Solingen ist auch eine Folge der «Kriege gegen den Terror»

Helmut Scheben /  Al-Nusra, IS und radikale Gruppen im Internet entstanden wesentlich durch die Kriege gegen Irak und gegen Assad in Syrien.

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Helmut Scheben

Seit dem Messerattentat in Solingen wird vor allem über eine verschärfte Migrations- und Abschiebepolitik, über weitergehende Überwachungskompetenzen sowie über Verbote von Messern bei öffentlichen Zusammenkünften diskutiert.

Tabu bleibt die Diskussion über einige Ursachen der gefährlichen Radikalisierung. Deren Wurzeln liegen in den vom Westen geführten «Kriegen gegen den Terror». Im Folgenden sei an diese verdrängte Vergangenheit erinnert.

Irak: für Ulrich Tilgner «ein Fehler von historischem Ausmass»

Im Mai 2003 setzte Paul Bremer, Zivilverwalter der USA im Irak, mehr als 400’000 irakische Soldaten und Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums auf die Strasse. Sie verloren ihren Job, ihre Familie stand oft mittellos da. Viele kämpften um Selbstachtung und Würde, andere wurden depressiv oder begingen Suizid. Von diesem Moment an häuften sich Sprengstoffanschläge, und es formierte sich Widerstand gegen die US-Armee als Besatzungsmacht. Tausende folgten dem Aufruf zum Aufstand. Der sunnitische Untergrund war entstanden, aus dem später Organisationen wie der «Islamische Staat» hervorgehen sollten. Mit dem Angriff auf den Irak hatten die USA die Geister geweckt, die sie angeblich ausrotten wollten. 

Bremer nannte seine Entscheidung «Ent-Baathifizierung», was bedeutungsmässig wohl als gelungener PR-Trick an die «Ent-Nazifizierung» Deutschlands 1945 andockt. Bremer wollte die Baath-Partei des gestürzten Präsidenten Saddam Hussein auflösen und dessen Anhänger bestrafen. 

Ulrich Tilgner
Ulrich Tilgner

Ulrich Tilgner, lange Jahre Korrespondent im Nahen Osten, schildert in seinem Buch «Zwischen Krieg und Terror», wie er die Ereignisse in Bagdad damals erlebte. Am 20. März 2003 waren die USA und ihre «Koalition der Willigen» in den Irak einmarschiert. Die Begründungen für den Angriffskrieg beruhen auf gefälschten Dokumenten der US-Geheimdienste. 

Der Widerstand der irakischen Armee bricht innert weniger Wochen zusammen. Manche irakischen Einheiten feuern keinen Schuss ab, weil die Kommandanten Saddam Hussein loswerden wollen und auf ein Arrangement mit den USA hoffen. Nach der Flucht Saddam Husseins demonstrieren irakische Armee-Offiziere für einen demokratischen Neuanfang und bieten den Amerikanern Zusammenarbeit an. Sie warnen gleichzeitig, dass ein bewaffneter Untergrund entstehen werde, falls die US-Amerikaner nicht darauf eingingen. Bremer lässt nicht mit sich reden. 

«Bremer reagiert mit beispielloser Arroganz und begeht einen Fehler von historischem Ausmass», schreibt Tilgner. Dem erst zwei Wochen zuvor eingeflogenen Zivilverwalter dürften die Auswirkungen seiner Anordnung nicht klar gewesen sein. Er treibt Tausende in den Untergrund und produziert einen Terror-Aufstand: «Möglicherweise führen Bremers Fehlentscheidungen zum Tod Zehntausender Menschen», notiert Tilgner damals, «während die Chancen, den Irak zu demokratisieren, schwinden».

Syrien: Hillary Clintons geheimes Mail

In einem Mail vom 31. Dezember 2012 schreibt die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton, es gelte «mit regionalen Verbündeten wie der Türkei, Saudiarabien und Katar zusammenzuarbeiten, um syrische Rebellen zu organisieren, zu trainieren und zu bewaffnen».

