startschuss zum Wettrüsten 2.0 – vor 20 Jahren).

US-Verteidigungsministerium noch 2018: Gegenseitige Abschreckung ist zentrales Element der Friedenssicherung

Auch dank des damals herrschenden «Gleichgewichts des Schreckens» blieb Europa während der Jahrzehnte des Kalten Krieges vor einem Atomkrieg verschont. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA mussten davon ausgehen, dass bei einem atomaren Angriff die andere Seite genügend Zeit hat, um mit eigenen Atomwaffen zurückzuschlagen. 

Ein Angriffskrieg mit Atomwaffen hätte sowohl für die Sowjetunion als auch für die USA zur Folge gehabt, dass auch eigene Städte zerstört und verseucht werden: «Wer zuerst schiesst, stirbt als zweiter».

Noch 2018 schrieb das US-Verteidigungsministerium auf seiner Webseite: «Abschreckung ist seit fast 70 Jahren ein zentrales Element der Friedenssicherung.»

Putin: «Direkte Verwicklung der Nato»

Präsident Putin erklärte am 12. September im staatlichen Fernsehen, der Einsatz weitreichender Waffen auf Ziele in Russland «würde die Natur des Konflikts erheblich verändern. Sollte Kiew grünes Licht für das Abfeuern von Langstreckenraketen weit ins Landesinnere Russlands hinein erhalten, «wäre dies nichts weniger als eine direkte Verwicklung der Nato-Länder in den Krieg in der Ukraine». Russland werde «entsprechende Entscheide auf der Grundlage der Bedrohungen treffen, mit denen wir konfrontiert sein werden».

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius reagierte am 13. September in Berlin: Der Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland sei «durch das Völkerrecht gedeckt». Es stehe den USA und Grossbritannien frei, dies betreffend ihrer gelieferten Waffen «so zu entscheiden». 

Tatsächlich darf die angegriffene Ukraine völkerrechtlich Langstreckenraketen für militärische Ziele in Russland einsetzen. Doch weder die USA noch Grossbritannien noch Deutschland dürfen ignorieren, dass Russland eine Atommacht ist, und dass ein Atomkrieg in Europa für die Menschen diesseits des Atlantiks eine absolute Katastrophe bedeuten würde. 

Pentagon lässt Folgen eines Atomkrieges in Europa abklären

Das U.S. Army Corps of Engineers, das zur US-Armee gehört, will einen Auftrag vergeben, um die Auswirkungen von Atomwaffenexplosionen auf die landwirtschaftliche Produktion genauer abzuklären. Die Ausschreibung für den 34-Millionen-Dollar-Auftrag ging am 12. September 2024 zu Ende. Es geht um die Simulierung von Atomkriegen auf globaler Ebene, die zur Zerstörung der landwirtschaftlichen Systeme wie z. B. landwirtschaftlicher Betriebe führen würden, und um eine erhöhte Abdeckung speziell der ehemaligen Ostblockländer.

Hubert Wetzel, Auslandredaktor der «Süddeutschen Zeitung», fragte am 13. September in seinem Kommentar, der von den Tamedia-Zeitungen übernommen wurde: «Ist die Gefahr, dass der Krieg zu einem nuklearen Krieg eskalieren könnte, begründet?»

Die Antwort sei «tückisch», meinte er: «Das weiss man vielleicht erst, wenn es zu spät ist […] Das Ausbleiben einer Eskalation in der Vergangenheit ist eben keine Garantie für das Ausbleiben einer Eskalation in der Zukunft.»

Trotzdem plädierte Wetzel dafür, militärische Ziele in Russland anzugreifen. Es sei «absurd, dass Kiew westliche Langstreckenraketen nicht gegen Ziele in Russland einsetzen darf». Sein kaum überzeugender Vorschlag zur Risiko-Minimierung: Westliche Politiker müssten sich «Gedanken darüber machen, wie sich verhindern lässt, dass aus dem Krieg in der Ukraine der dritte Weltkrieg wird».

