Pascal Sigg / Der Kanton Bern winkte über 300 adaptive Antennen ohne Baubewilligung durch. Obschon sie kurzzeitig viel stärker strahlen dürfen.
5G: Kanton Bern trickst Anwohner von Antennen aus
Das Mobilfunknetz der nächsten Generation bedarf neuer Antennen. Sogenannt adaptive Antennen strahlen gezielter und konzentrierter als bisherige Mobilfunkanlagen, die permanent grossflächige Netze erzeugen. Doch dafür müssten sie mitunter stärker strahlen dürfen, als die vorsorglichen Grenzwerte vorsehen.
Zuständig für die Zulassung dieser Antennen sind in der Schweiz eigentlich die Gemeinden. Die Kantone machen allerdings Empfehlungen und interpretieren die Gesetzeslage.
Kanton Bern rät Gemeinden zu Bagatellverfahren
Dabei sorgt besonders der Kanton Bern für Kritik. Da herrscht nämlich die Ansicht, dass keine Baubewilligungsprozesse für Umbauten bestehender Anlagen zu adaptiven Antennen nötig seien – obschon diese später stärker strahlen dürfen.
Dies teilte das Regierungsstatthalteramt der Direktion für Justiz und Inneres den Gemeinden im April 2022 in einem eindeutigen Schreiben mit. Dies bedeutet: Betroffene Anwohnerinnen und Anwohner neuartiger Antennen müssen über die Änderungen nicht informiert werden. Und können so keine Einsprachen erheben.
Hunderte Anlagen dürfen Anlagegrenzwerte überschreiten – ohne Baubewilligung
Ob der Kanton dies darf, ist allerdings unklar. In einem noch nicht rechtskräftigen Urteil gab das Berner Verwaltungsgericht kürzlich nämlich einer Beschwerde aus Büren an der Aare Recht. Sunrise hatte da ohne Baubewilligungsprozess eine konventionelle Anlage durch eine neue adaptive Antenne ersetzt und später die Sendeleistung erhöht. Gemeinde und Kanton hatten grünes Licht für die Umrüstung gegeben. Sunrise kann das Urteil anfechten. Falls das Unternehmen davon absieht, muss die Berner Baudirektion darüber entscheiden, ob die Aufschaltung des Korrekturfaktors bewilligungspflichtig ist.
Dies könnte Auswirkungen auf hunderte Anlagen haben. Auf Infosperber-Anfrage schreibt das Amt für Umwelt und Energie (AUE) nämlich: Ende August 2023 sind im Kanton Bern 955 Anlagen (z.T. mehrere an einem Standort) mit adaptiven Antennen in Betrieb. 416 davon würden mit Korrekturfaktor betrieben. Lediglich 29 davon wurden in einem Baubewilligungsvefahren bewilligt. Bei 387 Anlagen dürfte also gegenwärtig unklar sein, ob ihr Betrieb rechtmässig ist.
Grenzwertüberschreitung durch die Hintertür
Daniel Laubscher beschwerte sich über das Vorgehen. Er wohnt unweit der Antenne in Büren an der Aare. Er wehrte sich dagegen, dass ihre Umrüstung vor sich ging, ohne dass er darüber informiert wurde. Laubscher war damals Fachbereichsleiter Raumplanung der Regionalkonferenz Bern-Mittelland. Zuvor war er als Stadtplaner in Solothurn angestellt. Er kennt die komplizierte Materie. «Ich musste selber schon Mobilfunkanlagen bewilligen», sagt er Infosperber.
Was ihn besonders irritierte: Sunrise aktivierte noch während des laufenden Verfahrens den sogennannten Korrekturfaktor und erhöhte damit potenziell die Sendeleistung und die Immissionen. Auch darüber wurde er nicht informiert. Denn die Gemeinde verlangte auch dafür keine Baubewilligung – auf Empfehlung des Kantons. Laubscher fand dies nur heraus, weil eines Tages Sunrise im Ort für mobiles Fernsehen warb. «Ich wusste, dass dies nur mit höherer Sendeleistung angeboten werden kann.» Eine Anfrage beim Verwaltungsgericht und der zuständigen kantonalen Stelle bestätigte seine Vermutung.