Weiter heisst es: «Assad zu beseitigen wäre nicht allein ein unermesslicher Segen für die Sicherheit Israels, es würde auch die verständlichen Ängste Israels mindern, sein nukleares Monopol zu verlieren. Im nächsten Schritt könnten sich dann die Vereinigten Staaten und Israel gemeinsam drauf verständigen, von welchem Punkt an die iranische Atomanreicherung so gefährlich wird, dass ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint.» (Kurt O. Wyss. Die gewaltsame amerikanisch-israelische «Neuordnung» des Vorderen Orients. Bern 2022. S.164)

Dieses Mail wurde durch Wikileaks publik. Es zeigt unmissverständlich, welche geostrategischen Interessen die USA und ihre Nato-Verbündeten in Syrien verfolgten: Ziel war, einen Korridor freizumachen für den Aufmarsch gegen den Iran. Dazu war zunächst ein Regime-Change in Damaskus erforderlich. Die Pläne dafür lagen seit langem in den Schubladen der Neokonservativen in Washington. 

Bereits Ende 2006 hatte William Roebuck, US-Botschafter in Damaskus, eine Nachricht an das US-Aussenministerium geschickt. Diese Depesche enthielt eine detaillierte Liste von Vorschlägen zur Destabilisierung Syriens. Aufgezählt waren die wichtigsten Verwundbarkeiten (vulnerabilities) der Regierung Assad und die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten (possible action) der USA, um einen Regierungswechsel zu erreichen.

Sogenannte «syrische Rebellen», wie die in Istanbul gegründete «Freie Syrische Armee», wurden von US-Geheimdiensten in Trainingscamps in der Türkei und in Jordanien ausgebildet und nach Syrien geschickt. Überläufer aus Assads Armee wurden mit hohen Dollarsummen angelockt. Beutewaffen aus Libyen wurden vom CIA nach Syrien geschickt. Kombattanten aus mehr als 50 Nationen strömten in den Krieg nach Syrien. Der Westen kreierte und finanzierte eine Propaganda-Truppe namens «Weisshelme», welche als Sprachrohr der Dschihadisten endete. Von Anfang an war ersichtlich, dass die in Syrien verbotenen Muslimbrüder und andere sunnitische Gruppen, die von Katar und Saudiarabien finanziert wurden, die Unruhen schürten. 

Grosse Medien übernahmen die in Washington, London, Paris und Berlin verbreitete Darstellung, in Syrien sei der arabische Frühling ausgebrochen und es gelte nun – wie in Libyen und Ägypten – die Demokratie einzuführen und den Tyrannen Assad zu stürzen, der «auf sein eigenes Volk schiesst». Tatsächlich war der «arabische Frühling» in Syrien eine Social-Media-Bewegung, die – trotz Unzufriedenheit einiger Bevölkerungsgruppen mit der Politik Assads – keine grosse Verankerung in der Gesellschaft hatte. 

Im Schweizer Fernsehen tauchten plötzlich Syrien-Experten auf, die in Dokumentarfilmen den Widerstand der «Rebellen» gegen die syrische Armee als heldenhaft darstellten. Sie informierten nicht, dass da viele Syrer bezahlt wurden, damit sie auf andere Syrer schiessen.

Hingegen verloren Journalistinnen, die Syrien wirklich kannten, wie die in Damaskus lebende Karin Leukefeld, Job und Aufträge, weil sie schrieben, was sie täglich auf der Strasse sehen und hören konnten: Die Mehrheit der Menschen in Syrien wollte Reformen, aber keinen Umsturz und schon gar nicht einen Krieg, um Assad zu stürzen. Journalisten und Diplomaten wie der französische Botschafter in Bagdad oder die EU-Diplomatin Eva Filipi, welche diese Realität vermittelten, wurden mundtot gemacht.

Der «Krieg gegen den Terror» hat tausende Dschihadisten hervorgebracht

In einem Bericht des US-Militärgeheimdienstes DIA hiess es bereits 2012: «Die wichtigsten Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben, sind Salafisten, die Muslimbruderschaft und Al-Kaida im Irak.» In dem Geheim-Papier wird davor gewarnt, dass Al-Kaida ein «salafistisches Fürstentum» in Ostsyrien errichten könne. (Karin Leukefeld. Syrien zwischen Schatten und Licht. S. 276)

Etwa ab 2013 müssen es auch «Strategen» in Washington gemerkt haben, dass ihnen die Sache aus dem Ruder lief. Laut Medienberichten wüteten damals schon mehr als tausend bewaffnete Gruppen in Syrien, von denen die Mehrheit radikalislamische Kämpfer waren wie die Gruppe Al-Nusra. Mit einem Mal erwiesen sich die tapferen «syrischen Rebellen» und «Freedom-Fighters» als Terroristen, die Gefangenen vor laufender Kamera den Kopf abschnitten und die Videos ins Netz stellten.