Aus Sicht Russlands gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die USA oder die Nato Russland nicht angreifen würden. Diktatoren oder autoritäre Regimes, die in ihren Ländern Menschenrechte verletzen oder Minderheiten unterdrücken, dienten den USA in den letzten Jahrzehnten mehrmals als Anlass, um einen «Regime Change» anzupeilen. Vor allem, wenn es sich um Länder mit grossen Energie- oder Rohstoffvorkommen handelte: Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien.

Aus Sicht Europas muss ein atomarer Schlagabtausch unbedingt verhindert werden. Denn die Atombomben würden sehr wahrscheinlich zuerst Europa treffen.

Statt jetzt nur über ein weiteres Aufrüsten zu reden, könnte Europa konkrete Vorschläge zur gegenseitig kontrollierbaren Abrüstung vorlegen. Abrüstung wäre im Interesse aller Beteiligten – ausser der Rüstungslobby.

Mittelstreckenraketen: Mehr (nukleares) Risiko statt mehr Sicherheit für Deutschland

Grosse Medien befürworten mehrheitlich die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland. Wer sich mit Gegenargumenten auseinandersetzen möchte, liest am besten Joshua Selkens Beitrag auf Substack.

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Jüngste Kantonsratspräsidentin nimmt den Hut

Judith Schmutz, Kantonsrätin Grüne, im Rat. (Bild: zvg)

Grüne-Kantonsrätin Judith Schmutz tritt per Oktober aus dem Luzerner Parlament zurück. Dies aus beruflichen Gründen.

Per Oktober-Session 2024 werde Judtih Schmutz aus dem Kantonsrat austreten. Dies teilt ihre Partei, die Grünen, mit. 2023 wurde Schmutz als jüngste Person je in Luzern zur Kantonsratspräsidentin gewählt. Insgesamt war sie fünf Jahre im Kantonsrat.

Nun orientiere sie sich beruflich neu und trete daher aus dem Kantonsrat aus. Sie wolle eine «neue berufliche Herausforderung beim Kanton Luzern in Angriff nehmen», heisst es in der Mitteilung.

«War eine grosse Freude und Ehre»

Die 27-jährige Juristin engagierte sich laut Mitteilung in den vergangenen Jahren im Kantonsrat insbesondere für eine grüne Mobilitätspolitik, konsequenten Klimaschutz und eine zukunftsfähige öffentliche Infrastruktur im Kanton Luzern. Besonders geblieben sei ihr das Amt der Kantonsratspräsidentin. «Es war eine grosse Ehre und Freude, dieses wichtige Amt in den vergangenen zwölf Monaten auszuüben», wird sie zitiert.

Wer im Wahlkreis Hochdorf für die Grünen auf Judith Schmutz in den Kantonsrat nachrückt, sei derzeit in Abklärung und werde zeitnah kommuniziert, schreibt die Partei.

Verwendete Quellen

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Wie man Schnupfen schneller los wird

Martina Frei /  Ein wenig Salzlösung – und erkältete Kinder genesen zwei Tage schneller. Davon profitiert auch der Rest der Familie.

Seit 2014 untersucht eine kleine Gruppe von Forschern und Forscherinnen im Rahmen der «Elvis»-Studie die Wirkung von Kochsalzlösung bei Erkältungen. 2019 veröffentlichten sie die Resultate ihres Pilotversuchs in «Scientific Reports»: Gurgeln und Nase spülen mit Kochsalzlösung verkürzte die Atemwegsinfekte bei Erwachsenen um etwa 1,9 Tage und führte dazu, dass sich weniger Haushaltsmitglieder ansteckten. Denn die Nasenspüler und Gurgler verbreiteten weniger Viren in ihrer Umgebung. 

Nun hat die Studiengruppe das Ergebnis ihres Versuchs mit (sonst gesunden) Kindern von null bis sechs Jahren bekannt gegeben. Bei einer Erkältung verkürzten dreimal täglich jeweils drei Tropfen einer Salzlösung in jedes Nasenloch die Symptomdauer um zwei Tage. Die 150 so behandelten Kinder waren im Mittel bloss sechs Tage krank, die 151-köpfige Vergleichsgruppe (mit Behandlung wie sonst üblich) hingegen acht Tage. 

Weniger Ansteckungen bei anderen Haushaltsmitgliedern

Ausserdem steckten sich weniger Haushaltsmitglieder bei den Kindern an, welche die salzhaltigen Nasentropfen erhielten. «Die Kinder, die Salzwasser-Tropfen bekamen, benötigen auch weniger Medikamente», berichtete Professor Steve Cunningham von der Universität Edinburgh am Kongress der «European Respiratory Society» in Wien. Schwere Nebenwirkungen habe es nicht gegeben.

Die Nasentropfen bereiteten die Eltern nach dem Rezept der Wissenschaftler selbst zu. Diese empfehlen die Anwendung mindestens viermal täglich, aber nicht öfter als zwölfmal, bis es dem Kind besser gehe.

Rezept für die Nasentropfen, Nasenspülung und Gurgellösung

Auf der Website der «Elvis-Kids»-Studie geben die Wissenschaftler eine ausführliche Anleitung, wie man die Kochsalzlösung für die Nasentropfen herstellt und anwendet (in englischer Sprache, durch Anklicken wird die Schrift grösser). Für eine 2,5-prozentige Lösung löst man 2,5 Gramm Meersalz in 100 Milliliter abgekochtem Wasser (bzw. 5 Gramm in 200 Milliliter Wasser). Sie sollte täglich frisch zubereitet werden. Anstelle von Meersalz kann man auch reines Speisesalz oder zum Beispiel «Emser Salz» verwenden. (Geringe Zusätze im Tafelsalz (Jod, Fluor, Rieselhilfen) bergen vermutlich kein Risiko beim Nase befeuchten oder spülen.)

Das Vorgehen bei der Nasenspülung wird mit Hilfe von Videos auf der Website der «Elvis»-Studie erklärt (Link auf Englisch). Dort geben die Wissenschaftler ein leicht abgewandeltes Rezept.

1. Zuerst Wasser drei Minuten lang kochen, dann mindestens neun Gramm Salz pro Liter Wasser zugeben und damit eine sogenannte «hypertone Kochsalzlösung» herstellen. Die Lösung soll salzig, aber nicht unangenehm schmecken. Die Konzentration sollte unter fünf Prozent sein, ideal ist eine zwei- bis dreiprozentige Salzlösung. 

2. Abkühlen lassen, bis die Lösung angenehm warm ist. 

3. Dann ein Nasenloch zuhalten, und vorsichtig mit dem anderen das Wasser hochziehen. Es läuft anschliessend aus der Nase und aus dem Mund wieder hinaus. Zweimal auf jeder Seite wiederholen oder so lange, bis das herauslaufende Wasser klar ist. Wer mit dem Hochziehen Mühe hat, kann auch eine «Nasendusche» im Fachhandel kaufen. Die meisten Studienteilnehmer spülten ihre Nase so fünf Tage lang drei- bis sechsmal täglich.

4. Anschliessend zweimal Gurgeln. Danach die Nase sanft schneuzen, bis das Wasser draussen ist. 

5. Zuletzt das Duschgefäss und das Brünnli putzen und die Hände waschen, damit andere sich nicht anstecken.

Die «Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene» gibt eine Anleitung zum Gurgeln: «Gestrichenen Teelöffel Kochsalz in 100 Milliliter lauwarmem Wasser lösen, etwa Menge eines Schnapsglases in den Mund nehmen, jeweils vor dem Einatmen Gurgeln unterbrechen, Vorgang etwa 3 Minuten lang wiederholen.» Für kleine Kinder und für Menschen, die sich leicht verschlucken, sind Gurgeln und auch Nasenspülungen nicht zu empfehlen. Kinder können erst etwa ab dem Schulalter das Gurgeln erlernen. Wegen des Geschmacks sind Aroniasaft, Salbeitee oder grüner Tee für sie geeigneter.


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Emmen soll Stadt werden: «Wir wollen Vorort-Mentalität ablegen»

Emmen soll sich künftig Stadt nennen. Das fordert der jüngste Einwohnerrat der Gemeinde mittels Vorstoss. Dieser ist so gut wie durch – denn fast die Hälfte des Einwohnerrats hat ihn unterzeichnet.

Vor mehr als zehn Jahren stand die Fusion der Gemeinde Emmen mit der Stadt Luzern noch im Raum. Die SP Emmen gehörte zu den Befürworterinnen, doch das Stimmvolk stemmte sich gegen die Aufnahme von Fusionsverhandlungen.

Heute weht ein anderer Wind. Emmen ist selbstbewusster geworden. Und Jonas Ineichen, der seit 2022 für die SP im Emmer Einwohnerrat sitzt, bringt die 2017 noch abgeschmetterte Idee, Emmen zur Stadt zu machen, wieder aufs politische Parkett – und erhält breite politische Unterstützung. Von einer Fusion mit der Stadt Luzern würde der 24-Jährige nichts halten, wie er im Interview mit zentralplus klarstellt.

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Mpox: Professoren verbreiteten Falschinformationen auf Twitter

Martina Frei /  Was von Fachleuten zu den Affenpocken und ihren Folgen für Kinder verbreitet wurde, war grösstenteils falsch.

Im Mai 2022 berichteten europäische und US-Gesundheitsbehörden von Affenpocken-Erkrankungen. Die Erkrankungszahlen stiegen dort bis in den Sommer 2022 und sanken dann wieder. Im August 2024 hat die WHO nun wegen einer neuen Affenpocken-Variante eine weltweite Notlage ausgerufen, die höchste Alarmstufe. 

Wer sich auf Twitter dazu informieren will, sollte vorsichtig sein – selbst dann, wenn der Absender ein bekannter Medizinprofessor, Epidemiologe oder sogar der frühere Sanitätsinspekteur der Vereinigten Staaten ist, der oft in den Medien zitiert wird. Denn fast alle Tweets solcher hochangesehenen Personen erwiesen sich 2022 in Bezug auf Kinder als falsch. 

Das ergab die Auswertung von 262 Tweets, die von Mitte Mai bis Mitte September 2022 zum Thema Affenpocken und ihren Folgen für Kinder und Schüler abgesetzt wurden. Sie stammten von Ärztinnen, promovierten Wissenschaftlern, Pflegekräften, Medizinjournalisten, Apothekerinnen und weiteren Fachleuten, von denen ein Laie annehmen darf, dass sie kompetent twittern. 

Doch das war nicht der Fall: Auf einen Tweet mit korrekter Information kamen durchschnittlich 4,6 Tweets, die Falsches verbreiteten, zeigte die in «BMJ Pediatrics Open» veröffentlichte Auswertung. Anstatt klarzustellen, dass Kinder in den USA 2022 nicht zu den Risikogruppen gehörten, schürten die Tweets Ängste, indem sie das damalige Risiko für US-Schüler übertrieben gross darstellten oder US-Schulen zu gefährlichen Infektionsorten hochstilisierten.

Tweet Jerome Adams
Die Affenpocken würden noch viel schlimmer werden, kündigte der frühere oberste Gesundheitsbeamte der USA, Jerome Adams, am 15. Juli 2022 an: «… wartet nur bis die Schulen – inklusive der Colleges – in wenigen Wochen wieder öffnen …»

Prominenter Absender

Jerome Adams wurde während der Corona-Pandemie in seiner damaligen Funktion als Leiter des US-Gesundheitsdiensts von vielen Medien – auch in der Schweiz – zitiert. Twitter ist für viele Journalisten eine wichtige Informationsquelle.

Die Tweets der Gesundheitsfachleute sagten zum Beispiel voraus, dass sich die Affenpocken im Sommer 2022 in US-Schulen weit herum ausbreiten würden. Die Experten rieten auf Twitter auch, US-Kinder sofort gegen Affenpocken zu impfen oder die Schulen wegen der sich anbahnenden Affenpocken-Epidemie zu schliessen. Alle Tweets dieser hochgebildeten Personen stellten die Gefahr für die Jüngsten grösser dar, als sie damals tatsächlich war. 

Tweet Tsion Firew
Tweet der US-Medizinprofessorin Tsion Firew im August 2022: «Kinder mit Affenpocken: Dies ist die Spitze des Eisbergs (da die Symptome mit anderen Ausschlägen bei Kindern verwechselt werden können) & wir erwarten, dass die Zahlen steigen werden. Mit dem Beginn der Schulzeit & dem Mangel an Impfstoffen werden diese Zahlen im Herbst steigen, es sei denn, wir erweitern die Tests und Impfungen.»

Das Gros der Erkrankten waren Männer

Dabei war es zu jenem Zeitpunkt so, dass mehr als 95 Prozent der Infektionen mit Affenpocken Männer betrafen, und zwar fast ausschliesslich solche, die Sex mit anderen Männern hatten. Mehrere Fachleute, darunter der US-Epidemiologe Lao-Tzu Allan-Blitz, argumentierten damals in der Fachzeitschrift «Clinical Infectious Diseases», dass Mpox überwiegend beim Sex übertragen werde und daher als sexuell übertragbare Erkrankung einzustufen sei.

Im Herbst 2022 verebbte der damalige Ausbruch, die vorhergesagten Massenausbrüche an Schulen blieben aus.

Doch selbst im September 2022 kamen auf einen Tweet mit richtiger Darstellung noch immer drei, die falsche Informationen oder übertriebene Prognosen zu den Affenpocken bei Kindern verbreiteten. Und das sogar von Experten, die von Twitter als Zeichen ihrer Seriosität ein «blaues Häkchen» bekamen.

Tweet Jerome Adams
«Wenn man einen Kommentar schreibt, dass sich die #Affenpockenfälle alle zwei Wochen verdoppeln… und ein paar Stunden später erfährt man, dass sie sich verdreifacht haben… 🙊 🚀 🤦🏽‍♂️ Der Affenpocken-Notfall wird auch Schulen und Hochschulen betreffen. Seid bereit». Das twitterte der frühere «oberste Arzt» der USA, Jerome Adams. Er war bis Januar 2021 der US-Surgeon-General. Auf dem abgebildeten Plakat steht: «Gebt den Impfstoff frei.»

Falsche Informationen erreichten viel mehr Menschen

Die Tweets mit korrekten Einschätzungen erzielten eine viel kleinere Reichweite als die Angst machenden, die das Risiko für Kinder übertrieben darstellten. Die Absender der richtigen Informationen hatten nur rund 1,5 Millionen Follower. Ihre akkurat abgefassten Tweets erhielten bloss etwa 7000 «Likes». 

Die Absender der Falschinformationen dagegen kamen auf insgesamt über acht Millionen «Follower». Ihre Darstellungen erhielten durchschnittlich rund 200’000 «Likes».

Dazu zählte auch der US-Professor Eric Feigl-Ding. Von der «New York Times» bis zu «watson.ch» beriefen sich während der Corona-Pandemie viele Medien auf ihn, die Tamedia-Zeitungen bezeichneten ihn als «profilierten» US-Epidemiologen und Gesundheitsökonomen. Seine Tweets zu Corona wurden nicht nur vom deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach wiederholt weiterverbreitet, sondern auch von Journalistinnen und Journalisten zitiert.

Tweet Feigl-Ding
Der weltweit bekannte Epidemiologe Eric Feigl-Ding sagte Anfang August 2022 in seinem Tweet voraus, dass die Schulen im Herbst 2022 «radikal neue/mehr Massnahmen zur Abschwächung» der Affenpocken brauchen würden.

Positiv hob sich der Medizinreporter Benjamin Ryan ab: Von seinen 14 Tweets zu Affenpocken und Kindern waren alle korrekt. Das kommt sogar in der unten stehenden Grafik zum Ausdruck.

Grafik Knudsen et al.
Anzahl der inhaltlich korrekten Tweets (blau) und der falschen / übertriebenen Darstellungen (rot), aufgeschlüsselt nach Berufsgruppen: Mitarbeitende im Gesundheitswesen (Health Care), Medizinjournalisten (Health Reporter), diplomierte oder promovierte Gesundheitswissenschaftler und Pädagogen (PhD, MPH, Ed. degree), Juristen (JD) und alle zusammen. Dass die Medizinjournalisten so gut abschnitten, lag an einem Journalisten, der 14 korrekte Tweets absetzte.

Allerdings passierte auch Ryan ein Lapsus: In einem seiner Tweets fehlte ein höchst wichtiges «n». Der Affenpocken-Ausbruch 2022 betraf nicht, wie er versehentlich twitterte, «fast ausschliesslich Männer, die Sex mit ihm («with me») haben», sondern fast ausschliesslich Männer, die Sex mit Männern («with men») hatten.

Tweet Benjamin Ryan
Für einen seiner Tweets entschuldigte sich der Medizinreporter. Ryan hatte sich vertippt.

Bericht der afrikanischen Gesundheitsbehörde zum aktuellen Mpox-Ausbruch 2024

Die meisten Mpox-Erkrankungen betreffen derzeit die Demokratische Republik Kongo. Heterosexuelle Übertragung, insbesondere durch Prostituierte, treibe den Ausbruch dort voran. Unterernährung und HIV-Infektionen erhöhten die Empfänglichkeit für Mpox, schreiben Mitarbeitende der afrikanischen Gesundheitsbehörde Africa CDC in «The Lancet Global Health». Sie weisen auf die teilweise starke Zunahme der Mpox-Erkrankungen und den vergleichsweise hohen Anteil Minderjähriger hin. Hier die offiziellen Zahlen zu Mpox-Erkrankungen der Afrika CDC von Januar bis Juli 2024:

Land Mpox-Verdachtsfälle bestätigte Erkrankungen Mpox-Todesfälle Anteil der Personen unter 15 Jahren bei Erkrankungen / Todesfällen
Demokratische Republik Kongo
(Stand 30.7.2024)
13’791 2628 450 68 % / 85 %
Burundi (Stand 28.7.2024) 8 0
Kamerun 30 5 2
Zentralafrikanische Republik 185 28 0
Kongo 19 127 1 56 % / keine Angabe
Ghana 4 0
Liberia 5 0
Nigeria 24 0 50 % / 0
Ruanda (Stand 25.7.2024) 2
Südafrika (Stand 13.5.2024) 22 3
Quelle: Africa CDC, Mpox situation in Africa, 30. Juli 2024

Es gebe noch viele Fragen zum jetzigen Ausbruch und die Anzahl der Infektionen werde wahrscheinlich unterschätzt, insbesondere bei Randgruppen, vermutet der US-Epidemiologe Lao-Tzu Allan-Blitz. Dies würde den tatsächlichen Anteil der Fälle bei Kindern verändern. Allan-Blitz beobachtet das Geschehen genau. «Abgesehen davon gibt es im Vergleich zum Ausbruch von 2022 nun eindeutig mehr Übertragungen unter Kindern, was wahrscheinlich auf nicht-sexuelle Übertragungen in Haushalten aufgrund von engem Körperkontakt* zurückzuführen ist.»

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*In einer früheren Fassung stand hier leider fälschlicherweise «Arztkontakt». Lao-Tzu Allan-Blitz schrieb in seiner Antwort «close physician contact». Nachträglich stellte sich heraus, dass es sich um einen Tippfehler handelte. Gemeint war «close physical contact».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Weiterführende Informationen

(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost

Lauterbach und sein «Arzt-Patient-Erlebnis»

Bernd Hontschik /  Wird die gesundheitliche Situation der Bevölkerung immer besser, je mehr Daten zur Verfügung stehen? Zweifel sind angebracht.

Red. Der Autor dieses Gastbeitrags ist Chirurg und Publizist in Frankfurt.

Ende vergangenen Jahres wurde ich zum ersten Mal richtig stutzig. Nein, das ist eigentlich untertrieben. Ich dachte, mich treffe der Schlag. Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach liess sich vom Spiegel interviewen und sang das Hohelied der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz für die Zukunft des Gesundheitswesens und der Medizin.

Das ist zwar eine sehr weit verbreitete Position, die ich im übrigen überhaupt nicht teile, aber das ist gar nicht das Problem. Das Problem liegt woanders.

Aber lesen Sie selbst: «Wenn ich als Arzt mit einem Patienten spreche, habe ich bereits alle Befunde im Computersystem. Ich frage: Wie fühlen Sie sich? Was tut Ihnen weh? Die ganze Zeit hört eine Spracherkennungssoftware zu und überträgt die Stichpunkte, die wichtig sind, in die elektronische Patientenakte. Dann schreibt, während wir noch reden, die künstliche Intelligenz die notwendige Überweisung. Sollte ich diese vergessen, dann erinnert mich die KI: Herr Lauterbach. Sie sollten vielleicht eine Überweisung machen.»

Bei dieser Beschreibung eines Aufeinandertreffens von Arzt und Patient musste ich zuerst laut lachen. So kann nur jemand vor sich hin fabulieren, der von Medizin keine Ahnung hat. Alles ist falsch. Alles hat mit der alltäglichen Realität in Arztpraxen und Krankenhäusern nichts zu tun. Allüberall wird beklagt, dass Ärztinnen und Ärzte keine Zeit hätten, um zu sprechen. Sie seien kaum greifbar.

Und auf welchen Wegen sind Befunde ins Computersystem gelangt? Wie kann eine Spracherkennungssoftware wissen, was wichtig ist und was nicht? Wie entscheidet eine KI, dass eine Überweisung angebracht ist, was ja die Hypothese einer Diagnose voraussetzt?

Kein einmaliger Ausrutscher

Das Lachen ist mir vergangen, als mir klar wurde, dass dieser Unfug kein einmaliger Ausrutscher war. Denn seit diesem Interview schiebt Lauterbach mindestens einmal im Monat einen weiteren Knüller hinterher. Im März 2024 erklärte er dem WDR: «Wir werden eine bessere Medizin bekommen.» Er beschrieb, dass KI bessere Diagnosen stellen wird als ein Arzt. «Der durchschnittliche Arzt hat jetzt schon Mühe, mit KI mitzuhalten.»

Im April 2024 sprach Lauterbach auf der Digital-Health-Messe DMEA in Berlin: «Künstliche Intelligenz wird die Medizin komplett verändern.» Dazu erklärte er dem Publikum, dass die menschliche Intelligenz nicht immer verstehen könne, wie KI funktioniere, nur, dass sie funktioniere.

Bei einer Tagung in Berlin ergänzte Lauterbach im Juni 2024: «Künstliche Intelligenz wird sein wie ein geduldiger Arzt.» Ich werde langsam unruhig. Handelt es sich hier vielleicht um eine Undercover-Operation zur Abschaffung des Arztberufes?

Wer erlebt da was?

Ganz unheimlich wurde mir schliesslich zumute, als ich – ebenfalls im Juni 2024 – die Überschrift für seine Aufklärungskampagne zur elektronischen Patientenakte lesen musste: «Wir verändern das Arzt-Patient-Erlebnis grundlegend.»

So etwas habe ich in über 40 Jahren ärztlicher Tätigkeit noch nie gehört. Die Arzt-Patient-Beziehung steht für mich schon immer im Mittelpunkt der Medizin, aber was ist ein Arzt-Patient-Erlebnis? Wer erlebt da was, Arzt oder Patient oder gar beide?

Je mehr ich von diesem Gesundheitsminister zu lesen bekomme, desto unheimlicher wird er mir, denn ich bin ja nur «ein durchschnittlicher Arzt». Seine Pläne sind von der irren Idee bestimmt, dass die Medizin respektive die gesundheitliche Situation der Bevölkerung immer besser werde, je mehr Daten zur Verfügung stehen.

Kein Wort von Lärm, kein Wort von Luftverschmutzung, kein Wort von Arbeitsstress, kein Wort von Pflanzengift, und vor allem: kein Wort von Armut, kein Wort von Einsamkeit. Man braucht nicht viel natürliche Intelligenz, um das zu verstehen. Künstliche Intelligenz scheint hingegen den Blick auf das Leben zu vernebeln. Was für ein grandioser Irrtum von unserer Gesundheitspolitik Besitz ergriffen hat!

Dieser Artikel erschien am 22. August 2024 in der deutschen Ärzte-Zeitung.


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