«Systematische Bevorzugung der Mobilfunkunternehmen»
Mit dem Korrekturfaktor erlaubt der Bundesrat den Mobilfunkunternehmen per Verordnung seit 1. Januar 2022, dass adaptive Antennen den Grenzwert nur noch im sechsminütigen Durchschnitt einhalten müssen. Dadurch kann es auch in nahegelegenen Wohnungen kurzzeitig zu stärkerer Strahlenbelastung kommen. Diese kann mehr als das Dreifache der deklarierten Feldstärke betragen und damit auch den vorsorglichen Anlagegrenzwert überschreiten. Dafür müssen die Antennen aber über eine automatische Leistungsbegrenzung verfügen.
Schutzorganisationen argumentieren, dass der Bundesrat mit diesem Korrekturfaktor versteckt die Anlagegrenzwerte erhöht hat – und damit entgegen dem Willen des Parlaments vorgeprescht ist. Das Parlament hat Grenzwerterhöhungen nämlich zuletzt dreimal abgelehnt.
Auch deshalb findet Laubscher, dass der Kanton Bern mit seiner Bewilligungspraxis den Umbau des Schweizer Mobilfunknetzes hinter dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger forciert. «Das ist eine systematische Bevorzugung der Mobilfunkunternehmen».
Andere Kantone sind vorsichtiger
Martin Miescher vom Rechtsamt der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern (BVD) weist diesen Vorwurf auf Infosperber-Anfrage zurück. Die BVD würde sich ausschliesslich auf die gesetzlichen Vorgaben und die einschlägigen Urteile der übergeordneten Gerichte (Verwaltungs- und Bundesgericht) stützen. Er schreibt allerdings auch: Das Bundesgericht habe die Frage, ob das Aufschalten des Korrekturfaktors bewilligungspflichtig ist, noch nicht beantwortet.
Andere Kantone wie Zürich oder St. Gallen sind vorsichtiger. Sie verlangen bei jeder adaptiven Antenne ein Baubewilligungsverfahren. Der Kanton Zürich bestätigt auf Infosperber-Anfrage, dass im Bagatellverfahren bewilligte adaptive Antennen gar ein neues Baubewilligungsverfahren durchlaufen müssen, sobald der Korrekturfaktor aufgeschaltet werden soll. Dasselbe schreibt das Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen. Dabei stützt es sich auf ein Urteil des kantonalen Verwaltungsgerichts.
Kanton Bern: Keine Leistungssteigerung mit Korrekturfaktor
Weshalb tut dies der Kanton Bern nicht auch? Weshalb empfiehlt er den Gemeinden weiterhin die Anwendung der umstrittenen Bagatellverfahren? Regierungsstatthalter Martin Künzi schreibt auf Anfrage, der Kanton würde sich an den Vorgaben des Bundesrats und der NIS-Verordnung orientieren. Entscheidend sei dabei die Beurteilung des kantonalen Amts für Umwelt und Energie (AUE).
Dieses sei der Ansicht: Für die Beurteilung, ob eine Änderung an einer Mobilfunkanlage baubewilligungspflichtig ist, sei weder der Antennentyp noch der Betriebsmodus entscheidend. Es zähle allein eine mögliche Veränderung der Leistung oder der Strahlenbelastung. Bei dieser Argumentation wird nicht berücksichtigt, dass der vom Bund eingeführte Korrekturfaktor ebenfalls eine Erhöhung der Antennenleistung ermöglicht, wenn auch nur eine temporäre.
Laubscher berät derzeit als selbständiger Raumplaner Gemeinden im Umgang mit Baugesuchen von Mobilfunkantennen. Er findet, dass jene nun Verantwortung übernehmen müssten. «Sie sind dringend aufgefordert, ihre Aufgabe als Baupolizeibehörde wahrzunehmen.» Allerdings will er den Berner Gemeinden und Vollzugsbehörden auch keinen Vorwurf machen. «Die machen auch nur, was der Bund sagt.»
Bundesrat schafft Unklarheit
Tatsächlich ist der Bund verantwortlich für das juristische Hickhack um den 5G-Umbau bis auf Gemeindeebene in der ganzen Schweiz. Ende 2021 schrieb der Bundesrat, er «schaffe Klarheit und erhöhe die Rechtssicherheit». Damit meinte er die neue Verordnung über den Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung (NISV) mit dem Korrekturfaktor. Dieser sollte nämlich ermöglichen, die neuen Antennen gesondert zu behandeln – weil sie mit neuartiger Technologie funktionieren. Doch Klarheit herrscht damit nicht. Dies kritisierte der SonntagsBlick damals umgehend und titelte: «Anwohner und Gemeinden ausgetrickst».
Genau betrachtet folgte der Bundesrat dem Vorschlag des Branchenverbands Asut aus dem Bericht «Mobilfunk und Strahlung» des UVEK von 2019. Dessen Handlungsoption sah eine Mittelwertberechnung vor. Doch im Bericht wurde bereits damals gewarnt: Aufgrund fehlender Transparenz des Verfahrens sei mit vielen Anfragen aus der Bevölkerung zu rechnen. Zudem finde «eine gewisse Aufweichung der Vorsorge statt, resultierend in einer Erhöhung der Exposition der Anwohnenden von Antennen.»
In die neue NISV schrieb der Bundesrat Ende 2021 auch: Die Anwendung des Korrekturfaktors sei bei einer bereits bestehenden adaptiven Antenne nicht bewilligungspflichtig. Doch dies steht womöglich im Konflikt mit dem übergeordneten Raumplanungsgesetz. Auch deshalb wollte es die Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) der Kantone bereits vor Inkrafttreten der neuen NISV genauer wissen. Sie gab beim Institut für Schweizerisches und Internationales Baurecht der Uni Fribourg ein Rechtsgutachten in Auftrag.
Bundesgericht muss entscheiden – einmal mehr
Die Freiburger Autoren meinten: «Schon das Vorhaben, eine einzige adaptive Antenne zu installieren, kann in einem Baubewilligungsverfahren münden, wenn mit der Antenne eine Zunahme der Immissionen verbunden ist.» Auch die ausschliessliche Aktivierung des Korrekturfaktors würde die Behörden nicht dazu berechtigen, ein Bagatellverfahren anzuwenden. Deutlich machten die Autoren auch, dass Anwohnende sich auf Bundesrecht berufen konnten, um eine Baubewilligung zu verlangen.
Daniel Laubscher ist nicht der Einzige, der dies getan hat. Die vielen schnellen Bagatellverfahren entlasten vordergründig zwar die kantonalen Bewilligungsbehörden und die Gemeinden. Ein Teil der Arbeit landet nun aber im Justizsystem – und damit nicht selten vor Bundesgericht. Gegenwärtig muss es sich in mehreren Fällen mit der Frage beschäftigen, ob die Anwendung des Korrekturfaktors eine Baubewilligungspflicht mit sich bringt.
Ausbau 5G-Netz: Bundesrat, Industrie und Parlament gegen den Volkswillen
Erst im Juni entschied der Ständerat, dass der Aufbau des 5G-Netzes ohne Grenzwerterhöhung auskommen muss. Er hörte damit auch auf die bundeseigene wissenschaftliche Expertengruppe, welche dies aufgrund ihrer Einschätzung der Gesundheitsrisiken gegenwärtig ablehnt. Eine Mehrheit der Bevölkerung dürfte ebenfalls dagegen sein. In einer Befragung des ETH-Umweltpanels in Kooperation mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) aus dem Jahr 2020 waren mehr als 50 Prozent der Personen der Meinung, dass die Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung nicht gelockert werden sollten. Es reiche, wenn 5G in der Schweiz erst in zwanzig bis dreissig Jahren flächendeckend verfügbar sei.
Das Parlament will den Netzausbau trotzdem beschleunigen, obschon der Bundesrat mit der neuen NISV den Anbietern bereits unter die Arme greift. Nach dem Ständerat dürfte auch der Nationalrat nächste Woche einer Motion der FDP-Fraktion zustimmen, welche die Beschleunigung des Ausbaus verlangt. Die vorberatende Kommission des Nationalrats – mit 10 Mitgliedern der Lobbykampagne Chance 5G – stimmte ihr mit überwältigender Mehrheit zu. Wie diese Beschleunigung ohne Grenzwerterhöhung und gegen den Willen einer Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger geschehen soll, bleibt allerdings weiterhin unklar.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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(Quelle: Infosperber) Link zum Originalpost