Zwischen 2013 und 2014 gelang es den fundamentalistischen Islamisten sogar, versuchsweise einen «Islamischen Staat in Syrien» zu realisieren.

Diese Widersprüche waren einer globalen Öffentlichkeit, die man seit 9/11 für einen «Krieg gegen den Terror» zu überzeugen versuchte, nicht mehr leicht zu erklären. Waren die «Rebellen» nun die Guten oder die Bösen? Daher wurde, um einen Rest von Glaubwürdigkeit zu retten, die Erzählung verbreitet, es gebe in Syrien zweierlei Milizen, nämlich die «guten Aufständischen» und die «bösen Aufständischen», Erstere gelte es zu unterstützen, Letztere zu bekämpfen. Was die US-Armee dann in Mossul mit erschreckender Gründlichkeit tat.

Doch Aussenministerin Clinton und ihre «Gruppe der Freunde des syrischen Volkes» waren mehr auf den Sturz Assads fokussiert als auf die Gefahr, dass als Folge ihrer Politik ein islamistisches Ungetüm heranwächst. 

Dass aus diesem Ungetüm später eine PR-Grossmacht im Internet werden könnte, die Jugendliche für ihre Terror-Ziele rekrutiert, war in Washington offensichtlich kein Grund zur Besorgnis.

Schliesslich ergoss sich die Flüchtlingswelle, die der Syrienkrieg ausgelöst hatte, über Europa, nicht über die USA. Und in Berlin ertönte es: «Wir schaffen das.»

«Von Assad verfolgt» war ein häufiger Asylgrund

Spätestens ab diesem Moment war vielen arabisch sprechenden Jugendlichen klar, dass sie in Europa Asyl erhalten würden, wenn sie angaben, Syrer zu sein und von Assad verfolgt worden zu sein. Sie kamen zu Zehntausenden. Ähnliches gilt für viele Asylsuchende aus Ägypten oder aus dem Maghreb. Etliche von ihnen «ohne Papiere» gaben sich als Syrer aus, um einen Flüchtlingsstatus zu erlangen.

Unter ihnen waren viele aus den Reihen der islamistischen Kombattanten. Sie verliessen Al-Nusra und andere Gruppierungen in Richtung Europa, nachdem nach der Niederlage in Aleppo klar geworden war, dass der Krieg gegen Assad verloren war. Bei den Asylbefragungen in Europa gaben sie mit grosser Wahrscheinlichkeit an, sie seien «von Assad verfolgt worden».

Wie viele von ihnen aufgenommen wurden oder untertauchten, ist ungewiss. Man kann davon ausgehen, dass ein Zustrom radikalislamischer, kampferfahrener junger Männer, von denen viele mit Sprengstoff und Waffen umgehen können, nicht ohne Auswirkungen auf das politische Klima in den europäischen Gesellschaften geblieben ist. Diese Männer sind zu vielem bereit, wenn sie sich abgewiesen, verachtet, gedemütigt und erniedrigt fühlen – von der Gesellschaft und besonders auch von Frauen.

Auf der Suche nach Orientierung und Autoritäten finden diese Ausgegrenzten im Netz ein Narrativ, das sie darstellt als diskriminierte Muslime und als Krieger, die um ihre Würde kämpfen. Religion ist dabei nur ein anderes Wort für Gemeinschaft oder Zugehörigkeit. Es geht nicht um den Koran. Die meisten lesen ihn kaum. Es geht um Selbstbestätigung und um einen Moment der Macht, welcher die erlittene Ohnmacht überwinden soll. Ob dabei Sprengstoff, eine Pistole, ein Messer oder ein Fahrzeug als Terrorwaffe benutzt wird, ist unerheblich. 

Wenn die deutsche Innenministerin verfügen will, dass niemand ein Messer mit sich führen darf, dessen Klinge länger als sechs Zentimeter ist, zeigt sich darin politische Hilflosigkeit. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost